Gunther Martin: Divine Talk. Religious Argumentation in Demosthenes (= Oxford Classical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2009, IX + 345 S., ISBN 978-0-19-956022-6, GBP 60,00
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Die Bedeutung religiöser Argumente für die griechische Politik und das griechische Gerichtswesen stand bisher nicht gerade im Fokus der altertumswissenschaftlichen Forschung. Umso willkommener ist eine Studie wie die Oxforder Dissertation von Gunther Martin, die der Frage nachgeht, welche Rolle die Verwendung religiöser Argumente bei den attischen Rednern des 4. Jahrhunderts und insbesondere bei Demosthenes spielt. [1]
Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist dabei für Martin das methodische Caveat, auf Pauschalisierungen, wie sie die Forschung bisher vorgenommen habe, zu verzichten. So seien für die Athener weder generell alle Bereiche des Lebens voll von Religion gewesen noch hätten sie sich selbst ausschließlich als "reasonable people" (1) wahrgenommen, deren Entscheidungsfindung allein auf rationalen Argumenten beruht habe. Diese beiden "extreme views" (1) möchte der Autor durch eine stärkere Kontextualisierung und Einzelfallbetrachtung überwinden, indem er jeweils fragt, "under what conditions the one or the other prevailed, when and how much the Athenians mentioned religion, and what they said when they did so." (1) Ein solches Vorgehen ist im Grundsatz sicher zu begrüßen, allerdings steht zu fragen, ob Martin mit seiner sehr schematischen Gegenüberstellung der Positionen dem Forschungsstand tatsächlich gerecht wird. [2]
Um genuin religiöse Argumente bei Demosthenes herausfiltern zu können, muss Martin zunächst klären, was eigentlich genau unter 'religious arguments' verstanden werden soll. In überzeugender Weise geht er dabei sowohl von einem breiten Argumentations- wie auch Religionsbegriff aus (4f.). Diese terminologische Offenheit hat den Vorteil, dass ihm nicht schon von vorneherein wichtige Elemente seiner Zentralbegriffe durch das Raster fallen. Mit 'Argumenten' meint er daher nicht nur im strengen Sinne 'logische' Argumente, sondern allgemein "means of persuasion" (5). Um von einem im Kern religiösen Argument sprechen zu können, sei allerdings die bloße Verwendung religiöser Termini nicht hinreichend, sondern es müssten auch die dahinter stehenden religiösen Konzepte (göttliche Strafe, Reinheit / Befleckung etc.) expliziert werden. Einige kurze Hinweise zur griechischen Rhetorik beschließen die Einleitung (10-12).
Der Hauptteil der Studie gliedert sich in zwei Großabschnitte, von denen sich der erste mit Gerichtsreden aus politischen Prozessen (γραφαί) und der zweite mit politischen Reden vor der Volksversammlung sowie Reden in Privatprozessen (δίκαι) beschäftigt. Der erste Teil nimmt dabei mit 202 Seiten (13-215) deutlich mehr Raum ein als der zweite (217-300). Ein solches Ungleichgewicht ist nicht schon an sich problematisch. Leider hat man den Eindruck, dass es zu einer gewissen Unausgewogenheit der Ergebnisse beiträgt: So wird - das sei vorweggenommen - im zweiten Teil die Bedeutung religiöser Argumente in und für zwischenstaatliche Verhandlungen unterschätzt.
"Part I" beginnt mit der genauen Analyse der drei Reden "Gegen Meidias" (15-48), "Über die Truggesandtschaft" (49-84) und "Über den Kranz" (85-117), die Martin in chronologischer Reihenfolge untersucht. Es folgen in Kapitel 4 (118-136) Reden, die Demosthenes als Logograph für andere geschrieben hat. Das fünfte und letzte Kapitel des ersten Teils (137-202) beschäftigt sich mit Reden anderer Autoren (Pseudo-Lysias "Gegen Andokides", Lykurg und Aischines) und beinhaltet einen Exkurs (182-202) über die im Corpus Demosthenicum überlieferte Rede "Gegen Aristogeiton I" (Dem. 25). Ein Zwischenfazit ("Conclusion I: The Importance of the Individual", 203-218) beschließt den ersten Teil, der durch viele treffende Einzelanalysen zu den jeweiligen Reden besticht.
