Linda Lucia Damskis: Zerrissene Biografien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung, München: Allitera 2009, 255 S., ISBN 978-3-86906-053-8, EUR 14,90
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Es ist die Ausnahme, dass eine Magisterarbeit gedruckt wird. Sie verdankt es neben eigenen Qualitäten ihrer renommierten wissenschaftlichen Umgebung und dem starken Interesse der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Damskis legt eine Studie vor, die den Lebensschicksalen jüdischer Ärzte in Bayern erstmals umfassend, nämlich einschließlich der Vor- und Nachgeschichte über die NS-Zeit hinaus, nachgeht. Hierbei weiß sie sich den Forschungsarbeiten des Münchner Forschungsprojekts zur Finanzverwaltung und Verfolgung der Juden in Bayern [1], insbesondere den Arbeiten von Axel Drecoll [2], verpflichtet. Unter den teilweise Benutzungsbeschränkungen unterliegenden Quellen sind die Münchner Finanzakten (Steuer-, Devisen-, Entziehungsakten), die Akten des Landesentschädigungsamts und das Archiv des Deutschen Ärzteblatts hervorzuheben.
Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert: Jüdische Ärzte vor der Verfolgung, die Folgen der "Machtergreifung" in Bayern, Emigration, Überleben in Deutschland und Deportationsopfer, Remigration nach 1945, Wiedergutmachung aus der Sicht der Betroffenen, gefolgt von einer zusammenfassenden Schlussbetrachtung. Der Anhang enthält Biogramme der elf näher vorgestellten Mediziner, eine Auflistung von 431 jüdischen Ärzten einschließlich Zweifelsfällen in München, Nürnberg und Würzburg, den üblichen Apparat und ein Personenverzeichnis.
Die transparente Entfaltung des Problemhorizonts ermöglicht die Einordnung der differenzierten Lebensschicksale. Auf das Drängen der akkulturierten jüdischen Minderheit in die freien Berufe, worunter die Ärzte quantitativ hervorragten, reagierte der NS-Staat mit wirtschaftlicher Verdrängung, so dem Entzug der Kassenzulassung ab 1933 und der Approbation 1938. Die persönlichen Auswirkungen beschränkten sich nicht auf die NS-Zeit, sondern hielten oft Jahrzehnte lang an, und zwar sowohl bei den verbliebenen und den wenigen zurückgekehrten Emigranten als auch bei den Wiedergutmachungsfällen, womit, auch aufgrund des mäßigen Beistandes der Standesorganisationen, ambivalente Erfahrungen gemacht wurden. Da die Nationalsozialisten den Wert des Ärztestandes biologistisch überhöhten, indem sie ihm die Erhaltung des rassistisch geprägten "gesunden Volkskörpers" oder seine Herstellung durch Bekämpfung der "Volksschädlinge" überantworteten, betrieben sie seine "Reinigung" von "fremdvölkischen" Elementen.
Die Auswahlkriterien der vorgestellten Biografien werden schlüssig erläutert. Eine wünschenswerte Quantifizierung konnte nicht realisiert werden, da der prosopografische Aufwand für die - insgesamt 420 beziehungsweise 431 - Fälle aus den Städten München, Nürnberg und Würzburg den Rahmen einer Magisterarbeit gesprengt hätte. Selbst bei den elf exemplarisch behandelten Biografien war in vier Fällen die Religion nicht zu ermitteln. Die Auswahl erfolgte daher nach praktischen Erwägungen. Weil Repräsentativität nicht zu erzielen war, setzte die Arbeit sich das realisierbare Ziel, "das Spektrum an Auswirkungen der NS-Verfolgung für jüdische Ärzte zu ergründen." (14)
Die Biografien in fünf der sechs Hauptkapitel machen rund die Hälfte des laufenden Textbestandes aus. Die lokale Verteilung ist ungleichgewichtig: Vier Fälle aus München, sechs aus Würzburg und Umgebung, einer aus Nürnberg. 61 Abbildungen illustrieren die biografischen Passagen.
