Mark Mazower: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009, VII + 236 S., ISBN 978-0-691-13521-2, GBP 16,95
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Was bedeutet es eigentlich, dass ein vermeintlich moralisch unantastbares Dokument wie die Präambel der UN-Charta von einem Rassisten, dem ehemaligen südafrikanischen Premier Jan Smuts, geschrieben wurde? Diese verstörende Frage bildet den Ausgangspunkt von Mark Mazowers Buch, das aus den Lawrence Stone Lectures 2007 an der Princeton University hervorgegangen ist und in den USA schon für Diskussionen sorgte. [1] Mazower macht damit erneut auf dunkle Seiten eines scheinbar glänzenden Projektes aufmerksam, indem er die Verbindung von Kolonialismus und Internationalismus betont. [2]
Er zeichnet den Aufstieg und Fall eines liberal-imperialen Internationalismus nach, für den der Bezug zum Empire als Muster internationaler Zusammenarbeit, zum Völkerrecht als Regulierungsinstanz und zu Zivilisation als Missionsaufgabe konstitutiv war. Anhand der fünf "Schlüsselfiguren" Jan Smuts, dem politischen Theoretiker Alfred Zimmern, den jüdischen Intellektuellen Raphael Lemkin und Joseph Schechtman sowie dem ersten indischen Premier Jawaharlal Nehru und deren Ideen zeigt Mazower unterschiedliche Elemente dieser Internationalismus-Konjunktur von ihrem Beginn bis zu ihrer Verdrängung durch einen neuen Internationalismus, der sich in den Vereinten Nationen schließlich manifestierte.
Zwei Annahmen über die Gründung der Vereinten Nationen legt Mazower seiner Arbeit zugrunde. Erstens sei das Verhältnis zwischen Völkerbund und Vereinten Nationen eher als Kontinuität denn Bruch zu verstehen und zweitens sei die Gründung keine rein amerikanische Angelegenheit gewesen.
Mazower geht es nicht um eine umfassende Gründungsgeschichte der UN. Vielmehr versucht er einen vernachlässigten, aber seiner Meinung nach wichtigen Aspekt ihrer Ideengeschichte in den Mittelpunkt zu rücken, der ihn weg von einer amerikanischen Perspektive und hin zum britischen Empire bringt. Die Gründung der UN müsse in einer längeren Tradition von Versuchen internationaler Kooperation kontextualisiert werden, die mit der Errichtung des Commonwealth of Nations einsetze. Vor allem die Biographie von Jan Smuts dient Mazower dabei als Verbindungslinie vom Commonwealth über den Völkerbund bis zu den Vereinten Nationen. Bei all diesen Zusammenschlüssen trat Smuts als treibende Kraft auf. [3] Internationale Kooperation sei für Smuts deshalb nicht nur attraktiv, sondern notwendig gewesen, weil der aufkeimende Nationalismus der Weißen in den Siedlerkolonien eine desintegrierende und damit schwächende Kraft für das Empire dargestellt habe. Der Zusammenschluss des Commonwealths ermöglichte somit in Smuts' Lesart eine herrschaftsstabilisierende, weil integrierende Funktion für den Kolonialismus und sicherte damit das Überleben der "Zivilisation". Die Commonwealth-Idee habe dann für Smuts, aber auch für Alfred Zimmern, der den einflussreichen britischen Entwurf für den Völkerbund schrieb, als Blaupause für eben diesen gebildet, weil das Commonwealth einen Internationalismus ohne Standardisierung und Entnationalisierung anbot und nicht auf einem Zentralstaat als Zentrum oder einer Verfassung basierte, sondern aus ihrer Sicht auf einer "zivilisierten" Wertegemeinschaft. Ein über das Commonwealth hinaus gehender Verbund war für Smuts und andere imperiale Internationalisten deshalb notwendig geworden, weil die globale Machtverschiebung durch den Aufstieg der USA auch dem Erhalt des Kolonialismus dienen sollte.
