Cord Arendes: Zwischen Justiz und Tagespresse. »Durchschnittstäter« in regionalen NS-Verfahren (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 416 S., ISBN 978-3-506-77320-3, EUR 58,00
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Seitdem die Zeitgeschichte sich - nach längerer Abstinenz - für die Rechtsgeschichte zu interessieren begann, sind zahlreiche Arbeiten zur justiziellen "Aufarbeitung" der NS-Zeit erschienen, die sich mit den Prozessen zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auseinandersetzen. In diese Geschichtsschreibung reiht sich nun die Habilitationsschrift von Cord Arendes ein, dessen Erkenntnisinteresse insbesondere den "Täterbildern" gilt, die anhand von vier regionalen Fallbeispielen dargestellt werden.
Ein erstes Kapitel beschreibt Ergebnisse der Täterforschung und Täterbilder, skizziert die Presseberichterstattung als Quelle und stellt die vom Autor geschaffene Datenbank "NS-Verfahren in Baden-Württemberg" vor, bei der es sich im wesentlichen um eine Auswertung der - bekanntermaßen unvollständigen - Rüterschen Urteilssammlung "Justiz und NS-Verbrechen" handelt, die wiederum auf das regionale Spektrum reduziert wurde. Thematisiert werden in den folgenden vier Kapiteln ein sogenanntes Endphaseverbrechen - die Hinrichtung kapitulationswilliger Mannheimer wenige Stunden vor dem Eintreffen der Amerikaner -, das noch in der Besatzungszeit vor dem Mannheimer Landgericht abgeurteilt wurde, ein KZ-Verbrechen, das 1949 vor dem Landgericht Heidelberg verhandelt wurde, ein Prozess gegen Angehörige des volksdeutschen "Selbstschutzes" (in Mannheim) aus dem Jahr 1965 und ein Prozess zur nationalsozialistischen Partisanenbekämpfung in Slowenien aus dem Jahr 1984 (erneut in Heidelberg). Ein sechster Abschnitt fasst die Ergebnisse zusammen.
Vorweg sei gesagt, dass die Arbeit nicht wirklich überzeugen kann. Schon die Einleitung zeugt von einer seltsamen Ratlosigkeit des Autors, dem Publikum sein Anliegen nahezubringen, indem er in extenso die Verfahrensgeschichte des Demjanjuk-Prozesses und das Verfahren gegen Heinrich Boere aus dem Jahr 2009 referiert - augenscheinlich um eine tagesaktuelle Relevanz zu demonstrieren. Für Politikwissenschaftler mag dies von größerer Bedeutung sein - für Historiker ist dies nicht zwingend erforderlich. Bei der Auswahl der Fälle lässt sich Arendes von den publizierten Urteilen aus der Rüterschen Sammlung Justiz und NS-Verbrechen und der bekannten Chronologie (Besatzungszeit - frühe Bundesrepublik - Höhepunkt der NS-Prozesse in den 60er Jahren - später Prozess aus den 80er Jahren) leiten. Einerseits ist aber das auf Heidelberg und Mannheim begrenzte Sample außerordentlich und - angesichts der bequem verfügbaren Rüterschen Urteilssammlung - unmotiviert schmal, andererseits wird gleichzeitig versucht, die (westdeutsche) "Vergangenheitsbewältigung" insgesamt zu beschreiben, wobei stets auf einen größeren Rahmen verwiesen wird, der nur aus der Literatur gearbeitet ist, so dass sich der genuine Forschungsbeitrag des Autors der Rezensentin nicht erschließt. Im Gegenteil, es stehen sich zwei Komponenten quasi unmotiviert gegenüber: eine allgemeine, bereits bekannte - und vom Autor auch vergleichsweise undifferenziert aufbereitete - Geschichte der "Aufarbeitung" der NS-Verbrechen und andererseits eine auf höchst dünnem Material basierende regionale Variante derselben, die aber lediglich als wechselseitige Stichwortgeber korrespondieren. Kurz: der Autor kennt den allgemeinen Verlauf der "Aufarbeitung" und exerziert dies anhand des Samples durch, indem er das, was aus der allgemeinen Literatur bekannt ist, auf die regionale Ebene überträgt. Überraschungen kommen so natürlich nicht zustande. Der Leser erfährt einiges über das Internationale Militärtribunal (29ff.) oder das Wesen nationalsozialistischer Konzentrationslager (137) oder historische Fotografien (28), ohne dass das Kernthema des Buches - die Durchschnittstäter und die regionalen NSG-Verfahren - davon berührt wird. Über mehrere Seiten hinweg lässt sich der Autor über NS-Täterinnen in diversen Prozessen und ihre Darstellung durch die Medien aus, um dem überraschten Leser anschließend mitzuteilen, dass "als einziger Wehmutstropfen" (79) [sic, richtig wäre natürlich Wermutstropfen] kein einziger seiner Beispielprozesse weibliche Angeklagte aufweist. Allgemeine Belesenheit in allen Ehren - sachdienlicher (und benutzerfreundlicher) wäre es, sich auf das gewählte Thema zu konzentrieren. Es scheint, als ob dem Autor schon selbst klargeworden sei, dass die von ihm gewählten vier Fälle vielleicht doch kein ganzes Buch tragen. Quellengesättigte Studien sehen anders aus.
