Thorsten Fögen: Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer Fachtexte der frühen Kaiserzeit (= Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft; Heft 134), München: C.H.Beck 2009, IX + 340 S., ISBN 978-3-406-59259-1, EUR 78,00
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In der modernen Philologie waren die römischen Fachtexte lange Zeit zu einem kümmerlichen Nischendasein verurteilt. Zwar bestand an ihrer Zugehörigkeit zur Literaturgeschichte theoretisch kein Zweifel. Doch der Spott über den kunstlos anmutenden, kaum ästhetischen Genuss versprechenden Stil, in dem sie abgefasst waren, bewirkte zusammen mit der häufig auftretenden Verachtung für das intellektuelle Niveau der Autoren, dass sie praktisch kaum als Literatur, als Kunstwerke eigenen Rechts begriffen wurden, sondern vornehmlich als Quellenmaterial für die Beantwortung realienkundlicher, sprachwissenschaftlicher oder allenfalls noch historischer Fragestellungen herhalten mussten. Da neue, von allerlei turns inaugurierte Interpretationsansätze in erster Linie jenen Texten zugute kamen, die traditionell als Klassiker gelten, lag ein abwechslungsreiches und noch relativ unerkundetes Forschungsfeld zu Unrecht weitgehend brach. Inzwischen ist jedoch eine Reihe anregender, theoretisch reflektierter und multiperspektivisch angelegter Monographien und Sammelbände zu antiken Fachautoren erschienen, die sich bei allen Verdiensten indes zumeist in der Behandlung von Einzelfragen oder eng umrissenen Themenkomplexen erschöpfen. An einer umfassenden Darstellung, die die mittlerweile schon Jahrzehnte alten, ohnehin raren Standardwerke ersetzen könnte, fehlte es bislang.
Diesem offenkundigen Mangel sucht Thorsten Fögens Berliner Habilitationsschrift abzuhelfen. Sie betrachtet die römischen Fachtexte der frühen Kaiserzeit unter den Aspekten Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Überzeugend siedelt der Autor seine Arbeit an der "Schnittstelle von Sprach- und Literaturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Kultursoziologie" (8) an. Insofern sein Hauptinteresse dem Selbstverständnis und den Selbstdarstellungsstrategien der Autoren gilt, die er als Akteure in einem von den Paradigmen Wissen und Macht beherrschten Diskurs versteht, fällt das Buch in den Bereich dessen, was man, je nach Perspektive, Kulturgeschichte des Politischen oder politische Kulturgeschichte nennen könnte. Von veralteten Zugängen zur Fachschriftstellerei distanziert sich Fögen jedenfalls mit Verve. Er fragt nach den "konkreten literarischen Ausprägungen antiker Fachtexte mitsamt ihren linguistischen und stilistischen Eigenschaften", den "Formen antiker Wissensvermittlung", den "soziokulturellen Strukturen", die in Fachtexten widergespiegelt werden, sowie den "politisch-ideologischen Implikationen" (8; 23f.). Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Studie zählt für Fögen die Entdeckung "gewisse[r] Konstanten pragmatisch-argumentativer Natur" (8) in den so unterschiedlichen Werken und Autoren der ausgewählten, politisch zwischen Kontinuität und Diskontinuität oszillierenden Epoche.
Das Programm des Buches wird in zwei Teilen entfaltet. Ein systematischer, stark linguistisch geprägter Aufriss (9-105) behandelt zunächst die Fachtexte mit ihren lexikalischen und morphologischen Charakteristika (9-25; 26-66) und geht anschließend den Modi nach, in denen die römischen Autoren griechische Wissensbestände transformierten (67-105). Der zweite, als Folge von Fallbeispielen konzipierte Teil präsentiert sodann vier detaillierte Portraits einflussreicher Fachschriftsteller mit ihren Hauptwerken: Vitruv, Columella, Plinius d.Ä. und Frontin (106-285). Die gewonnenen Ergebnisse bündelt ein prägnantes Schlusswort (290-295).
Zunächst erörtert Fögen das Problem der Kategorisierung von Fachtexten (19-24). Eine einheitliche Theorie der Gattung, so zeigt er plausibel, war in der Antike unbekannt. Nicht nur gab es eine Fülle denkbarer Werktitel; unter denselben Bezeichnungen kamen oft auch Arbeiten höchst unterschiedlichen Charakters daher. Im übrigen durfte beinahe jeder Stoff zum Fachgebiet avancieren. Außerdem behauptete neben den Prosatexten die Lehrdichtung einen prominenten Platz. Dass ferner die Gestalt der Werke maßgeblich von den Intentionen des Autors und dem Adressatenkreis abhingen, leuchtet ebenso ein wie die Feststellung, es habe keine strikte Abgrenzung zur schönen Literatur gegeben. Zur Einordnung der Fachliteratur schlägt Fögen daher ein "Kontinuum-Modell" vor (22f.), das seltsamerweise aber die Lehrdichtung nicht integriert, sondern auf "einer Art Parallelkontinuum" (23) anordnet, und mit den etwas schematischen Kriterien des Umfangs und des Stils operiert, die angesichts des facettenreichen Überblicks möglicher Forschungsfragen (23f.) unnötig einengend wirken.
