Annette Jantzen: Priester im Krieg. Elsässische und französisch-lothringische Geistliche im Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 116), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 367 S., ISBN 978-3-506-76873-5, EUR 49,90
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Die bei Andreas Holzem im Rahmen des Tübinger SFB 437 entstandene Dissertation von Annette Jantzen analysiert "Kriegserfahrungen" katholischer Geistlicher aus den Reichslanden Elsass und Lothringen während des Ersten Weltkriegs. Ihr Quellenmaterial besteht aus der zeitgenössischen Korrespondenz der Priester mit den Bischöfen und dem Generalvikariat der Diözesen Straßburg und Nancy, aber auch aus gedruckten Mitteilungsorganen sowie nach dem Krieg abgefassten Lebensberichten einzelner Geistlicher. In zweisprachiger Edition sind diese Quellen in elektronischer Form der Publikation beigegeben und stehen der weiteren Auswertung zur Verfügung. In vier Zugriffen wird die Haltung der Geistlichen als Zivilisten, als Gefangene und Geiseln, als Priester in der Armee und nach Kriegsende analysiert.
Das erste Kapitel (27-135) liefert eine dichte Beschreibung der Schicksale von Priestern als Zivilisten. In Lothringen wurden die Geistlichen Opfer einer kollektiven Wahnvorstellung in der deutschen Armee, die Franzosen würden nach dem Vorbild des Krieges von 1870/71 als Freischärler gegen die Deutschen kämpfen. In diesem Zusammenhang wurden Geistliche erschossen. Ihre Lebensbeschreibungen im "Goldbuch" der Diözese Nancy enthalten die Deutung, sie seien für Frankreich gestorben und Gott habe ihr Opfer angenommen. Diese Beobachtung zieht sich wie ein roter Faden durch die Untersuchung Jantzens: Der patriotische Aspekt spielt eine weitaus größere Rolle als die religiöse Interpretation des Krieges und des eigenen Schicksals.
Das gilt auch für die Geistlichen im Elsass. Hier waren die Vorwürfe gegen Priester Deutschfeindlichkeit und Verdacht auf Spionage. Solche Anschuldigungen konnten verschiedene Ursachen haben, von der Art der Priesterkleidung über Konflikte bei Beerdigungen und der Verwendung der französischen Sprache in Predigt und Religionsunterricht bis zur generellen Verweigerung der Anpassung an die Militärbehörden. Sanktionen betrafen vor allem das Unterelsass. Hier kam es zu Ausweisungen für die Dauer des Krieges. Nur bei wenigen Priestern finden sich Reflexionen über den Sinn des Krieges. Sie werden zeittypisch mit dem Hinweis auf Gottes Strafgericht beantwortet, eine Antwort, die unabhängig von der Zeitsituation gegeben werden konnte. Jantzen spricht vom "Phänomen der sich vom Krieg unbeeindruckt zeigenden Theologie" (132).
Nach einem kurzen Abschnitt zu Priestern als Zivilgefangenen in Deutschland behandelt die Autorin die Priester, die in der französischen (aus Lothringen) bzw. der deutschen (aus dem Elsass) Armee als Seelsorger, Sanitäter oder im Waffendienst eingesetzt waren. Für Lothringen standen ihr dabei unterschiedliche Quellengattungen zur Verfügung. Das vom Weihbischof und Feldseelsorger Charles Ruch mit Leitartikeln eingeleitete "Bulletin der mobilisierten, evakuierten und gefangenen Priester der Diözese Nancy" mit dort publizierten Briefen, eine Reihe von Privatkorrespondenzen sowie das Kriegstagebuch des Priesters François Godefroy, der als Sanitäter und Feldseelsorger die ersten drei Kriegsjahre miterlebte. Charles Ruchs Leitartikel forderten auch unter Kriegsbedingungen priesterliche Ideale ein. Weder die Frage nach der Kriegsschuld noch die Theodizeeproblematik tauchen bei ihm auf. Dieses Bild spiegelt sich in der öffentlich zugänglichen Korrespondenz der Priester im Bulletin wider. Zwar wird bisweilen von Schwierigkeiten in der Umsetzung berichtet, aber die Geistlichen bemühen sich um die Aufrechterhaltung eines priesterlichen Lebensstils. Klagen über Vorgesetzte und Benachteiligungen sind nicht vorhanden. Die Solidarität zu einem Staat, der sich spätestens seit 1905 den Laizismus und die offene Ablehnung der katholischen Kirche zum Programm gemacht hatte, war ungebrochen. Das galt selbst für die private Korrespondenz der Geistlichen.
Dass Außenbild und Innenwahrnehmung aber durchaus differierten, kann Annette Jantzen anhand eines Tagebuchs zeigen. Nur dort werden die Gräuel und Ängste des Krieges thematisiert. Nur im Tagebuch wird Kritik an den militärischen Vorgesetzten geäußert. Während die öffentlichen Äußerungen der Geistlichen den Krieg in einen göttlichen Plan mit Frankreich einordnen, für die Priester zur Bewährung ihres Lebensstils und für Frankreich mit einem siegreichen Ende, sprach aus dem Tagebuch eine eher fatalistische Unterwerfung unter den göttlichen Willen. Zweifel und Kriegsmüdigkeit finden sich bei Ruch in keiner Weise. In seinem Geschichtsbild war nach Kriegsende "die Rolle Gottes als transzendenter Alliierter Frankreichs wieder klar" (285). So lassen sich auch die Erinnerungen an die gefallenen Priester in den politischen Tenor "Gestorben für Frankreich" und die spirituelle Interpretation des Priesters, der sich selbst als Opfer gibt ("sacerdos et victima"), einordnen.
Annette Jantzen hat ein differenziertes Bild der Kriegsbeteiligung und Kriegsdeutung katholischer Geistlicher vorgelegt. Sie beschränkt sich auf Selbstzeugnisse schriftlicher Form (Briefe, Artikel, Tagebücher). Das Hauptergebnis ihrer Studie ist, dass die Geistlichen die Rechtmäßigkeit des Krieges nicht in Frage stellten. Unsicherheiten gegenüber den kirchlichen und militärischen Vorgesetzten gab es nicht. "Hier zeigt sich der hohe Grad an Verbindlichkeit, den das kirchliche Welt- und Gottesbild hatte." (350) Der Krieg wurde als Teil eines göttlichen Weltenplans gesehen, der hinzunehmen war. Pazifistische Positionen blieben deshalb sehr singulär. Das von Jantzen als Leitmotiv ihrer Untersuchung gewählte Wort aus einem Artikel im Priesterbulletin "trotz allem die Vorsehung besingen" verdeutlicht in historischer Perspektive die Unfähigkeit der katholischen Milieus, Ambivalenzen der Zeitdeutung zur Sprache zu bringen. Eine theologische Deutung des Krieges wäre freilich auch mit einer Kritik an den politischen Grundannahmen verbunden gewesen. Das Scheitern der - von den Geistlichen übrigens nicht wahrgenommenen - Friedensinitiative Benedikts XV. ist dafür ein Beispiel. So gilt auch nach der Studie Annette Jantzens, dass die Kirche keine adäquate Antwort auf die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts gegeben hat und aus ihren eigenen Denkvoraussetzungen heraus vielleicht auch nicht geben konnte.
Joachim Schmiedl