Konzeptionell ist ebenfalls einiges im Argen: so heißt es über NS-Verfahren, sie seien "formal [...] eher dem Drehbuch einer Serie" gefolgt (51), "Ankläger, Verteidiger, Angeklagte, Zeugen und sogar das Publikum" hätten ihre "klassischen Rollen" gespielt bzw. "kanonische Texte" vorgetragen, so dass die "Vorstellungen" auf der "Prozessbühne" langweilig und erwartbar gewesen seien. Zugegebenermaßen ist der Entertainment-Faktor von Gerichtsserien im Fernsehen höher. Für die Tatsache, dass die Standardisierung der Gerichtsförmigkeit (mit einhergehender Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit, die Einklagbarkeit der Einhaltung einer Strafprozessordnung) eine Errungenschaft des Rechtsstaates (und bei weitem keine Selbstverständlichkeit) darstellt, hätte man vom Autor mehr Verständnis erhofft. Ärgerlich sind einige üble Schnitzer, wie etwa die Behauptung, das "Huckepack"-Verfahren (Einstellung von 50% "belasteten" Juristen in den Justizdienst) habe es auch in der amerikanischen Zone gegeben (112) oder die Darlegung, "Euthanasie"-Verbrechen seien in die Zeit "vor 1939" gefallen (75). Auch der Sinn apodiktischer Formulierungen wie "In der NS-Täterforschung hat die (Zeit-)Geschichtswissenschaft den Status der 'Leitwissenschaft' inne" (18) bleibt obskur.
Methodisch ist es bedenklich, wenn Arendes zwar für seine Vorgehensweise auf die "dichte Beschreibung" des amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz rekurriert, andererseits aber den Gang in die relevanten Archive scheut und stattdessen lediglich die Ludwigsburger Unterlagen benützt, die tatsächlich nur eine Parallelüberlieferung zu den originalen Prozessakten des Mannheimer und Heidelberger Landgerichts darstellen. Hätte die Reise ins Generallandesarchiv nach Karlsruhe wirklich eine unbillige Härte dargestellt? Niemand wird bestreiten, dass Mikrostudien von NS-Prozessen hochinteressant sein können; dann hätte der Autor aber viel kreativer über Quellen nachdenken müssen. Wie positionierten sich die Besatzer, wie Opfergruppen, Vereine, politische Parteien, kommunale Gremien zu den Verfahren und Angeklagten und welche relevanten Dokumente - jenseits der Presseberichterstattung - sind hierbei vorhanden? Zu dem "Endphaseverbrechen" in Mannheim liegen beispielsweise amerikanische Stellungnahmen in den überörtlichen OMGUS- und den regionalen OMGWB-Akten [1] vor - beim Autor aber Fehlanzeige. Das Landtagsprotokoll der Sitzung, in der der Justizminister zu dem Fall Stellung nahm, ist dem Autor nur aus Zeitungsberichten bekannt - für eine Einsichtnahme in die (publizierten) Protokolle war der Forscherdrang nicht groß genug.
Um dem Autor nicht unrecht zu tun: Sein Interesse gilt vor allem der Presseberichterstattung. Der Band legt dabei Zeugnis von einer intensiven Zeitungslektüre wichtiger deutscher Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine ab. Allerdings ist das Ergebnis ein erwartbares: Die Journalisten der ausgewählten (regionalen) Zeitungen waren in der Regel keine ausgewiesenen Gerichtsreporter, sondern "Wald-und-Wiesen"-Zeitungsmacher, die am einen Tag über einen NS-Prozess, am anderen über völlig andere Themenkomplexe berichteten. Entsprechend unspezifisch war die Berichterstattung. Dass dies zu keiner differenzierten Betrachtung und Portraitierung von NS-Tätern führt, stand eigentlich von Anfang an fest. Die Frage ist nur: warum tut sich der Autor das (und seinen Lesern) an?
Wissenschaftspolitisch reißt immer mehr die Sitte ein, als - wie es Heinrich Heine in anderem Zusammenhang nannte - "Entreebillet" für die akademische Welt herausragende Dissertationen zu verfassen, während die Habilitation ein oft unter Zeitdruck entstandenes Werk minderer Bedeutung zu werden droht. Es sind in den vergangenen Jahren von Doktorandinnen und Doktoranden wichtige Werke vorgelegt worden, die sich in mühsamer serieller Kleinarbeit durch Dutzende von Prozessen in Archiven gequält haben, weitere Arbeiten stehen vor der Publikation. [2] Wenn bereits die erste größere Qualifikationsarbeit ein so hohes Niveau erreicht, sollte es für den Verfasser einer Habilitation ein selbstverständlicher Ansporn sein, diese zu übertreffen. Hier scheint es, als sei der Autor hinter diesen Anspruch zurückgefallen. So dankt er dem Betreuer der Habilitation, der ihn "immer wieder an die Bedeutung des zweiten Buches erinnert" (415) habe - vielleicht hätte sich der Verfasser dies doch etwas mehr zu Herzen nehmen und in mehr Mühe in den Inhalt investieren sollen.
Anmerkungen:
[1] Böse-Case, NARA, OMGUS 17/201 - 1/1; NARA, OMGWB 12/137 - 1/2; NARA, OMGWB 12/140 - 1/1-20.
[2] Beispielsweise Regina Maier: NS-Kriminalität vor Gericht. Strafverfahren vor den Landgerichten Marburg und Kassel 1945-1955, Darmstadt / Marburg 2009; Peter Bahlmann: Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wiederaufbau der Justiz und frühe NS-Prozesse im Nordwesten Deutschlands, unveröffentlichte Dissertation Oldenburg 2008; weitere Arbeiten von Sven Keller zu Verbrechen der "Endphase" und Petra Schweizer-Martinschek zur Ahndung der "Euthanasie" in Ostdeutschland sind abgeschlossen.
Edith Raim