Hasia R. Diner: We Remember with Reverence and Love. American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust, 1945-1962, New York: New York University Press 2009, XIII + 529 S., ISBN 978-0-8147-1993-0, USD 29,95
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Sie haben sich alle gründlich geirrt. So pointiert urteilt Hasia R. Diner über das Gros der wissenschaftlichen Studien zur Holocaust-Erinnerung amerikanischer Juden in der Nachkriegszeit (9). Die ausgewiesene Expertin für amerikanisch-jüdische Geschichte legt mit We Remember ein im besten Sinne revisionistisches Buch vor. Die von Diner kritisierte herrschende Lehre, zu deren prominentesten, wenn auch umstrittensten Vertretern Peter Novick und Norman Finkelstein zählen [1], lautet wie folgt: Die amerikanischen Juden wurden nach 1945 von einer kollektiven, selbstauferlegten Amnesie befallen und vergaßen oder verdrängten den Holocaust. Grund dafür war zum einen der Beginn des Kalten Krieges, der Westdeutschland zum Verbündeten und die Sowjetunion zum Feind machte und keinen Platz für die Erinnerung an die von Deutschen begangenen Verbrechen ließ. Ferner waren die amerikanischen Juden zu sehr mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg beschäftigt, interessierten sich nicht für die Geschichte der Judenvernichtung oder wollten sich nicht durch dieses Erbe vom Rest der weißen Mittelschicht unterscheiden. Schließlich bewirkten sie nicht aus eigenem Antrieb einen Wandel in der Erinnerungskultur, sondern erhielten Impulse durch Ereignisse in Israel, nämlich dem Eichmann-Prozess (1961/62) und dem Sechstagekrieg (1967).
Um diesen "myth of silence" als solchen zu enttarnen, präsentiert Diner auf knapp 400 Seiten zahlreiche Beispiele für die mannigfaltige Auseinandersetzung der amerikanischen Juden mit dem Holocaust bis 1962. In sechs umfangreich dokumentierten und thematisch geordneten Kapiteln widmet sie sich verschiedensten Formen der Erinnerungen. Da amerikanische Juden an keine historischen Vorbilder (zum Beispiel unter den anderen Minderheiten in den USA) anknüpfen konnten, so eine These im ersten Kapitel, glichen die frühen Memorialprojekte oftmals "grassroots experimentations" (84). Sie zogen sich jedoch durch beinahe alle jüdischen Gemeinden und Organisationen, egal welcher religiösen oder politischen Couleur sie angehörten. Ein konkretes oder gemeinschaftliches Ziel war dabei zwar nicht zu erkennen, jedoch sei - so Diner - ohne diese Vorarbeit der spätere "Boom" der Holocaust-Erinnerung nicht möglich gewesen.
Wie vielfältig diese Erinnerungsformen waren, zeigt Diner eindrücklich auf. Sie beschreibt die zahllosen kleinen Gedenkorte in Synagogen, jüdischen Organisationen oder auf Friedhöfen. Diese hätten spätere Beobachter nicht berücksichtigt, die nur das Fehlen einer zentralen amerikanischen Holocaustgedenkstätte bemängelten. Ferner nennt Diner etwa Konzerte, die den ermordeten Juden gewidmet waren, und betont die Bedeutung der yizker bikher (Gedenkbücher) der polnischen landsmanshaftn. Darin sei das Leben der osteuropäischen Juden rekonstruiert und ihre Vernichtung dokumentiert worden. Zudem kann Diner zeigen, wie die amerikanisch-jüdische Gemeinschaft seit den frühen 1950er Jahren das Pessachfest mit dem Gedenken an den Warschauer Ghetto-Aufstand verknüpfte und so im jüdischen Kalender einen eigenen Holocaust-Gedenktag schuf.
Neben diesen vorwiegend innerjüdischen Formen der Erinnerung untersucht Diner Projekte, die Wissen über den Holocaust an eine breite Öffentlichkeit vermitteln sollten. In einer umfassenden Analyse der frühen Holocaust-Literatur, von wissenschaftlichen Studien über Memoiren, Gedichten, Belletristik, Magazinen, der Presse sowie Vorträgen und Unterrichtsmaterialien verdeutlicht sie, dass es eine wahre Flut an Publikationen zum Thema gegeben hat. Die nicht-jüdische Öffentlichkeit sollte unter anderem zur Realisierung von zentralen Zielen jüdischer Organisationen mobilisiert werden: zur Versorgung und Emigrationshilfe für Holocaust-Überlebende in Europa (Gegenstand des dritten Kapitels) und dem Wachhalten des Wissens um das von Deutschen begangene Unrecht. So entkräftet Diner überzeugend Peter Novicks Behauptung, amerikanische Juden hätten sich feindselig gegenüber den Überlebenden verhalten. Ganz im Gegenteil: Nach Diners Befunden betrieben sie intensiv Fundraising sowie Erinnerungs- und Informationsarbeit. "Memorialization and assistance operated in tandem" (153).