Als Kernthese des ersten Teils macht Martin einen Unterschied zwischen denjenigen Reden, die Demosthenes selbst gehalten hat, und denen, die er für andere verfasst hat, aus: Als Logograph benutze Demosthenes genauso häufig religiöse Argumente wie andere Redner; trete er aber auch selbst als Redner auf, zeichne ihn eine große Zurückhaltung in Bezug auf religiöse Argumente aus. Spreche Demosthenes doch über Religion und Kult, dann deshalb, weil er sich gegen Asebie-Vorwürfe verteidigen müsse (Dem. 21) oder religiöse Angelegenheiten schlicht und ergreifend zum Fall gehörten. Martin gelingt es, überzeugend nachzuweisen, dass Demosthenes aber auch in diesen Fällen Religion und Kult nicht zum Kern seines Argumentes macht. So insistiere er nicht deshalb darauf, dass Aischines in jungen Jahren an einem fremden, wahrscheinlich dem Sabazioskult teilgenommen habe, um ihn in religiöser Hinsicht zu desavouieren. Vielmehr gehe es Demosthenes darum, das niedrige Sozialprestige des Aischines, das sich in der Teilnahme an "a semi-barbarian rite" (114) manifestiere, vorzuführen. Entsprechend sei er in "Über die Truggesandtschaft" "not interested in a defiled Aeschines, but in the traitor." (84)
Der zweite Teil wendet sich nach einer kurzen Einleitung (217f.) zunächst "Demosthenes' Assembly Speeches" (219-249) zu. Martins Erkenntnisinteresse zielt dabei nicht mehr primär auf die Art und Weise, wie verschiedene Redner religiöse Argumente gebrauchten ("The Importance of the Individual", 203), sondern wendet sich dem "Influence of the Genre" (290) zu. Da politische Entscheidungsreden vor der Volksversammlung (Demegorien) aber nur von Demosthenes überliefert sind, zieht Martin in Kapitel 6 als Vergleichspunkt zunächst nicht-rhetorische Quellen (Historiographie, Komödie, Philosophie) zurate, um im Anschluss eine knappe Analyse der Demegorien des Demosthenes (Philippika, Olynthische Reden) durchzuführen. Dabei betont er, dass der weitgehende Verzicht auf religiöse Argumente typisch für die Redegattung der Demegorie gewesen sei. [3] Es folgt in Kapitel 7 eine Analyse der Rede "Gegen Leptines" (Dem. 20), die zwar auf den ersten Blick zu den Gerichtsreden zu zählen ist, aufgrund der speziellen Form des Prozesses, bei dem es eher um Gesetzgebung geht, von Martin aber zu den Demegorien gestellt wird. Wie bei jenen habe Demosthenes auch in or. 20 weitestgehend auf religiöse Argumente verzichtet. Die Kapitel 8 (250-276) und 9 (277-289) richten den Fokus auf Reden in Privatprozessen. Martin unterscheidet dabei zwischen "Ritual Acts with Probative Force" (Kap. 8), zu denen er v.a. die verschiedenen Typen von Prozesseiden zählt, und religiösen Argumenten, die im Gegensatz dazu keine "formalized patterns of legal action or persuasion" (277) darstellten ("Non-Probative Arguments", Kap. 9). Insgesamt seien Reden in Privatprozessen - so schlussfolgert Martin - in einer weniger pathosgeladenen Art und Weise, "without the spitefulness and vehemence of the public speeches" (293) verfasst worden. Eine zweite "Conclusion" (290-300) fasst die Ergebnisse beider Teile zusammen.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es Martin überzeugend gelingt, die Ubiquität religiöser Argumentation in politischen Gerichtsprozessen des 4. Jahrhunderts herauszuarbeiten (203). Die Unterscheidung zwischen Demosthenes, dem Autor, und Demosthenes, dem Logographen, ist ebenfalls instruktiv. Weniger plausibel argumentiert Martin dagegen im zweiten Teil seiner Untersuchung: Es mag in der attischen Volksversammlung eine geringere Zahl an persönlichen Angriffen und Beleidigungen gegeben haben als an den Gerichtshöfen, pauschal von einer "results-oriented atmosphere" und einer "argumentation based on facts" (292) zu sprechen, wird aber den Verhältnissen in der Ekklesia sicher nicht gerecht. [4] Auch schießt Martin über das Ziel hinaus, wenn er konstatiert, dass die Religion bei der Lösung außenpolitischer Konflikte keine Rolle gespielt habe. [5]
Eine Bibliographie, ein umfangreicher Index Locorum sowie ein vielleicht etwas zu knapp geratener allgemeiner Wortindex runden die Arbeit ab. In jedem Fall trägt die Studie dazu bei, eine Forschungslücke zu schließen.
