Tiana Koutzarova: Das Transzendentale bei Ibn Sīnā. Zur Metaphysik als Wissenschaft erster Begriffs- und Urteilsprinzipien (= Islamic Philosophy, Theology and Science. Texts and Studies; Vol. 79), Leiden / Boston: Brill 2009, XIV + 486 S., ISBN 978-90-04-17123-7, EUR 146,00
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In dem hier zur Besprechung anstehenden Werk untersucht Tiana Koutzarova im Sinne einer Rekonstruktion die Konzeption der Transzendentalien bei Ibn Sīnā (Avicenna, lebte 980-1037) unter Berücksichtigung möglichst aller relevanten Stellen seines Gesamtwerkes, vor allem aber aufgrund der von ihm im Rahmen seines enzyklopädischen Werkes Kitāb aš-šifāʾ ("Buch der Genesung") dargelegten Ersten Philosophie bzw. Metaphysik (Kapitel al-Ilāhīyāt).
Erste Philosophie (Πρϖτη φιλοσοφία) bezeichnete für Aristoteles den primären Gegenstandsbereich innerhalb der theoretischen Wissenschaft. Sie setzt sich bei ihm zusammen (1) aus einer Ontologie, die 'Was ist (im höchsten Maße) seiend?' fragt, (2) aus einer Theologie, deren Gegenstand die Frage nach der Existenz und der Beschaffenheit eines höchsten Seienden, dem unbewegten Bewegenden, ist und ggf. (3) aus eine Metawissenschaft, deren Gegenstände Evidenzen bzw. erste Denkprinzipien wie der Satz vom Widerspruch sind. Eine solche Wissenschaft wird von Aristoteles in denjenigen seiner Schriften dargestellt, die später unter dem Titel 'Metaphysik' zusammengefasst wurden.
Unter Transzendentalien versteht man in der klassischen Metaphysik jene inneren Bestimmungen und Qualitäten, die immer mit dem Sein als solchem gegeben sind. In diesem Sinne spricht man von einer Konvertibilität von Sein und Transzendentalien. Die erste systematisch-explizite und geschlossene Ausformung der Transzendentalienlehre in Europa findet sich bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er erkannte die Berechtigung des Wissens neben dem Glauben und den Wert einer selbstständigen Philosophie an, ordnete diese jedoch der Theologie als der auf Autoritätswissen basierenden Fundamentalwissenschaft unter. Die Einheit seines Systems ist darin begründet, dass alle Einzelsätze auf wenige ontologische Grundprinzipien zurückgeführt werden. Die Zurückführung endet auf der elementaren Ebene der einfachen Sinngehalte/Begriffe bei allgemeinsten, höchst einfachen Bestimmungen, welche die aristotelischen Kategorien (die jeweils eine besondere Seinsweise ausdrücken) auf das allen Dingen Gemeinsame hin übersteigen (daher der lateinische Terminus 'transcendentia', die Übersteigenden, seit dem 16. Jahrhundert 'Transzendentalien') wie 'Eines', 'Wahres', 'Gutes', 'Schönes' oder 'Heiliges', die jedem Seienden als solchem eignen. Ihre Erklärung bildet den Kern der Metaphysik des Thomas von Aquin. Alles innerweltliche Seiende ist aufgrund der Teilhabe am göttlichen Sein in unterschiedlichen Graden der Vollkommenheit auf dieses bezogen; die Analogia entis (Analogie) ist Voraussetzung der natürlichen Gotteserkenntnis. Der in dieser Schöpfungsordnung als Einheit von Leib und Seele definierte Mensch ist in seinem Erkenntnisstreben auf das Schauen Gottes, in seinem Willen auf das höchste Gut gerichtet. In der universalen Erkenntnisfähigkeit der geistigen Seele und in ihrer Unmittelbarkeit zu Gott gründet der ontologische Rang der menschlichen Person.