Eine materialgesättigte Untersuchung, die Fögens meisterhafte Beherrschung der Quellen demonstriert, widmet sich anschließend der sprachlichen Gestaltung der Texte. Deutlich wird, welch enorme, zumindest topische Bedeutung perspicuitas, brevitas und dem aptum/decorum für den Stil antiker Fachtexte beigemessen wurde und welch fein ausgebildetes Bewusstsein für das fachspezifische Vokabular und dessen korrekten Gebrauch die Autoren entwickelt hatten. Überraschenderweise diskutiert Fögen die Transformation griechischer Wissensbestände jedoch nur unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Ihm ist bewusst, dass "Sprachgeschichte stets mit Kulturgeschichte und politischen Verhältnissen eng verwoben ist" (104). So belegen gekonnt ausgewählte Stellen, wie wenig sich die Römer in ihrer Auseinandersetzung mit der griechischen Terminologie zu emanzipieren vermochten und trotz aller Bestrebungen nach Eigenständigkeit ihren Vorbildern im Vokabular weiter verbunden blieben. Doch bei der Beschränkung auf die Sprachgeschichte bleiben alle relevanten Aspekte unberücksichtigt, die ebenfalls mit dem politisch-historischen Kontext in Verbindung stehen, namentlich das Wechselverhältnis von Macht und Wissen. Zwar werden solche Fragen im zweiten Teil der Studie, in den jeweiligen Portraitskizzen erörtert. Aber zu der Zielsetzung und den programmatischen Ansprüchen Fögens hätte unbedingt auch eine kurze Geschichte der römischen Wissenskultur mit ihren politisch-ideologischen Implikationen gehört.
Nach den systematischen Ausführungen zur Fachliteratur im allgemeinen stehen im zweiten Hauptteil des Buches die Autoren im Mittelpunkt. Alle vier Einzelstudien gehorchen dem gleichen Kompositionsmuster. Auf einleitende Bemerkungen zum Forschungsstand folgt eine biographische Einführung, an die sich eine Analyse des Prooemiums sowie eine Betrachtung ausgewählter Themen des Werkes anschließen, bevor zuletzt dessen politische Dimension untersucht wird. Die disparate Forschungsliteratur beherrscht Fögen souverän. Seine zentralen Ergebnisse lauten: Die untersuchten Schriftsteller verfügten über ausgeprägte Autorenpersönlichkeiten, deren wissenschaftliche Anstrengungen auf einem klaren, am mos maiorum orientierten Geschichtsdenken fußten und ein Weltbild propagierten, zu dessen Rigorismus sie selbst in Widerspruch gerieten; sie seien überzeugt, mit ihrem Werk eine wissenschaftliche Innovation vorzulegen, ihre Vorgänger zu übertreffen und unangefochten den Zenit ihres Fachgebietes zu behaupten. An der Bedeutung ihres Wissens ließen sie keinen Zweifel, da sie glaubten, ihre Texte seien der Prosperität Roms und dem Fortschritt der Gesellschaft von erheblichem Nutzen. Jeweils hätten sie ihr Fachgebiet zur Schlüsseldisziplin für den Gedeih des Staates stilisiert und stets versucht, ihre Autorität mit dem Wohlwollen des Kaisers zu erhöhen. Wegen der "Koppelung von Wissenschaft und Moraldiskursen", die ihre Werke auszeichne, müsse man sie als "écrivains engagés" (293) bezeichnen.
Seinen hochgesteckten Ansprüchen wird Fögen trotz vieler wertvoller Interpretationen jedoch nicht vollauf gerecht. Insgesamt nämlich bleibt der historische Kontext zu unscharf, dessen Rekonstruktion für das Verständnis der als Sprechakte aufgefassten Literatur aber unabdingbar ist und auch von jedweder Diskurstheorie verlangt wird, weil ohne minutiöse Analyse der Physiognomie einer Epoche die zu untersuchenden Werke kein Profil gewinnen und ihre Bedeutung, die per- und illokutionäre Seite des Sprechaktes, nicht zutage tritt. Zur Einbettung der Autoren in ihre Zeit wären ausführliche historisch-politische und kulturgeschichtliche Ausführungen erforderlich gewesen, und die Schriftsteller hätten mit Vorgängern und Zeitgenossen nicht nur in der Fachliteratur auf vielen Ebenen in ein Verhältnis gesetzt werden müssen. Das alles geschieht jedoch nur ansatzweise und zu pauschal, weil Fögen auf die jeweilige Einzelpersönlichkeit fixiert ist und die Trennung der Fächer Philologie und Geschichte nicht überwindet, die er in einer grundsätzlich auf Koordination verschiedener Disziplinen basierenden Arbeit hätte zusammenführen sollen. So kommt es, dass er im Widerspruch zu seiner eigentlichen Absicht letztlich an einer eher konventionellen Ideengeschichte festhält und Themen, die eine ausführliche Diskussion verdient hätten, in Fußnotennotizen abhandelt. Nur drei Beispiele mögen die genannten Defizite illustrieren. Bei der laus Italiae Vitruvs versäumt Fögen eine Problematisierung dieser Figur, deren ambivalente Verwendung bei den augusteischen Dichtern hätte herangezogen werden sollen (141ff., A. 96); ebenso wenig verortet er Vitruvs kulturgeschichtliche Aszendenzvorstellung in der leidenschaftlich geführten Debatte der Zeit über die Kulturentwicklung (144ff., A. 110); und bei der Vorstellung der Anthropologie des Plinius fehlen deren Implikationen für die Politik (224-230).
Indes, die enormen Verdienste des ambitionierten Buches sollen diese Kritikpunkte nicht in den Schatten stellen. Zur Erforschung der antiken Fachautoren hat Fögen ein wegweisendes Programm aufgestellt und einen engagierten Beitrag zu dessen Umsetzung geleistet. Noch lange wird man von seinen Erkenntnissen zehren und in Auseinandersetzung mit ihnen treten. So gebührt Fögen für seine Pionierleistung ein Platz unter den führenden Wissenschaftshistorikern der Antike. Auf dem Feld der Fachschriftstellerei hat "Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung" allemal bleibende Maßstäbe gesetzt.
Nils Steffensen