Anmerkungen:
[1] Während der Gegenstand der religiösen Argumente in der griechischen Rhetorik bisher noch nicht in monographischer Form untersucht worden ist (vgl. allerdings die Aufsätze von H. Montgomery: Piety and Persuasion. Mythology and Religion in Fourth-Century Athenian Oratory, in: B. Alroth / P. Hellström (eds.): Religion and Power in the Ancient Greek World. Proceedings of the Uppsala Symposium 1993, Uppsala 1996 und W.D. Furley: Religiöse Schuld in attischen Gerichtsverfahren, in: J. Assmann / T. Sundermeier (Hgg.): Schuld, Gewissen und Person, Gütersloh 1997, 64-82), ist die Beschäftigung mit Demosthenes in jüngster Zeit wieder geradezu en vogue. Hierfür sei beispielsweise auf G.A. Lehmann: Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit, München 2004; D.M. MacDowell: Demosthenes the Orator, Oxford 2009; P. Hunt: War, Peace, and Alliance in Demosthenes' Athens. Debate and the Process of Decision-Making, Cambridge 2010 und M.R. Dilts: Demosthenis Orationes I-IV, Oxford 2002-2010 verwiesen.
[2] Ein facettenreicheres Bild griechischer Religion zeichnet etwa J.D. Mikalson: Athenian Popular Religion, Chapel Hill / London 1983.
[3] Ob die Quellenbasis allerdings für eine solche Schlussfolgerung ausreicht, ist fraglich. Schließlich lässt sich ja in Bezug auf den einzigen Autor, von dem Reden beider Gattungen auf uns gekommen sind, kein Unterschied ausmachen: Demosthenes hält sich in beiden Gattungen mit dem Gebrauch religiöser Argumente zurück. Man könnte es daher auch als ein typisches Merkmal demosthenischer Rhetorik deuten.
[4] Ein Ansatz wie der von Angelos Chaniotis scheint mir hier erfolgversprechender: A. Chaniotis: Überzeugungsstrategien in der griechischen Diplomatie. Geschichte als Argument, in: ders. / A. Kropp / C. Steinhoff (Hgg.): Überzeugungsstrategien (Heidelberger Jahrbücher 52), Heidelberg 2009, 147-165, bes. 156ff. geht unter den Bedingungen griechischer Diplomatie, die in Athen zumeist in der Öffentlichkeit der Volksversammlung stattfand, von der Notwendigkeit einer "komplexen Überzeugungsstrategie" (159) aus, die der heterogenen sozialen Zusammensetzung der attischen Volksversammlung Rechnung trägt.
[5] Vgl. Conclusion II (292): "Military and foreign policy issues were a field that required a solution on the human level. The gods may be invoked to protect the laws and decrees of the city (as is shown by the frequent invocation at the top of inscribed statutes) but they are not relied upon as part of that solution." Dass die Götter eben doch Teil der Lösung waren, zeigt ein Blick in die Schwurformeln griechischer Staatsverträge.
Sebastian Scharff