Die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit den europäischen philosophischen Konzepten des 12. und 13. Jahrhunderts führte nicht nur zu einer Differenzierung der einzelnen Entwürfe, sondern eröffnete auch den Blick für die historischen, unter anderem auch arabisch-islamischen Voraussetzungen. Die Bedeutung eines dieser in den lateinischen Westen transferierten arabisch-islamischen Ansätze, nämlich Ibn Sīnās Metaphysik, ist bisher in der Forschung nicht klar herausgearbeitet worden. Dies hing zum einen mit einem gewissen Eurozentrismus der westlichen philosophiegeschichtlichen scientific community zusammen, zumal man lange Zeit der arabisch-islamischen philosophischen Tradition eine originelle und konstruktive kritische Auseinandersetzung sowohl mit konkurrierenden Interpretationen bestimmter philosophischer Konzepte, als auch mit Positionen der islamischen spekulativen Philosophie (kalām) absprach. Zum anderen war die Erschließung der ibn-sinischen Konzeption des Transzendentalen innerhalb einer weitgehend entwickelten Metaphysik ein islamwissenschaftliches Desideratum. Diesen Missstand zu beseitigen, ist das Hauptziel der Abhandlung von Koutzarova.
Der zentrale Text für die Rekonstruktion des Transzendentalen bei Ibn Sīnā ist, wie gesagt, das Kapitel al-Ilāhīyāt des K. aš-Šifāʾ. Seine Übersetzung und ausführliche Analyse bildet sozusagen das Herzstück dieser Arbeit. Der Text ist jedoch außerordentlich schwierig und seine Argumentationslinien überhaupt nicht leicht nachvollziehbar, so dass seine Decodierung einer ganzen Reihe von Vorstudien bedarf. Eine fundierte Kenntnis der Bücher al-Madḫal ("Isagoge") und an-Nafs ("Die Seele"), der Kategorienschrift (al-Maqūlāt) und der Hermeneutik (al-ʿIbāra) und insbesondere der Zweiten Analytik (al-Burhān) innerhalb des "Buches der Genesung" sind eine conditio sine qua non. Aus diesem Grund ist es sehr sinnvoll, dass die Autorin ihrer Übersetzung, Kommentierung und Interpretation der ibn-sinischen Metaphysik einen langen hinführenden Abschnitt (Teile 1-4) voranstellt.
Die Arbeit setzt ein mit einem Auszug aus Ibn Sīnās Autobiographie, in der dieser ein ihn sehr beschäftigendes Grundproblem formuliert, nämlich die Frage nach der Gegenstandsbestimmung der aristotelischen Metaphysik. Zum Verständnis seiner später entwickelten Antwort ist es unabdingbar, sich, wie die Autorin es unternimmt, mit der Vorlage, die Ibn Sīnā selbst benutzte, da er sie für maßgeblich bei der Lösung seines Problems, hielt, zu beschäftigen. Auf einer exakten deutschen Wiedergabe von al-Farābīs (870-950) Abhandlung Fī aġrāḍ kitāb mā baʿd aṭ-ṭabīʿa folgt eine ebenso gute Analyse des Textes.
Es schließt sich nun eine ausgezeichnete Darstellung der ibn-sinischen Problemstellung und -lösung, wie sie im Rahmen seines K. aš-Šifāʾ dargelegt werden, an. Die systematische Einheit des K. aš-Šifāʾ wird ausführlich erläutert, bevor sich die Autorin mit den Voraussetzungen der ibn-sinischen Beantwortung der Frage nach dem Subjekt der Metaphysik befasst. Anschaulich führt Koutzarova dem aufmerksamen Leser nacheinander die von Aristoteles übernommene Theorie dessen, was Wissen bzw. Wissenschaft (ʿilm) ist, die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen den allem Wissen zugrunde liegenden Erkenntnisformen taṣawwur (begriffliches Erfassen, Begriffsbildung) und taṣdīq (Urteilen) und die semantischen Grundbegriffe des sprachlichen Zeichens und der ihm innewohnenden Bedeutungsinhalte vor Augen. In dem nächsten Unterkapitel analysiert die Autorin sehr überzeugend die eigentliche Problemlösung durch den muslimischen Gelehrten. Zunächst, so zeigt die Verfasserin, widerlegt Ibn Sīnā, dass das Subjekt-Sein der Metaphysik Gott zugesprochen werden kann und dass als Subjekt der höchsten Wissenschaft die "letzten Ursachen" zu setzen sind, um dann in mehreren Schritten den wirklichen Gegenstand der al-Ilāhīyāt zu bestimmen. Im Anschluss an diese Subjektbestimmung der Metaphysik, die in der zweifachen Erstheit des Begriffes "Seiend" (mawǧūd) ausgebreitet wird, betrachtet Koutzarova abschließend die Frage nach der Einheit der Ersten Philosophie im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Metaphysik nach Ibn Sīnā letzten Endes (1) die Eigenschaften des "Seienden", (2) die letzten Ursachen, (3) die erste Ursache und (4) die Prinzipien der partikularen Wissenschaften untersucht.
