Rezension über:

Vera Kallenberg: Von "liederlichen Land-Läuffern" zum "asiatischen Volk". Die Repräsentation der 'Zigeuner' in deutschsprachigen Lexika und Enzyklopädien zwischen 1700 und 1850. Eine wissensgeschichtliche Untersuchung (= Zivilisationen & Geschichte; Bd. 5), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, 161 S., ISBN 978-3-631-59260-1, EUR 32,80
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Rezension von:
Anja Lobenstein-Reichmann
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Anja Lobenstein-Reichmann: Rezension von: Vera Kallenberg: Von "liederlichen Land-Läuffern" zum "asiatischen Volk". Die Repräsentation der 'Zigeuner' in deutschsprachigen Lexika und Enzyklopädien zwischen 1700 und 1850. Eine wissensgeschichtliche Untersuchung, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/03/19101.html


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Vera Kallenberg: Von "liederlichen Land-Läuffern" zum "asiatischen Volk"

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"In dem monologischen Diskurs, den die Mehrheitsgesellschaften seit der Einwanderung der Sinti und Roma in Europa am Ende des Mittelalters geführt haben, geht die Definitionsmacht ausschließlich von der Mehrheit aus", schrieb Stefani Kugler 2004. [1] Um "Definitionen" und ihre Macht geht es auch Vera Kallenberg. Sie untersucht die gesellschaftliche Konstruktion der "Zigeuner" in Werken kollektiven Wissens oder, wie sie selbst es formuliert, "die Rekonstruktion des lexikalischen Zigeunerdiskurses im Medium deutschsprachiger Lexika und Enzyklopädien zwischen 1750 und 1850" (132). Das Duden Fremdwörterbuch definiert Lexikon als ein: "alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk zur raschen Orientierung über alle Gebiete des Wissens oder für ein bestimmtes Sachgebiet". Mit dieser Definition wird nicht reflektiert, inwieweit es tatsächlich um Wissen gehen kann beziehungsweise dass 'Wissen' immer nur relativ zu lesen ist und unter vielen zeithistorischen Brechungen steht. Dennoch greifen die Leser von Lexika bis zum heutigen Tage deshalb auf diese Textsorte zu, weil sie unterstellen, hier das Wissen der Welt dargestellt zu finden.

Zur Brisanz der Frage seien zwei Aussagen zitiert, wie sie zum Stichwort Zigeuner in Johann Hübner's Zeitungs- und Conversations-Lexikon in den verschiedenen Auflagen zu lesen sind. So lautet die Erläuterung im Jahre 1706 (1822), Zigeuner seien "eine Art Liederlicher Land-Läuffer", während sie 1828 (1021) in der 31. Auflage als "ein ursprünglich asiatische[s] Nomadenvolk" bezeichnet werden, "das man in Europa in vielen civilisirten Staaten ausgetrieben hatte. Oder zur Civilisation über zu gehen zwang". Mit diesen Zitaten ist die Relevanzfrage angedeutet, aber auch die Frage- und Zielstellung der von Vera Kallenberg vorgelegten corpusbasierten Untersuchung (zum Beispiel zu Zedler, Krünitz, Brockhaus, Jablonksi, Pierer, Hübner). Es geht ihr um die spezifischen Zigeuner-Konstitutionen in den Enzyklopädien einer bestimmten Zeit und um deren Wandel über die Zeit hinweg. Beiläufig sei zu bedenken gegeben, dass die Titelformulierung "Repräsentation der Zigeuner" eine Existenzpräsupposition enthält, deren Berechtigung durchaus hinterfragbar wäre.

Zunächst zur Relevanzfrage. Werke kollektiven Wissens stellen eine Form der Institutionalisierung und Implementierung von Informationen dar, die gemeinhin als gesichertes Wissen angesehen werden, letztlich aber zumeist nur Spiegel einer gerade üblichen gesellschaftlichen Denkweise sind. Während diese Denkweise bei einer Erläuterung zum Stichwort Lexikon unproblematisch ist, ist sie bei der gesellschaftlichen Konstruktion von 'Zigeuner' und damit des Wissens über all diejenigen, die mit diesem Nomen bezeichnet werden, gesellschaftspolitisch und ideologisch hochbrisant. Das in einem Lexikon verzeichnete "Wissen" hat daher nicht nur informierenden Charakter, es ist alltagsorientierender, normierender, kanonisierender und ideologiekonstituierender Art. Werke kollektiven Wissens sind in diesem Sinne Sozialisationsmedien, da sie an der sprachlichen Inhaltsbildung und damit auch an der Begriffs- und Sachgliederung des öffentlichen Raumes teilhaben. Sie sind Kulturspeicher, Kulturvermittler, Kulturträger und -überträger sowie Kulturbildner. Untersuchungen wie die von Vera Kallenberg greifen daher direkt auf die in einer bestimmten Epoche üblichen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Sozialisierungsprozesse zu, zeichnen deren Wandel in der lexikontypischen Form komprimiert nach und spiegeln somit gesamtgesellschaftliche Prozesse.