Die Biografien zeichnen ein möglichst breites Berufsspektrum von praktischen und Fachärzten, Leitern und Mitarbeitern von Universitäts- und Privatkliniken, zudem zwei Fälle der verweigerten Approbation. Damskis' Paradebeispiel, der Münchner Sanitätsrat Dr. Alfred Haas, emigrierte nach dem Verkauf seiner chirurgischen und Röntgenklinik 1937 in die USA, baute eine erfolgreiche Praxis auf, blieb dort und bekam 1951 seine Münchner Klinik zurückerstattet. Sein Schicksal wird thematisch auf drei Kapitel verteilt dargestellt, wofür außer den oben genannten Quellen ein ergiebiger Privatnachlass im Stadtarchiv München herangezogen wurde. Ein Gegenbeispiel ist der Kinderarzt Dr. Erich Benjamin, der sein Kindersanatorium und Erziehungsheim Zell-Ebenhausen zur weltweit ersten Anstalt für schwererziehbare und verhaltensauffällige Kinder ausbaute. Nach einem wechselvollen Schicksal ab 1933 verkaufte er seine Klinik - inzwischen nur für jüdische Kinder - an das bayerische Rote Kreuz. Im Anschluss an die Reichspogromnacht emigrierte er in die USA, konnte aber nur noch ansatzweise medizinisch Fuß fassen. Hier wie anderswo zeigen sich sachlich begründete Unsicherheiten, da nicht abschließend zu klären war, ob er sich 1943 das Leben nahm.
Die schützende Funktion der "Mischehe" wird am Beispiel des Würzburger Arztes Dr. Hans Ikenberg deutlich, dessen Auswanderungsversuche durch den Kriegsbeginn scheiterten. Er wirkte nach Entziehung der Approbation 1938 als "Krankenbehandler" ausschließlich für jüdische Patienten und überlebte trotz Denunziationen und Verfolgung in Würzburg. Der andere Fall einer "Mischehe" betraf den von Geburt an evangelisch getauften außerordentlichen Professor und Oberarzt an der HNO-Klinik der Universität Würzburg, Dr. Max Meyer, der 1935 an das Staatskrankenhaus in Ankara, 1941 an die Universität Teheran berufen wurde. 1947 erhielt er einen Ruf an die Universität Würzburg, deren Rektor er wurde.
Ein engagierter Vertreter jüdischer Interessen und Versöhner war der 1933 als Münchner Schul- und Fürsorgearzt entlassene Kinderarzt Dr. Julius Spanier, der in München nach 1945 nicht nur beruflich erfolgreich wirkte. Er übernahm den Vorsitz des bayerischen Landesverbandes der jüdischen Gemeinden und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Dass die Münchner Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit als erste in Deutschland zum Präzedenzfall für die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten gegründeten Gesellschaften wurde, übergeht Damskis.
Wie disparat die Erfahrungen mit der Entschädigung und der Wiedergutmachung, ein von der Autorin kritisch reflektierter Begriff, sein konnten, zeigt der Fall des Nürnberger praktischen Arztes Dr. Max Schmeidler, der im Gegensatz zu den vorbenannten Fällen bis 1974, bis in das Alter von 83 Jahren, "kampfesmüde" (11), auf die Gewährung seiner Berufsschadensrente warten musste.
Überraschend sind Damskis' Angaben, in München, der "Hauptstadt der Bewegung", sei man mit der jüdischen Minderheit, speziell den Ärzten, liberaler umgegangen als im übrigen Deutschland (88), und auch nach 1945 seien die Münchner Ärzte nicht antisemitisch eingestellt gewesen (169), Aussagen, mit denen sie sich auf Drecolls Forschungen bezieht.
Es liegt auf der Hand, dass die geringe Anzahl näher untersuchter Ärztebiografien das Spektrum der Verfolgung nicht in vollem Umfang spiegelt. Ein besonderer Wert liegt dennoch in diesen Biografien, die der abstrakten Analyse Gesichter geben. Aufgrund ihrer guten Lesbarkeit bietet Damskis' Studie sich als Einstieg in die Auseinandersetzung mit den Verfolgungsschicksalen jüdischer Ärzte an.
Anmerkungen:
[1] Vgl. den Projektbericht von Hans Günter Hockerts u.a. (Hg.): Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern, München 2004.
[2] Axel Drecoll: Der Fiskus als Verfolger. Die steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern 1933-1941/42, München 2009.
Horst Sassin