Zu den Grundlagen der Erforschung der arabisch-islamischen Philosophie gehört die Klärung ihrer Termini. Die Geschichte eines für Logik, Metaphysik und spekulative Theologie so zentralen Begriffes wie mawǧūd steht allerdings noch aus. Dass darin aber dem ibn-sinischen Terminus al-mawǧūd min ḥayṯu huwa mawǧūdun (das Seiende als Seiendes) eine hervorragende Stellung beigemessen werden sollte, zeigt nicht zuletzt dessen außerordentliche Wirkungsgeschichte in der muslimischen wie der christlichen Welt. Vor diesem Hintergrund ist der nun folgende Teil des Buches besonders verdienstvoll. Hier arbeitet Koutzarova nämlich in mühsamer Kleinarbeit heraus, wie wir den ibn-sinischen Begriff des Seienden wohl zu verstehen haben. Im Anschluss an die zum Verständnis notwendige Explikation der Entstehung von mawǧūd als philosophischer Terminus und seiner verschiedenen Bedeutungen in al-Farābīs K. al-Ḥurūf erörtert die Autorin Ibn Sīnās Lehre von taškīk als den zwischen Homonymie (Äquivozität) und Synomymie (Univozität) anzusiedelnden Prädikationsmodus des Seienden. "Seiend" ist damit nach Ibn Sīnā ein "eindeutiger, Substanz und Akzidens gemeinsamer Begriff (...), den sie formal "vor" ihrem jeweiligen Grad an Seiendheit verwirklichen". Als nächstes wendet sich die Verfasserin dem für das ibn-sinische Metaphysikverständnis zentralen Theorem der strikten Begriffseinheit von al-mawǧūd zu, die von dem islamischen Philosophen nur noch transzendental-semantisch verteidigt wird. Der Begriff des Seienden erfasst nichts, was die Dinge, d.h. ihre definitorisch abgrenzbaren inhaltlichen Bestimmtheiten oder eben "Washeiten" (māhiyāt), washeitlich bestimmt, sondern muss als ein lāzim (notwendiges Attribut) der Washeiten der Dinge gedacht werden. Nach einer eingehenden und luziden Analyse des Verhältnisses der Washeit zur Existenz auf der Grundlage von dem K. al-Maqūlāt ("Kategorienschrift") in dem K. aš-Šifāʾ und von Ibn Sīnās Kommentar zu der pseudo-aristotelischen Theologie folgt schließlich die Prüfung dessen, ob sich die transzendentale Gemeinsamkeit des "Seienden" nach Ibn Sīnā lediglich auf Substanz und Akzidenz erstreckt, oder ob sie gegenüber dem Möglich- und dem Notwendigseienden besteht. Koutzarova kommt zu folgendem Ergebnis: mawǧūd erweist sich als ein nicht nur der Substanz und Akzidens, sondern auch dem Möglich- und Notwendigsein gemeinsamer Begriff, der mittels taškīk bestimmt wird, ohne dass dadurch jedoch seine Einheitlichkeit bedroht ist. Hinzu kommt, dass sowohl "das spezifische Sein" (al-wuǧūdu l-ḫāṣṣ; aš-šayʾ; al-ḥaqīqa) wie auch "das Bestand-Haben-Können" (al-wuǧudu l-iṯbātī) Hinsichten auf das "Seiende" sind, wobei nähere Erläuterungen ihres Verhältnisses zueinander die nun im vierten Teil der Promotionsschrift zu interpretierende Schlüsselstelle (Metaphysik I 5 des K. aš-Šifāʾ) gibt.
Übersetzung, Interpretation und Kommentierung der Passage sind dank der geleisteten Kontextualisierung hervorragend gelungen. Erst jetzt wird die Komplexität des ibn-sinischen Metaphysikkonzeptes deutlich.
Das Fazit der Arbeit bietet dann eine Synthese der Ergebnisse, d.h. eine Skizze der verschiedenen Bedeutungen dessen, was in der Metaphysik Ibn Sīnās der Sache nach "transzendental" zu nennen wäre. Mit einem Ausblick auf die Tragweite und die problemgeschichtliche Einordnung seines Konzeptes schließt der Text ab.
