Jeremy Black: The Battle of Waterloo. A New History, Cambridge: Icon Books 2010, XV + 239 S., ISBN 978-1-84831-155-8, GBP 14,99
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Es gibt Rezensionen, bei welchen zunächst - und meist ausführlich - Inhalt, Anliegen und Notwendigkeit der vorliegenden Studie ebenso detailliert eingeführt und vorgestellt werden müssen, wie Person, Kompetenz und Seriosität des Autors. Für den hier anzuzeigenden Band erübrigt sich beides: Die Schlacht von Waterloo ist selbst dem nur entfernt mit der Materie Vertrautem hinlänglich bekannt, sie gehört zu den ganz wenigen universal - also nicht nur von Militärhistorikern, Epochenspezialisten oder Lokal-Patrioten - hervorgehobenen singulären Schlachtenentscheiden, welche unangefochten ihren Platz in der Historiographie beanspruchen können. Jeremy Black andererseits ist nicht nur jedem, der mit der Geschichte des Ancien Régime [1], vertraut ist, sowie jedem, der sich auch nur partiell für Militär- [2] oder Diplomatiegeschichte [3] interessiert, mehr denn wohlbekannt - sein in Umfang wie Breite schier unglaubliches, stets auf höchstem Niveau sich präsentierendes Schrifttum zu all diesen Gebieten weist ihn als eine der unumstrittenen Koryphäen in all den erwähnten Disziplinen und Teilbereichen aus. Ein Aufeinandertreffen der beiden Giganten - Sujet und Bearbeiter - verheißt also viel und, so viel sei schon zu Beginn verraten, der Leser wird nicht enttäuscht.
Allerdings könnte der einigermaßen beschlagene Interessierte einwenden, eben gerade angesichts der übermäßigen Bekanntheit der Wahlstatt zu Waterloo sei die Notwendigkeit eines neuen Buches eigentlich mehr denn zweifelhaft, es sei denn aus Gründen einer - in der Tat nicht seltenen - Profilierungssucht gefragter Autoren bezüglich der Allumfassendheit ihrer Kompetenz. Nun - schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis und die ersten Seiten des vorliegenden Bandes genügen, diese Anfangsbedenken zu zerstreuen. Jeremy Black begreift Waterloo nämlich nicht als das singuläre Einzelphänomen im Sinne des 'schicksalhaften Augenblicks' eines geniegläubigen 19. Jahrhunderts, sondern versucht vielmehr den Waffengang in die Zeit-, Geistes-, Ideen- und Militärgeschichte seiner Epoche einzuordnen und aus diesen Elementen heraus begreifbar zu machen.
Sinnvollerweise beginnt dies mit einer Untersuchung der europäischen Kriegführung zu Ende des Ancien Régime, vor deren Hintergrund dann sowohl das Neue, Herausfordernde und Unerhörte der Revolutionszeit ebenso verständlich wird wie das Phänomen Napoleon. Im Schatten dieser meist bekannten, von Black allerdings oft verblüffend neu gesehenen und mit kenntnisreichen Details kommentierten Entwicklung kommt im Allgemeinen der militärische wie politische und diplomatische counterpart dieser Dynamiken, das Vereinigte Königreich und seine Armee zu kurz - ein bedauerlicher Umstand, welchem kürzlich zwar durch das meisterhafte Werk von Robert Holmes teilweise abgeholfen wurde [4], der sich aber trotzdem immer noch - und wohl auf Jahre hinaus - findet und finden wird. Black beugt dem durch seine gekonnte Auflistung der unterschiedlichen Gegebenheiten der beiden Systeme und ihrer Streitkräfte vor und bereitet so die Bühne für das große Ereignis der großen Schlacht, ja des großen vermeintlichen Armageddon von Revolution und Empire vor.
Diese selbst, also die Schlacht im engeren Sinne, erfährt sodann eine durchaus kongeniale, scharf analysierende Darstellung, welche alle Elemente der klassischen wie modernen Militärgeschichte glücklich und ohne methodische Scheuklappen - in beide Richtungen! - vereint. Schließlich sollte man jedem mit der Materie Beschäftigten auch ein Mindestmaß an einschlägiger fachlicher Kompetenz zumuten dürfen, beziehungsweise sollen die gerechten Ansprüche an ein Buch, welches nun einmal eine Schlacht zum Gegenstand hat, auch die fachspezifische Aufarbeitung erfahren dürfen. Oder - um es in Blacks eigenen unverwechselbaren Worten und in seiner Argumentation auszudrücken: "Those who read a book on Waterloo want to hear of battle, not rail timetables, and it is to this we must turn" (XIII). Die drei (von insgesamt elf) der Schlacht an sich gewidmeten Kapitel werden ergänzt und bereichert durch eine abschießende Analyse des militärischen Aspektes, und die hierbei gewonnenen Erkenntnisse zielen weit über den zugrundeliegenden Anlass an sich hinaus. Blacks Apologie der siegreichen Defensivtaktik etwa ließe sich bis heute nicht nur in historischen Zirkeln als Lehrbuch verwenden ...