Im vierten Kapitel widmet sich Diner der Wahrnehmung der frühen Bundesrepublik durch amerikanische Juden. Diese wollten den westdeutschen Staat nicht als Verbündeten im Kalten Krieg rehabilitiert, sondern als das "slaughter house" (216) verstanden wissen, in dem sechs Millionen Juden umgebracht worden waren. Dabei ging es nicht nur um eine eindeutige Schuldzuweisung, sondern auch darum, an die Toten zu erinnern und eine angemessene Sühne einzufordern. Bevor sie im letzten Kapitel auf die Stärkung der jüdischen Kultur in den USA - gleichsam als Kompensation für den Untergang des europäischen jüdischen Lebens - eingeht (323), zeigt Diner, wie amerikanische Juden unter Bezugnahme auf den Holocaust für eine Liberalisierung der amerikanischen Gesellschaft eintraten und Israels bedrängte Position in der Welt verteidigten.
Die Erörterung der Ursachen für die Etablierung des "myth of silence" verlagert Diner in die Schlussbetrachtung. Doch ihre Thesen, die sie als Anstoß für weitere Forschung verstanden wissen möchte, sind aufschlussreich und provokant. So argumentiert sie zum Beispiel, dass die sich ab den 1970er Jahren entwickelnde Holocaust-Erinnerungskultur alles zuvor Dagewesene in den Schatten gestellt habe - und so als nichtig erscheinen lasse. Gewichtiger ist jedoch ihre Anklage gegen jüdische Aktivisten der "Counterculture"-Bewegung der späten 1960er Jahre. In einer sich radikal verändernden Gesellschaft, die Abschied von "cultural pluralism" zugunsten von "identity politics" nahm, warfen diese ihrer Elterngeneration vor, zu wenig zur Rettung der europäischen Juden getan und später die Bedeutung des Holocaust für die amerikanisch-jüdische Identität vernachlässigt zu haben. In zahlreichen Polemiken und Anklageschriften behaupteten sie, den Holocaust neu "entdeckt" zu haben, und verfestigten damit den Vorwurf der Verdrängung und Vernachlässigung. Auf ihrem Marsch durch die religiösen, politischen und akademischen Institutionen konnte diese Generation ihre Interpretation der Geschichte - ohne entsprechendes Quellenstudium - so weit verbreiten, dass auch andere sie unhinterfragt übernahmen und sie zur "profoundly held communal orthodoxy about the past" (390) werden konnte.
Diners Befunde befinden sich im Einklang mit einem Trend in der Forschung, der deutliche Anzeichen für eine Beschäftigung mit dem Holocaust bereits im ersten Nachkriegsjahrzehnt sieht. [2] Manchmal hat man aber den Eindruck, dass sie die Breitenwirkung der jüdischen Bemühungen überschätzt. Als Beispiel, das Diner nicht in seiner gesamten Tragweite berücksichtigt, sei auf die Dissertation Raul Hilbergs von 1955 verwiesen, die er erst 1961 gegen zahlreiche Widerstände bei einem Verlag unterbringen konnte. [3] Zuvor, so kann man also annehmen, hätte es eben kein breites Publikum für dieses Werk gegeben.
Nichtsdestotrotz hat Hasia Diner ein überaus wichtiges und inspirierendes Buch geschrieben. Als außerordentliche Leistung muss die Präsentation von zahllosen neuen Details und Quellen über den amerikanischen Umgang mit dem Holocaust nach 1945 gelten. Zudem führt sie uns gekonnt vor Augen, wie scheinbar unumstößliche "Wahrheiten" Ergebnisse von (wissenschafts-)politischen Grabenkämpfen sein und wie sie zu Selbstläufern werden können. Kritisch mag man anmerken, dass Diner bisweilen deutlich Partei für die amerikanisch-jüdische Gemeinschaft der Nachkriegszeit ergreift und sich - was zu vielen Wiederholungen und zu einer wahren Flut von Belegen führt - an ihren Gegenspielern abarbeitet. Allerdings muss man ihr zugutehalten, dass sie aus ihrer Position keinen Hehl macht. Egal, wie man zu Fragen von Distanz und Empathie steht: Wer sich künftig mit amerikanisch-jüdischer Geschichte und der Holocaust-Erinnerung in den USA beschäftigt, wird an We Remember nicht vorbei kommen.
Anmerkungen:
[1] Peter Novick: The Holocaust in American Life, Boston 1999; Norman G. Finkelstein: The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering, New York 2000.
[2] Vgl. etwa die Beiträge von Harold Marcuse und Lawrence Baron in "AHR Forum: Representing the Holocaust", in: American Historical Review 115 (2010) H. 1, S. 26-122.
[3] Hilberg beschreibt die Widerstände gegen die Veröffentlichung seines Buches in The Politics of Memory. The Journey of a Holocaust Historian, Chicago 1996.
Jacob S. Eder