Der Zweite Weltkrieg habe dann dem liberal-imperialen Internationalismus den Todesstoß versetzt, ohne dass dies seinen Befürwortern gleich deutlich wurde. Anhand der Kapitel zu Lemkin, Schechtman und Nehru wird der Fall dieses Internationalismus und der Aufstieg eines neuen nachgezeichnet. Die UN wurden dabei auf einer Schwelle errichtet: Einerseits von einigen Gründern noch als Instrument für die Stabilisierung des Kolonialismus gedacht, seien sie flexibel genug gewesen, um sich dem zunehmend antikolonial werdenden Zeitgeist anzupassen und schließlich zu einem Instrument der Entkolonisierung zu werden. Die Kehrseite dieser Flexibilität der UN und des neuen Internationalismus sieht Mazower in geringerer Wertschätzung und Relevanz von Völkerrecht und internationalen Institutionen überhaupt. Dies habe sich auch im Umgang mit Minderheiten gezeigt. [4] Während der Völkerbund für diese - jedenfalls in bestimmten Gebieten - einen rechtlichen Schutz formulierte, wurde dies von der Nachkriegsordnung als funktionsunfähig zurückgewiesen. Es setzte sich die Auffassung durch, dass die Lösung des "Minderheitenproblems" nur im Bevölkerungsaustausch zu finden sei. Der neue Internationalismus, der sich nach 1945 durchsetzte, zeichnete sich demnach durch ein geringeres Maß an utopischem Idealismus aus und inszenierte sich als Realismus, der internationale Politik rein als Machtpolitik verstand, die sich von der Idee der Zivilisation verabschiedete hatte. An die Stelle des Empire sei der homogene Nationalstaat als universelles Instrument und eine schwache internationale Ordnung mit schwachem Völkerrecht getreten.
Grundsätzlich geht es Mazower auch um die methodische Frage, wie Historiker mit utopischen Visionen in der internationalen Politik umgehen können. Bisher habe Wissenschaft versagt, diese analytisch zu fassen. Entweder blieben sie ein theoretischer Blindfleck wie in politikwissenschaftlichen Ansätzen der Internationalen Beziehungen oder die Rhetorik der utopische Visionen sei wörtlich genommen und auf diese Weise mit Erwartungen aufgeladen worden, die den Erwartungshorizont der Zeitgenossen bei weitem überstiegen. [5]
Was Mazower nun im Umgang mit Visionen anbietet, ist ihre genaue, kritische Kontextualisierung, die auch offen für Ambivalenzen ist, verschiedene Motivlagen berücksichtigt und damit Idealismus als wirklichkeitsstrukturierendes Muster ernst nimmt.
Doch wie genau lassen sich solche Visionen wiederum mit eher klassischen Fragestellungen der Diplomatiegeschichte nach Entscheidungsfindung etc. verbinden? An den wenigen Stellen, wo Mazower versucht, seine personenzentrierte Ideengeschichte mit politischen Entscheidungen zu verbinden, ist das Buch am schwächsten. So argumentiert Mazower z. B., dass Wilson bei seinem Entwurf des Völkerbundes auf Smuts Vorschläge zurückgegriffen habe, weil Wilson "did not know exactly what he wanted" (44).
Des Weiteren bleibt unklar, welcher Status den Ideen von Smuts und anderen "Schlüsselfiguren" zukommt. Immer wieder wird behauptet, dass es sich um die wichtigsten Denker auf ihrem Gebiet in ihrer Zeit handele. Doch inwiefern waren diese Ideen in eine Praxis des Internationalismus eingebunden und welche Gegenkräfte gab es? Kann man die Vereinten Nationen wirklich als koloniales Projekt verstehen, weil die Präambel von einem rassistischen Empire-Befürworter geschrieben wurde? Die Schlüsselfiguren und ihre Ideen hätten eine noch genauere Einordnung gut vertragen. Was Mazowers Ideengeschichte allerdings leistet, ist vor allem eine Historisierung des Nachdenkens über internationale Ordnung und damit bietet das Buch auch einen wichtigen Ansatzpunkt für eine Geschichte der Disziplin der Internationalen Beziehungen.
Mark Mazower hat ein verstörendes Buch über die Gründung der Vereinten Nationen geschrieben, das ein wichtiges Gegengewicht zu den bisher erschienenen euphorischen Erfolgsgeschichten bildet. Ihm ist damit auch eine Historisierung der normativen Grundlagen von Internationalismus geglückt, die der gegenwärtigen Diskussion um die Reform der Weltgemeinschaft historische Tiefenschärfe gibt, in der bisher allzu naiv die Gründungsideale der UN als normativer Maßstab fungierten. Man darf auf sein nächstes "großes" Buch gespannt sein, das sich laut Ankündigung erneut mit der Geschichte des Internationalismus beschäftigen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Roundtable-Review von H-Diplo, http://www.h-net.org/~diplo/roundtables/PDF/Roundtable-XI-47.pdf (Januar 2011).
[2] So betrachtet Mazower die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert als die eines dunklen Kontinents, vgl. Mark Mazower: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.
[3] Vgl. auch Saul Dubow: Smuts, the United Nations and the Rhetoric of Race and Rights, in: Journal of Contemporary History 43,1 (2008), 45-74.
[4] Vgl. Mark Mazower, The Strange Triumph of Human Rights, 1933-1950, in: The Historical Journal 47,2 (2004), 379-398.
[5] Vgl. dazu z.B. Paul Kennedy: Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, München 2007, wo die visionäre Sprache sogar zum Maßstab der Beurteilung der UN gemacht wird.
Florian Hannig