Bis hierhin bewegt sich die Studie auf den Bahnen des Gewohnten - dies sowohl hinsichtlich des Sujets wie auch der bekannten Meriten des Verfassers. Die nun folgenden drei Kapitel hingegen leisten die grundlegende und von einigen wenigen Einzelstudien abgesehen bislang eher unterberücksichtigte Arbeit einer Einordnung des Phänomens Waterloo. [5] Dies geschieht hier in den angedeuteten drei Schritten: zunächst die unmittelbare Folgegeschichte, sodann der Einfluss der Schlacht auf die Militärgeschichte des 19. Jahrhunderts und schließlich - und am wichtigsten - deren Symbolwirkung für die Folgezeit, mit anderen Worten also eine Standortbestimmung. Black schafft es hier, die bereits im Vorwort angesprochene Fülle von Referenzen vor allem der Viktorianischen Epoche gekonnt kultur- und mentalitätsgeschichtlich zu erfassen und dem Leser in stringenter Logik darzulegen. Er erklärt den Mythos Waterloo aus der Zeit heraus und schlägt so die Brücke von 1815 über das 19. Jahrhundert zu jenem unbestimmten Heute, welches die Fülle der angesprochenen Monumente zumeist als disparate Elemente eines oft seltsam undefinierten National Heritage begreift. Darin liegt die herausragende Leistung des Bandes - dass es dem Verfasser gelingt, über das rein Militärische, Strategische, ja sogar über das rein Britische hinaus umfassende Funktionalitäten und Mechanismen eines Mythos und seiner Geschichte sichtbar werden zu lassen.
Diese wenigen Ausführungen mögen genügen, den im Untertitel des Werkes aufscheinenden Anspruch von "Waterloo - a New History" zu rechtfertigen. Jeremy Black ist es wieder einmal gelungen, in einem im Umfang von 217 Textseiten nicht allzu umfangreichen Band eine klassische wie neuartige Sichtweise auf einen scheinbar bekannten Gegenstand geliefert zu haben.
Natürlich wird dieses Werk manch vorausgehende Einzelstudie - besonders jene zu dem noch immer nicht genug bekannten Duke of Wellington [6] - nicht ersetzen können und wollen. Wer sich allerdings in Zukunft, aus welchem Grunde auch immer, mit Waterloo und den damit verbundenen Fragen beschäftigen möchte, sei er Student, Historiker, Stratege, Politikwissenschaftler oder 'einfach nur' historisch Interessierter - er sollte zuerst zu Blacks Werk greifen, das nicht nur Referenz- und Vorbildcharakter beanspruchen kann, sondern durch seinen angenehmen Stil, seine Epochen überspannende analytische Brillanz sowie durch einen auf das fachlich Nötige reduzierten Begleitapparat wirklich Jedermann zugänglich ist.
Anmerkungen:
[1] Aus den zahlr. Veröffentlichungen Blacks seien nach Betreffen nur hervorgehoben - für das 18. Jahrhundert: Jeremy Black: Eighteenth Century Europe 1700-1789, New York 1990; Ders.: British Politics and Society from Walpole to Pitt, 1742-1789, Basingstoke u.a. 1990; Ders.: From Louis XIV to Napoleon - the Fate of a Great Power, London 1999; Ders.: A Dictionary of Eighteenth-century History, London 2001; Ders.: War for America - the Fight for Independence, 1775-1783, Stroud 1991 (²2001).
[2] Jeremy Black: Warfare in the Eighteenth Century, London 2002 [dt. ]; Ders.: Western Warfare 1775-1882, Chesham 2001; Ders.: War in European History 1660-1792, Washington 2009.
[3] Jeremy Black: British Foreign Policy, 1727-1731, London 1982; Ders.: British Foreign Policy in an Age of Revolutions 1783-1793, Cambridge 1987; Ders.: Trade, Empire and British Foreign Policy 1689-1815 - the Politics of a Commercial State, London 2007; Ders.: A History of Diplomacy, London 2010.
[4] Richard Holmes: Redcoat - the British Soldier in the Age of Horse and Musket, London 2001.
[5] Vgl. Josef J. Schmid: Waterloo - eine Standortbestimmung, in: Ders. (Hg.): Waterloo, 15. Juni 1815. Geschichte einer europäischen Schlacht, Bonn 2008, 17-55.
[6] Neben den klassischen Werken Longfords sei hier vor allem verwiesen auf: Norman Gash (Hg.): Wellington: Studies in the Military and Political Career of the First Duke of Wellington, Manchester 1990; Richard Holmes: Wellington - the Iron Duke, London 2002.
Josef Johannes Schmid