All dies gelingt der Autorin. Sie zeigt, dass die mit dem Stichwort Zigeuner bezeichneten Gruppierungen in einem ersten Untersuchungszeitraum von 1700 bis 1780 "pars pro toto für migrierende Gruppen[standen], die als besonders kriminell und die Sicherheit gefährdend eingestuft wurden" (14). Der ordnungspolizeiliche Duktus in den Enzyklopädien wie in den Rechtstexten der Zeit unterstreicht die regelhafte Einordnung als Vagabunden und liederliche Land-Läuffer (siehe oben), obwohl durch den Herkunftsmythos aus Ägypten durchaus auch die Lesart des schutzbedürftigen Pilgers möglich gewesen wäre. Deutlich wird, dass sich die diskriminierende Kriminalisierung schon von Beginn an durch die Enzyklopädien zieht. Zur Sattelzeit um 1800 lässt sich, so die Verfasserin, mit dem Aufkommen des "modernen" wissenschaftlichen Denkens (Anthropologie, Sprachwissenschaft) in den Lexika zum einen die Ethnisierung der Zigeuner und zum anderen die Zwangspädagogisierung nachzeichnen (15). Das Stichwort Zigeuner ist von nun an keine soziale Kategorie mehr, sondern ein ethnisches Konzept (97). Die Verortung in Asien (siehe oben), damit auch die neue ethnisierende Herkunfts- und Ursprungsthese basiert auf dem indogermanistischen Vergleich der "Zigeunersprache" mit dem Hindustani, wobei zeittypisch von der Sprache auf deren Sprechergemeinschaft und schließlich auf die Existenz eines Volkes geschlossen wurde. Der Weg von der Feststellung eines Volkes hin zu einem unterstellten Volkscharakter und damit zu einer "Ethnie, die qua Herkunft zum Verbrechertum neige" (Iris Wigger, zitiert nach Kallenberg 16), und später zur Rasse war vorgezeichnet. Ebenfalls zeittypische Pädagogisierungsbemühungen mussten bei einem solchen Denkduktus zwangsläufig scheitern und wurden dann auch als gescheitert in den Artikeln verzeichnet. All diese Fremdzuschreibungen trägt Vera Kallenberg aus den Lexika anhand der Themen 'Herkunft', 'Sprache', 'Berufe', 'Lebensweise' (Wahrsagerei, Betrügerei, Herumreisen) zusammen und bettet sie ein in die von den zeitgenössischen Lexikographen verwendete Basisliteratur (zum Beispiel Wagenseil 1697; Grellmann 1783). Der Fremddiskurs der Mehrheitsgesellschaft über die mit dem Etikett Zigeuner bezeichneten Menschen innerhalb einer normensetzenden Textsorte auf der einen Seite und einer von Ausformung des modernen Territorialstaats, vom Wandel in der Armenfürsorge und durch Sozialdisziplinierung geprägten Welt auf der anderen Seite wird nachgezeichnet. Es ist von Anfang an ein Exklusions- und Devianzdiskurs.

Für Sprachwissenschaftler und Lexikographen ist das Buch dennoch problematisch. Die Verfasserin führt eine den fachsprachlichen Gebräuchen entgegengesetzte Terminologie ein. Sie schreibt von lexikalischer Thematisierung, lexikalischer Form, lexikalischen Lemmata (zum Beispiel 46) und macht das Fachwort lexikalisch stillschweigend bedeutungsgleich zu lexikographisch. Das Wort Lemma, das gemeinhin das Stichwort bezeichnet, wird zumeist als Metonymie für den gesamten Artikel gebraucht (122 und öfter). Liest man die Termini in den einzelnen Textpassagen metalexikographisch korrekt, kommen teilweise unsinnige Sätze heraus (45). Dies beweist, dass die sprachwissenschaftliche und metalexikographische Literatur zwar zum Teil im Literaturverzeichnis aufgenommen, aber offensichtlich nicht rezipiert worden ist. Es ist zudem symptomatisch, dass auch eine Reihe anderer Forschungsarbeiten fehlt, die zum Teil sogar denselben Zeitraum abdecken. [2] Damit ist die Chance vertan worden, wirklich Neues in die Forschung einzubringen. Wie hängt das Zigeunerstereotyp zusammen mit dem Gesamtkonzept des Lexikons? In welcher Weise ist es vernetzt? Wie wird es sprachlich umgesetzt? So relevant das Auflisten und Nebeneinanderstellen der einzelnen thematischen Stränge ist, so wichtig wäre die konzeptionelle Einordnung gewesen. Welche Widersprüche gibt es? Und Widersprüche gibt es, z.B. wenn im selben Brockhaus zum einen von der Sesshaftigkeit und zum anderen von der Wanderschaft die Rede ist. Es ist zu viel einfach dokumentiert, zu wenig zusammen geführt, interpretiert und reflektiert worden, was nicht zuletzt auch der Lesbarkeit geschadet hat. Ich jedenfalls habe mir am Ende die Lexika selbst angeschaut. Aber vielleicht ist das ja das Ziel gewesen.


Anmerkungen:

[1] Stefani Kugler: Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des "Zigeuners" in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Literatur, Imagination, Realität 34), Trier 2004, 3.

[2] Zum Beispiel Aparna Rao / Michael J. Casimir: A stereotyped Minority. Zigeuner in Two Centuries of German Reference Literature, in: Ethnologia Europaea 23, 2 (1993), 111-124; Wim Willems / Leo Lucassen: The Church of Knowledge. Representation of Gypsy Studies, in: Matt T. Salo (ed.): 100 years of gypsy studies. Papers from the 10th Annual Meeting of the Gypsy Lore Society, North American Chapter, March 25-27, 1988, Wagner College, Staten Island, New York, commemorating the centennial of the Gypsy Lore Society (= Publication / Gypsy Lore Society, North American Chapter 5), 3rd ed. Cheverly, Md. 2002, 31-50.

Anja Lobenstein-Reichmann