Rezension über:

Stephan Strsembski: Kapitalistischer Realismus. Objekt und Kritik in der Kunst der 60er Jahre (= Schriften zur Kunstgeschichte; Bd. 28), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2010, 274 S., ISBN 978-3-8300-4919-7, EUR 78,00
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Rezension von:
Hans Dickel
Institut für Kunstgeschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Stefan Gronert
Empfohlene Zitierweise:
Hans Dickel: Rezension von: Stephan Strsembski: Kapitalistischer Realismus. Objekt und Kritik in der Kunst der 60er Jahre, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/18391.html


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Stephan Strsembski: Kapitalistischer Realismus

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Das schillernde Etikett "Kapitalistischer Realismus", von Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Lueg in Düsseldorf geprägt und später von René Block lanciert und auf eine Gruppe Berliner Künstler übertragen, hat Stephan Strsembski in seiner Kölner Dissertation erstmals einer wissenschaftlichen Studie unterzogen. Trotz der deutsch-deutschen Thematik und des internationalen Rangs der Protagonisten war bislang nicht geklärt, wer sich wo und wann damit profilieren wollte. Entsprechend kurz fällt der Forschungsbericht aus. Die von Strsembski zusammengestellten Daten zu Ausstellungen und Exponaten sowie die Informationen zu den Aktivitäten und Verlautbarungen der Beteiligten dienen in ihrer chronologischen Ordnung dazu, Künstler und Werke des "Kapitalistischen Realismus" präziser als bisher einzugrenzen. Dieses auch künftig nutzbare Grundlagenwissen zur deutschen Kunst der 1960er-Jahre erlaubt es dem Verfasser, in wünschenswerter Freimütigkeit den vermeintlichen Autoritäten der Forschung entgegenzutreten, wenn sie, wie zum Beispiel Benjamin Buchloh, die Werke Gerhard Richters intentional überfrachten, aber auch deutliche Qualitätsurteile zu den Künstlern auszusprechen, zumal er sie durch sorgfältige Beschreibungen plausibel begründet.

Strsembski entwickelt seine Argumentation entlang der Analysen relevanter Werke von Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Lueg aus der Düsseldorfer Fraktion sowie Wolf Vostell, KP Brehmer und Karl-Horst Hödicke aus der Berliner Fraktion. Das Etikett "Kapitalistischer Realismus" umspannt die allen gemeinsame Rückkehr zur Gegenständlichkeit, die sich in der künstlerischen Reflexion ihrer Bildpräsenz in den Massenmedien als wesentliche Neuerung der Kunst jener Jahre vollzieht. Konsequent werden die Werke hinsichtlich ihres "Objektrealismus" (besser geeignet wäre wohl der Begriff "Gegenständlichkeit") und ihrer "Kritik" erörtert, und zwar in einem nützlichen Vergleich mit der US-amerikanischen Pop-Art und den gleichsam naiven "Kritischen Realisten".

Auf der Grundlage seiner genauen und individuell differenzierenden Beschreibungen der jeweiligen Darstellungsmodalitäten unterscheidet Strsembski die "offene Ikonographie" der Düsseldorfer von der politisch aufgeladenen Ikonografie der Berliner Gruppe, vor allem aber würdigt er die medienreflexiven Komponenten in der Malerei Gerhard Richters und Sigmar Polkes, die eine Bildlichkeit generieren, welche erst die Kritikfähigkeit gegenüber den medialen Bildern und ihren Inhalten gestatte, während die Werke der Berliner Wolf Vostell und KP Brehmer von "auktorialen Botschaften" und technischen Effekten determiniert seien. Die konzise Unterscheidung der bildnerischen Strategien verdient es als Resümee dieser Arbeit zum "Kapitalistischen Realismus" zitiert zu werden: "Im Werkbegriff scheiden sich also die kapitalistischen Realisten in zwei Lager: Richter, Polke und Lueg unterstützen die ästhetische Reintegration der objektiven Umwelt in ihrer Kunst durch künstlerische, vor allem malerische Formung und Überformung der den Medien entnommenen Sujets und Motive. Vor allem Vostell und Brehmer beweisen in ihren Beiträgen zum kapitalistischen Realismus einen hiervon abweichenden Werkbegriff, der in Form von Collagen und technisch erzeugten Bildern den Bildakt vergleichsweise vereinfacht beziehungsweise auf einer rein technischen Ebene behandelt und so die persönliche Handschrift des Künstlers vernachlässigt oder ihn im anderen Extrem, wie im Fall von Vostells Verwischungen, als Pathosformel heraushebt." (177)

Daran anschließend etabliert Strsembski ein rezeptionsästhetisches Kriterium der Kunst in demokratischen Gesellschaften, dem Gerhard Richter und Sigmar Polke mit ihrer "offenen Ikonographie" und ihrem "offenen Kritikbegriff" (191,198) Rechnung getragen haben, nämlich das Kommentarbedürfnis des Betrachters, welches die von Arnold Gehlen bemerkte "Kommentarbedürftigkeit des modernen Kunstwerkes" ergänzt.

Als seien die präzisen Beobachtungen zu Inhalten und Formen des "Kapitalistischen Realismus" der beiden Fraktionen noch nicht ausreichend, versucht Strsembski im abschließenden Kapitel, seine Ergebnisse auf einer Metaebene diskursfähig zu machen und unterscheidet deshalb die angeblich "modernistische" Strategie der Berliner von einer angeblich "postmodernen" der Düsseldorfer. Wenngleich diese Zäsur tatsächlich in die 1960er-Jahre fällt, ist eine Differenzierung beider Epochen keineswegs allein mit der bloßen Gegenüberstellung eines Berliner "Sendungsbewußtseins" und einer nonchalanten "Entspannung" in der Haltung der Düsseldorfer zu leisten, zumal die ausgewählten Referenztexte von Clement Greenberg und Wolfgang Welsch die kunsttheoretischen Positionen nicht hinreichend repräsentieren (214, 222). Statt dessen wäre in Fortführung seines eigenen "close reading" eine Erörterung zu erwarten gewesen, die phänomenologische und theoretische Erkenntnisse so bündelt wie es beispielsweise Douglas Crimp zur gleichen Problematik, bezogen auf das Œuvre von Robert Rauschenberg, geleistet hat. [1]

Auch ein begriffsgeschichtlicher Kommentar zum "Kapitalistischen Realismus", dessen Kleinschreibung durch die Künstler erst René Block zur programmatischen Großschreibung korrigiert hat (denn gerade die Düsseldorfer haben ja bewusst und nicht nur aufgrund ihrer Systemzugehörigkeit in den Phänomenen der kapitalistischen Gesellschaft deren Prinzipien aufzudecken versucht), hätte besser zum hermeneutischen Ansatz der Arbeit gepasst. Die "offene Ikonographie" Richters und Polkes ebenso wie ihre sachliche Malweise wären als ein Realismus zweiten Grades zu beschreiben gewesen, der genau jene Wertindifferenz und inhaltliche Nivellierung kenntlich macht, die Max Weber als ein Merkmal des Kapitalismus erörtert hatte. [2] So bleiben Strsembskis sorgfältige Faktensicherung und die souveränen Interpretationen der verschiedenen Werkgruppen des "Kapitalistischen Realismus" die eigentliche Leistung seiner (bis auf die gelegentliche sprachliche Verwahrlosung infolge der copy/paste Technik) sehr lesenswerten Doktorarbeit.


Anmerkungen:

[1] Douglas Crimp: On the Museum's Ruins, in: October 13 (1980), 41-57.

[2] Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (Reprint), Tübingen 1972, 17-206, bes. 30-63.

Hans Dickel