Tobias Schenk: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des "Aufgeklärten Absolutismus" in Preußen (1763-1812) (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 39), Berlin: Duncker & Humblot 2010, 757 S., ISBN 978-3-428-13090-0, EUR 98,00
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Geschichtswissenschaftliche Interpretationen historischer Fakten und Ereignisse sind fest verortet in Raum und Zeit; jede Epoche gibt ihre eigenen Antworten auf die Fragen der Vergangenheit, auch wenn diese von früheren Historikergenerationen schon mehrfach beantwortet worden sind. Bisweilen jedoch prägen historische Anschauungen und Forschungsmeinungen über Jahrzehnte hinweg fast uneingeschränkt das Geschichtsbild der Historikerzunft, ohne weiter kritisch hinterfragt oder konkret überprüft zu werden, ehe sich dann - oftmals angestoßen durch Einzel- und Regionalstudien - eine neue Sichtweise allmählich Bahn bricht. In einer solchen Umbruch- und Übergangsphase befindet sich offenbar die geschichtswissenschaftliche Bewertung der Judenpolitik des 'Aufgeklärten Absolutismus' im spät- und nachfriderizianischen Preußen und die hier zu besprechende, am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angefertigte, von Prof. Dr. Bernhard Sicken betreute und für den Druck überarbeitete Dissertation von Tobias Schenk leistet einen wichtigen Beitrag zu diesem Prozess.
Schenk stellt mit seiner Studie die in der - wesentlich auf den Arbeiten von Selma Stern [1] ("Meistererzählung jüdischer Geschichte in Preußen", 630) aufbauenden und die privilegierten Verhältnisse der jüdischen Gemeinde zu Berlin allzu leichtfertig verallgemeinernden - Forschung zur brandenburgisch-preußischen Geschichte vertretene These in Frage, wonach die Judenpolitik des "Aufgeklärten Absolutismus" seit 1763 mittels "Verrechtlichung und Herrschaftsrationalisierung" (31) - wenn auch ungewollt - einen Prozess der Verbürgerlichung der um 1750 etwa 14.000 Juden in Brandenburg-Preußen eingeleitet und forciert habe, der langfristig zur Integration der Juden in den brandenburgisch-preußischen Staat geführt habe. Im Gegensatz zu dieser "deutsch-jüdische(n) Erfolgsgeschichte" (18) vermag der Autor anhand der Untersuchung von drei nach 1763 eingeführten Sonderabgaben (Manufakturwarenzwangsexport (1763-1769), Zwangsbetrieb einer Manufaktur (1769-1812), Porzellanwarenzwangsexport (1769-1788)) überzeugend darzulegen, dass insbesondere zwischen 1763 und 1786 eine "Verarmung weiter Teile der preußischen Judenschaft" eingetreten sei, zumal "die fiskalische Abschöpfung dieser Minderheit ihren Höhepunkt" (27) erreicht habe. Diese restriktive Judenpolitik hatte gerade auch in der aufgeklärt-absolutistischen Herrschaft Friedrichs des Großen ihren Ausgangspunkt "weiterhin allein (in der) monarchischen Prärogative" (636) und wurde keineswegs von einer aufgeklärt und naturrechtlich argumentierenden Beamtenschaft grundsätzlich in Frage gestellt - auch nicht von dem lange Jahre für Judenangelegenheiten vielfach zuständigen Generalfiskal Friedrich Benjamin d'Anières (1736-1803) -, allenfalls aus ökonomischen Sachzwängen heraus vom Beamtentum kritisch hinterfragt.
Nach der Einleitung (15-65) gibt der Verfasser in zwei Kapiteln einen Überblick über die brandenburgisch-preußische Judenpolitik von 1671 bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 (66-102), ehe er in den folgenden acht, nach thematischen und/oder chronologischen Gesichtspunkten organisierten Kapiteln sein Hauptthema, die Judenpolitik in Preußen von 1763-1812, ins Zentrum seiner Untersuchung rückt (103-624).
Schenk thematisiert zunächst das in der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise um 1763 von der Judenschaft Brandenburg-Preußens nach dem Verbot von 1747 wiedererlangte Niederlassungsrecht für die zweitgeborenen Kinder jüdischer Familien, wofür zum einen die Gesamtheit der brandenburgisch-preußischen Juden (Ausnahme Schlesien und Ostfriesland) kollektiv eine enorme Geldsumme (70.000 Reichstaler) aufbringen musste und zum anderen jeder begünstigte Jude verpflichtet war, zur Ankurbelung des heimischen Handels und Gewerbes eine erhebliche Menge an Manufakturwaren zu exportieren (103-181). Im Verlauf dieser Entwicklung begann die Berliner Gemeinde eine Führungsrolle zu spielen, die die übrigen Provinzjudenschaften zunehmend kritisch sahen.
Diese Verpflichtung der um ein Niederlassungsrecht nachkommenden zweitgeborenen Kinder jüdischer Familien zum Warenexport fiel seit 1769 weitgehend weg, als die gesamte preußische Judenschaft zwangsweise die Finanzierung der 1765 gegründeten, aber unter staatlicher Leitung wenig erfolgreich arbeitenden Strumpf- und Mützenmanufaktur in der uckermärkischen Ackerbürgerstadt Templin übernehmen musste. Schenk zeichnet in zwei gesonderten Kapiteln die Geschichte dieser Manufaktur bis zu ihrem definitiven Ende mit dem Judenemanzipationsedikt von 1812 nach, die der brandenburgisch-preußischen Judenschaft insgesamt ein Kapital von bis zu 50.000 Reichstalern abverlangte (182-249 und 562-624).