Ingesamt gesehen ist Tiana Koutzarova auf ganz ausgezeichnete Weise auf der Basis einer bestechenden Argumentation zu folgendem, von ihr selbst in der Einleitung antizipierten Ergebnis gekommen: Das Potential des Transzendentalen wurde bei der Frage der Möglichkeit der Ersten Philosophie erkannt und fruchtbar gemacht. Die islamischen Philosophen sahen sich im Unterschied zu Aristoteles einer veränderten Ausgangsbedingung gegenüber: an die Stelle der Ewigkeit der Welt tritt die Schöpfung aus dem Nichts. Die Möglichkeit einer Ersten, von keiner anderen Wissenschaft abhängigen, rein auf die Vernunft begründeten Philosophie musste nicht nur an dem Anspruch der Metaphysik und Wissenschaftstheorie von Aristoteles, sonder auch an dem Anspruch der Offenbarung gemessen werden. Soll es also eine universale, alles Wirkliche betrachtende Wissenschaft geben, so musste sie erstens deutlicher als bei Aristoteles von der Physik abgegrenzt werden. Denn das, was der physikalische Beweis des unbewegten Bewegers allenfalls vermag, (...) ist, ausgehend vom prozessualen Ereignis einen ersten Beweger zu beweisen, nicht aber ein erstes Seiendes. Ferner darf die Subjektgattung dieser Wissenschaft den Schöpfer nicht ausschließen, muss jedoch zugleich auch dessen Transzendenz wahren. Die Transzendenz Gottes aber verbietet jegliche kategoriale Einschränkung. Soll also der Weg zu einer rationalen Erkenntnis Gottes gangbar sein, so kann er allein auf der Ebene der transzendentalen Begriffe beschritten werden. Ibn Sīnās Antwort lautet: Die Metaphysik ist eine 'allgemeine Wissenschaft', die den ersten, weil auf nichts Früheres zurückführbaren Begriff des Seienden als Seienden al-mawǧūd min ḥayṯu huwa mawǧūdun) zum Gegenstand hat. Sie ist als solches Wissenschaft von den transkategorialen Möglichkeitsbedingungen jedweder Begriffs- und Urteilserkenntnis. Insofern sie jedoch dann auf Grund der modalen Explikation des "Seienden" neben der Erkenntnis eines an sich nur Möglichseienden auch die eines Notwendigseienden ermöglicht, ist sie nur dann abgeschlossen, wenn sie zugleich auch Wissenschaft von jenem besonderen ersten Seienden (Gott) ist. Ibn Sīnā konzipiert eine Metaphysik, die Wissenschaft von aller Erfahrung vorausgehender und in diesem Sinne apriorischer Prinzipien des taṣawwur (Begriff) und taṣdīq (Urteil) ist, deren Verteidigung daher immer nur a posteriori in Form einer transzendental-semantischen Aufmerksammachung (tanbīh) möglich ist. Diese ersten Begriffe (Bereich des taṣawwur) und Urteile (Bereich des taṣdīq) erfassen aber nicht nur Gedachtes, sondern auch Wirklichkeit an sich. Eine weiterführende inhaltlich-sachliche taṣawwur- und taṣdīq-Erkenntnis ist für Ibn Sīnā damit nur dann möglich, wenn das. Als was alles Erkennbare zu erfassen wäre, nämlich "Seiendes", "Eines" und "Abgegrenztes", "Nichtwidersprüchliches" und "ausgeschlossenes Widerspruchmittleres", vorweg zu aller Aktualisierung des Erkenntnisvermögens gegeben ist. Diese Konzeption ermöglicht schließlich die Durchführung einer Ersten Philosophie, die gemessen an ihrem Subjekt und seinen eigentümlichen Eigenschaften als transzendental bezeichnet werden kann. Möglich wird ferner auch der Erweis jenes besonderen Seienden, das die Einheit und die Seiendheit in einer nicht mehr steigerbaren Form verwirklicht.
Es ist das große Verdienst dieser Arbeit, eine oft zitierte, aber nie hinreichend erklärte Textstelle aus dem Werk Ibn Sīnās, auf großartige Weise zu entschlüsseln und zu kommentieren und damit die Grundlage für den so dringend notwendigen Vergleich des ursprünglichen Ansatzes einer transzendental verstandenen Metaphysik und seiner späteren Umformungen durch europäische Philosophen zu leben. Gleichzeitig trägt die Autorin mit ihrer Schrift zur weiteren Rehabilitierung der muslimischen falsafa bei, indem sie deren große Originalität und Eigenständigkeit aufzeigen kann.
Stephan Conermann