Rezension über:

Tobias Schenk: Actum et judicium als analytisches Problem der Justizforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf kollegiale Entscheidungskulturen am Beispiel des kaiserlichen Reichshofrats (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung; Heft 51), Wetzlar: Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 2022, 165 S., 6 Farbabb., ISBN 978-3-935279-59-8, EUR 9,00
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Rezension von:
Thomas Lau
Historisches Seminar, Universität Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Lau: Rezension von: Tobias Schenk: Actum et judicium als analytisches Problem der Justizforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf kollegiale Entscheidungskulturen am Beispiel des kaiserlichen Reichshofrats, Wetzlar: Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/12/37651.html


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Tobias Schenk: Actum et judicium als analytisches Problem der Justizforschung

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Der vorliegende Band erschien in der Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, in der seit 1985 Historiker:innen und Rechtshistoriker:innen Qualifikationsschriften, Sammelbände und Monografien zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich veröffentlichen. Tobias Schenk ist seit 2009 Mitarbeiter der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen im Erschließungsprojekt "Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats" in Wien. Sein am 28. Oktober 2021 in Wetzlar gehaltener Vortrag über kollegiale Entscheidungskulturen am Reichshofrat bildet nach umfangreicher Erweiterung die Grundlage der vorliegenden Schrift. Diskussion und mündlicher Vortrag haben in der Druckfassung unübersehbare Spuren hinterlassen. Der Stil des Autors ist durch das Bemühen um eine deutliche Positionierung gekennzeichnet. Manche der verwendeten rhetorischen Figuren ("Heiah Safari", 97), sind darauf zurückzuführen und wären wohl besser dem Rotstift zum Opfer gefallen.

Schenk beginnt mit einer instruktiven und ausgesprochen ernüchternden Bilanz der umfangreichen Verzeichnungsprojekte. Ungeachtet des unbestrittenen Ertrags stellt er fest, dass die enge Kooperation von Rechtsgeschichte und Frühneuzeitforschung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich nachgelassen habe, zu lange habe man auch auf gedruckte Inventare gesetzt statt auf Archivportale, und im Bereich der Digitalisierung seien selbst manche Stadtarchive fortschrittlicher. Dass das Interesse der Forschung an den umfangreichen und wichtigen Aktenbeständen inzwischen eher mäßig sei, habe aber tieferliegende Gründe. Zu nennen sei insbesondere die zum Teil noch heute vorherrschende Einordnung der Reichsgerichte in ein Fortschrittsnarrativ. Dies indes widerspreche den Befunden und Fragestellungen der jüngeren Frühneuzeitforschung und es münde in zum Teil merkwürdige Geschichtsbilder: Reichshofrat und Reichskammergericht verfügten in der Literatur, so der Autor, über eine bessere Presse "als zu jedem beliebigen Zeitpunkt ihres Bestehens."

Die an diesen Befund anknüpfenden Überlegungen sind also als methodische Reflexion ebenso wie als Versuch zu werten, die Reichsgerichtsforschung durch neue Impulse wieder anschlussfähig zu gestalten. Schenk beginnt mit grundsätzlichen archivwissenschaftlichen Bewertungskriterien (Primär- und Sekundärwert, Evidenz- und Informationsgehalt) der Quellen, die bei der bisherigen Bearbeitung offenbar zu wenig beachtet worden seien und leitet dann über zu Vorschlägen, soziologische Fragestellungen bei der Erschließung von Quellen von Anfang an stärker zu berücksichtigen. Es fehle an institutionengeschichtlichen Forschungen unter Einbeziehung organisationssoziologischer Instrumentarien. Ganz in diesem Sinne plädiert er dafür, die Dynamiken von formalen und informalen Verhaltenserwartungen stärker zu berücksichtigen. Um zu analysieren, warum Gerichte entschieden, wie sie entschieden, reiche es nicht, die offiziellen Verfahrensgänge nachzuzeichnen und sich damit auf die Schaubühne der reichsgerichtlichen Selbstdarstellung zu konzentrieren. Natürlich habe es einen Strukturwandel von den frühneuzeitlichen Kulturen des Entscheidens hin zu den modernen gegeben - diese Prozesse seien aber deutlich komplexer gewesen, als sich dies in den Darstellungen der älteren Forschung abbilde.

