Rezension über:

Charles Tesoriero (ed.): Lucan (= Oxford Readings in Classical Studies), Oxford: Oxford University Press 2010, XI + 540 S., ISBN 978-0-19-927723-0, GBP 37,50
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Rezension von:
Nadja Kimmerle
Seminar für Alte Geschichte, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Nadja Kimmerle: Rezension von: Charles Tesoriero (ed.): Lucan, Oxford: Oxford University Press 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/06/17904.html


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Charles Tesoriero (ed.): Lucan

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Charles Tesoriero bietet mit seinem Lucan-Band im Rahmen der "Oxford Readings in Classical Studies" eine Zusammenstellung von 17 als wichtig empfundenen Aufsätzen zur Lucan-Forschung. Die Spannbreite reicht dabei von Eduard Fraenkels Beitrag zu Lucan und dem antiken Pathos von 1924 - hier erstmals wie auch vier weitere Aufsätze ins Englische übertragen - bis zu Matthew Leighs "Lucan's Caesar and the Sacred Grove" von 1999. Damit wird eine Lücke in der Forschungslandschaft geschlossen: den letzten Band mit vergleichbarer Zielsetzung gab Werner Rutz 1970 in der deutschen Reihe "Wege der Forschung" heraus [1], im englischsprachigen Raum fehlte ein solches Vorhaben bisher völlig.

Das Ziel des Sammelbandes ist es, nicht Einzelinterpretationen, sondern werkumfassende Themen mit forschungsgeschichtlicher Bedeutung vorzustellen (vii). Susanna Braund bietet daher in ihrer "Introduction" zunächst einen Forschungsüberblick und verdeutlicht dabei, dass vor allem Aufsätze ausgewählt wurden, die einen Umschwung in der Forschung illustrieren oder gar selbst angestoßen haben. Sie kündigt allerdings auch an: "the focus here is upon twentieth- and twenty-first-century scholarship" (2), doch tatsächlich findet sich für das 21. Jahrhundert kein einziger Vertreter. Man muss jedoch zugestehen, dass die Auswahl der Aufsätze schon 2005 vorlag, das Erscheinen sich aber durch Tesorieros Selbstmord verständlicherweise hinauszögerte.

Positiv fällt besonders auf, dass auch die nicht-englischsprachige Forschung herangezogen wurde. Auffallend ist jedoch, dass vier der erstmals in Englisch erschienen Aufsätze (nicht drei, wie Braund (6) fälschlich angibt) schon in Rutz' Sammlung abgedruckt waren, und genau diese vier bei Tesoriero den Forschungsstand bis zur Mitte der 60er Jahre repräsentieren. Das ist aber nicht unbedingt ein negatives Zeichen für die Selbstständigkeit von Tesorieros Auswahl, sondern zeigt implizit, dass die Verdammung Lucans im englischsprachigen Raum bis Ende der 60er nachhaltiger wirkte als im europäischen Raum. Hier wurde Lucan schon wesentlich früher neuer, positiverer Betrachtungen unterzogen, wie die vier ausgewählten Aufsätze belegen. Drei davon bilden folgerichtig auch den Auftakt von Tesorieros Sammlung und markieren mit Diskussionen über Lucans Pathos (Fraenkel), die Einheit des Prooemiums (Conte) und das Nero-Elogium (Grimal) wichtige, schon früh diskutierte Problemfelder. Genauso folgerichtig steht an vierter Stelle Stanley F. Bonners "Lucan and the Declamation Schools", der den Umschwung im englischsprachigen Raum ab Ende der 60er kennzeichnet und das wichtige Problemfeld "Lucan und die Rhetorik" aufwirft.

Fraglich ist aber, warum nur ältere und keine aktuellen nicht-englischen Publikationen herangezogen wurden (als Ausnahme gilt allenfalls Otto Zwierleins "Lucans Caesar in Troja", doch auch dessen Erscheinungsdatum 1986 ist nicht ganz brandaktuell). Gerade in den letzten Jahren entstand doch eine lebhafte Diskussion besonders im italienischen und deutschen Sprachraum, die den Herausgebern bekannt ist (12f.). Auch das allerdings kann wieder als implizites Dokument zur Forschungsgeschichte aufgefasst werden, illustriert es doch das Auseinandertriften der kontinentalen und englischsprachigen Forschung seit den 80er Jahren. Bezeichnend ist, dass Tesoriero gerade Hendersons (unverständlich eigenwilligen oder genialen?) Aufsatz "Lucan/The Word at War" von 1987 als Abschluss gewählt hat. Dieser gilt als Meilenstein der englischsprachigen Forschung, die sich nun vermehrt unter dem Einfluss der Dekonstruktion Lucan zuwandte.