Gleichsam innerhalb dieser thematischen Klammer behandelt der Autor eine weitere, gleichfalls 1769 eingeführte, allen Juden, die um die Neuvergabe eines Generalprivilegs, eines ordentlichen Schutzbriefes oder einer Konzession zum Hausbesitz nachsuchten, aber auch bei Antritt einer Erbschaft oder bei Ansetzung Erst- und Zweitgeborener auferlegte Sonderabgabe, die zur Absatzförderung der nicht immer sehr nachgefragten Porzellanwaren dienen sollte, die in der 1763 errichteten und außerordentlich privilegierten 'Königlichen Porzellanmanufaktur' in Berlin hergestellt wurden (250-259). In zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln (260-383 und 383-496) beschreibt Schenk die Bestimmungen und die Durchführung dieses von manchen Amtsträgern namentlich auch der mittleren und unteren Behördenebene aus rationalen Erwägungen heraus geminderten, nach 1779 aber massiv verschärften und rigoros exekutierten Porzellanwarenexportzwangs, der nicht selten - im übrigen nun auch im bislang davon befreiten Ostfriesland - zum wirtschaftlichen Ruin, zum Verlust des Status als Schutzjuden und bisweilen auch zur Vertreibung aus den preußischen Landen führte.
Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. im Jahr 1786 erfolgte einerseits zwar ein in manchen Bereichen tiefgreifender Herrschafts- und Systemwechsel, andererseits aber gab es auch eine nicht zu unterschätzende politische Kontinuität; in diesem Spannungsverhältnis stand auch die Judenpolitik in der nachfriderizianischen Ära, die Reformen einleitete, ohne aber die fiskalischen Interessen des Staates aufzugeben (497-513), ehe dann im Februar 1788 der Porzellanwarenexportzwang für Juden gegen die erhebliche Ablösesumme von 40.000 Reichstalern aufgehoben wurde (514-561).
Den Berechnungen Schenks zufolge mussten die Juden Brandenburg-Preußens Porzellanwaren im Wert von 285.000 Reichstalern abnehmen, wobei ein Verlust - etwa durch den Transport ins Ausland - von ca. 50% anzunehmen ist, so dass der Judenschaft einschließlich der 1787/88 erhobenen Ablösesumme ein Gesamtverlust von etwa 180.000 Reichstalern entstand. Die aus diesen Sonderabgaben resultierende enorme Belastung der Juden konzentrierte sich dabei auf die letzten Jahre der friderizianischen Herrschaft, wurde "weitgehend vermögensunabhängig wirksam und entfaltete somit gerade in ärmeren Haushalten eine fatale Wirkung" (629): Unter diesen Bedingungen ging der jüdische Bevölkerungsanteil insbesondere in den (westlichen) Provinzen deutlich zurück, eine Mittelschicht konnte sich nicht bilden, wie das Beispiel eines fiktiven Durchschnittsjuden unterstreicht, das Heiratsalter stieg, die Zahl der unverheiratet bleibenden Kinder nahm zu und der jüdische Immobilienbesitz verringerte sich merklich. Diesem abschließenden Fazit (625-645) folgen ein Dokumentenanhang (646-659), ein Quellen- und Literaturverzeichnis (660-728) sowie ein Personen-, Orts- und Sachregister (729-757); ergänzt wird die Publikation durch ein Tabellen- und Abbildungs- (11f.) sowie ein Abkürzungsverzeichnis (13f.).
Kritisch anzumerken bleiben formal eine gewisse Inkonsequenz der Begrifflichkeit, die besonders im Inhaltsverzeichnis auffällt (Porzellanherstellung, Porcellaineexportationszwang), sowie die rudimentären bibliographischen Angaben in den Fußnoten selbst bei der Erstnennung von Literaturtiteln, die nicht einmal das jeweilige Erscheinungsjahr nennen; inhaltlich wird im Titel eine Diskussion des 'Aufgeklärten Absolutismus' in Aussicht gestellt, die allenfalls am Rande angeschnitten wird, obwohl am Beispiel der Judenpolitik die antinomische Widersprüchlichkeit des 'aufgeklärten Absolutismus' anschaulich verdeutlicht werden könnte.
Tobias Schenk gelingt es mit seiner auf einer breiten archivalischen Quellengrundlage erarbeiteten Dissertation, die an sich trockene Materie jüdischer Finanz- und Steuergeschichte überaus anschaulich und lebendig werden zu lassen und aus dieser Perspektive ein neues Licht auf die Judenpolitik im alten Preußen zu werfen, deren Betrachtung bislang im langen Schatten der Forschungsarbeiten von Selma Stern stand. Danach kann zwar fortan die These einer Kontinuität zwischen aufgeklärt-absolutistischer Judenpolitik und der in der preußischen Reformära sich realisierenden Judenemanzipation nicht mehr unhinterfragt aufrecht erhalten werden, ob dieser differenziertere Blick aber auch schon einen Paradigmenwechsel im Sinne von Thomas S. Kuhns Theorie wissenschaftlicher Revolutionen darstellt, sei vorerst noch dahingestellt.
Anmerkung:
[1] Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden. 8 Bde., Tübingen 1962-1975.
Peter Mainka