Genau wie das mündliche Verfahren der modernen Justiz im Grunde eine Fiktion sei, sei auch das Schriftlichkeitsprinzip der Frühen Neuzeit immer wieder durchbrochen worden. Es eine Illusion, zu glauben, die richterlichen Kollegien hätten in gemeinsamer Abwägung der schriftlichen Eingaben über Urteile beraten. Tatsächlich seien es innerhalb der Kollegien die Referenten gewesen, die den Gang des Verfahrens und die Haltung des Gerichts bestimmt hätten. Sie seien es gewesen, die ihre Kollegen durch mündlichen Vortrag instruierten, nachdem sie zuvor mit den Prozessparteien informell mündlich verhandelt hätten. Dergleichen Einflussnahmen bis hin zu Bestechungen seien unumgänglich gewesen, um zu verhindern, dass ein Verfahren versandete oder nicht im Sinne der jeweiligen Prozessparteien verlief.

Auch möge man den Einfluss von Institutionen außerhalb des Gerichts auf dessen Rechtsprechung nicht unterschätzen. Die Frage, ob der Reichshofrat in einen Konflikt eingriff und wie er dies tat, sei nicht - wie oft angenommen - von den Richtern im Zusammenspiel mit dem Kaiser entschieden worden, sondern durch informelle Gremien wie die Reichsdeputation. Hier sei das Für und Wider einer Intervention politisch und juristisch abgewogen worden, bevor der Reichshofrat ein Votum abgegeben habe. Letzteres sei fast immer einstimmig ergangen, auch weil ein Dissens sich nicht habe geheim halten lassen und dies reichspolitische Risiken heraufbeschworen hätte.

Schenk will mit dieser Analyse keineswegs das alte Bild von den ineffizienten Reichsgerichten erneut heraufbeschwören, er will lediglich verdeutlichen, dass moderne Verfahren ein Systemvertrauen zur Voraussetzung haben, das in der Frühen Neuzeit nicht zu erwarten ist. Wer nach einer Rationalität des Verfahrens im modernen Sinne suche, finde sie allenfalls in der Selbstdarstellung des Gerichts.

Was sind die Konsequenzen aus diesen Befunden? Nun, neben der bereits erhobenen Forderung nach einer Digitalisierung der Verzeichnisarbeit schlägt Schenk vor, die Aktenerschließung künftig so zu gestalten, dass die Forschung die Verschränkungen formeller und informeller Verfahrensabläufe besser analysieren könne. Dafür sei es notwendig, statt wie bisher auf flachere Verzeichnungen auf eine Tiefenverzeichnung zu setzen. Die Enthältvermerke müssten umfangreicher gestaltet werden. Inhaltlich müsste zudem ein stärkeres Gewicht auf die unteilbaren Bestände des Reichskammergerichtes und die Exhibiten-, Referenten- und Resolutionsprotokolle des Reichshofrats gelegt werden.

Dem ist kaum zu widersprechen. Gleichwohl stellt sich Frage, warum der Autor nicht auch eine stärkere Vernetzung der Verzeichnung der Reichshofratsakten mit denen des Erzkanzlers und der Reichshofkanzlei fordert. Immerhin hat er in seiner Analyse eben diese Bestände als zentral eingestuft. Auch scheint der von ihm gewählte Ansatz eine Perspektive zu fördern, die Reichskammergericht und Reichshofrat losgelöst von den Berichten der Kommissionen und der Residenten betrachtet. Hier droht die Bedeutung der Justiznachfrage für die Gerichtspraxis in den Hintergrund zu geraten.

Dessen ungeachtet stellt sein schmales Buch einen wichtigen Beitrag zur Forschungsdiskussion dar und ist gespickt mit einer Reihe faszinierender Fallbeispiele und Zitate.

Thomas Lau