Dokumentieren auf diese Weise Beginn und Ende des Sammelbandes auf ihre je eigene Art Wendepunkte der Lucan-Forschung, ist der Grund für die Anordnung der Aufsätze dazwischen nicht immer klar erkennbar. Da leider auf Zwischenüberschriften verzichtet wurde und nicht alle ausgewählten Aufsätze in Braunds "Introduction" angesprochen werden, ist man auf Vermutungen angewiesen. Zunächst steht offenbar Intertextualität im Mittelpunkt. Schon mit den ersten beiden Aufsätzen war das Verhältnis von Lucan zu Vergil und Homer ins Blickfeld geraten. Zu Recht folgen darum an fünfter und sechster Stelle mit Lynette Thompsons, R.T. Bruères und C.M.C. Greens Aufsätzen grundlegende Beiträge dazu.

Bis in jüngste Zeit lag der Focus der Forschung meist auf Lucans Bezug zu Vergil, so dass die Forderung aufkam, auch Bezüge zu anderen, nicht nur epischen Autoren verstärkt miteinzubeziehen. Wie gewinnbringend eine gründliche Analyse solcher Bezugnahmen sein kann, zeigt Leigh an der berühmten Bäume-Fällen-Szene vor Massilia. Zugleich liefert er einen Beitrag zum Verständnis von Lucans Caesar-Darstellung und schneidet damit das Feld der Charakterisierung von Lucans Protagonisten an, dem sich schon der vorige Aufsatz von Judith A. Rosner-Siegel zuwandte. Ausführlich wird noch in weiteren fünf Aufsätzen darauf eingegangen, es stellt also das am stärksten vertretene Thema im gesamten Band dar, das in großer chronologischer Bandbreite von verschiedensten Ansätzen her beleuchtet wird.

Zwischen diese zwei inhaltlichen Großblöcke schieben sich in der Mitte des Bandes wieder Aufsätze, die einen Umschwung in der Forschung anzeigen sollen. A.W. Lintott untersucht Lucans Umgang mit den historischen Quellen und betont dabei den (Quellen-)Wert Lucans, was 1971 (und auch heute noch) nicht gerade eine selbstverständliche Sicht ist. Mit Charles Martindales und Michael Lapidges Aufsätzen folgen zwei völlig andere Themenfelder (Lucan als Politiker und stoische Kosmologie in Lucan), die den endgültigen Umschwung der englischsprachigen Forschung zugunsten Lucans Ende der 70er/Anfang der 80er kennzeichnen sollen.

Wie also vom Herausgeber intendiert, stehen wichtige Wendepunkte der Forschung im Vordergrund des Sammelbandes, offenbar besonders am Anfang, in der Mitte, und am Schluss. Aber auch innerhalb der dazwischenliegenden Blöcke wurden Aufsätze gewählt, die zu ihrer Zeit jeweils eine innovative oder außergewöhnliche Herangehensweise demonstrieren. Die einzelnen Aufsätze sind geschickt miteinander verzweigt angeordnet, vielleicht zu geschickt, denn aufgrund der erwähnt fehlenden Erklärung mag es gut sein, dass andere Leser anders über die Anordnung des Bandes urteilen.

Eine Frage bleibt noch offen: Welchen Nutzen bringt uns eine neue Zusammenstellung alter Aufsätze zu Lucan? Festzustellen ist, dass außer der Hinzufügung von zuvor fehlenden Übersetzungen griechischer und lateinischer Zitate kaum Veränderungen und allenfalls marginale Aktualisierungen vorgenommen wurden und dass die allermeisten aufgenommenen Aufsätze leicht zugänglich sind. Gerade bei der vorliegenden Reihe wurde darum der Sinn einer solchen Sammlung wiederholt hinterfragt. [2] Natürlich ist der vorliegende Band für versierte Kenner Lucans von wohl eher geringem Mehrwert. Doch dieser Kreis ist trotz des steigenden Interesses der Forschung in den letzten Jahrzehnten nach wie vor noch gering im Vergleich zu anderen Klassikern wie Vergil und Ovid. Gerade in den letzten Jahren werden vermehrt Lücken der Lucan-Forschung gefüllt - und im Zuge dieser Bemühungen ist Tesorieros Zusammenstellung hochwillkommen, da sie gerade für Noch-Nicht-Kenner Lucans einen leichteren Zugang zur Forschungsgeschichte ermöglicht.


Anmerkungen:

[1] Werner Rutz (Hg.): Lucan, (Wege der Forschung, Bd. 235,) Darmstadt 1970.

[2] Siehe etwa Glenn C. Lacki: Rez. v. Peter E. Knox (Hg.): Ovid, Oxford 2006, in: BMCR 2007.09.19, der auf weitere Rezensionen verweist.

Nadja Kimmerle