Herbert Uerlings / Iulia-Karin Patrut (Hgg.): "Zigeuner" und Nation. Repräsentation - Inklusion - Exklusion (= Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart; Bd. 8), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, 711 S., ISBN 978-3-631-57996-1, EUR 58,00
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Die Roma gelten als "größte europäische Minderheit". (9) Am Rande verschiedener europäischer Gesellschaften lebend, haben sie nicht nur mit Diskriminierung und Armut, sondern auch mit einem Aufmerksamkeitsdefizit in der Öffentlichkeit zu kämpfen. Der vorliegende, über 700 Seiten umfassende Sammelband nähert sich der Geschichte und aktuellen Wahrnehmung dieser Minderheit an, indem er nach den verschiedenen Repräsentationen fragt, die unter dem Etikett 'Zigeuner' in Film, Malerei, Verwaltung, literarischen und wissenschaftlichen Texten kursieren. Die 22 Beiträge aus Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft untersuchen das Verhältnis von Fremdzuschreibungen und Selbstbildnis sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsprozesse. Die Zeitspanne, die der Band insgesamt abdeckt, reicht vom Spätmittelalter bis zu aktuellen politischen Debatten über Integration und Rechte von Roma und Sinti in Europa.
Der Band ging aus zwei Tagungen hervor, die unter anderem im Rahmen des Trierer Sonderforschungsbereichs "Fremdheit und Armut" organisiert wurden, der sich aus verschiedenen Blickwinkeln den komplexen Grenzziehungsprozessen an den Rändern von Gesellschaften widmet. Die beiden Herausgeber sehen im "Homogenitätsparadigma" (11), das insbesondere für die nationalstaatliche Ordnung Europas charakteristisch sei, den Hauptgrund dafür, dass die Mehrheitsgesellschaft kulturelle Differenzen und Andersartigkeit als bedrohlich und irritierend wahrnehme. Die Herausgeber betonen jedoch, dass es sich dabei nicht um einen einseitigen Prozess handle: Der Philoziganismus etwa sei keine Gegenbewegung zum Antiziganismus, sondern besitze seinerseits ebenso einen Moment der Exklusion, und zwar der "inkludierenden Exklusion". (11)
Alle Beiträge thematisieren auf ihre Weise die Widersprüchlichkeit der stereotypen Repräsentationen und die Brüchigkeit der immer wieder neu gezogenen Grenzen. Selbst traditionelle "Zigeuner-Mythen" wie Wahrsagen und Hexerei hatten nicht nur stigmatisierende Effekte, sondern vermittelten gleichzeitig auch ein faszinierendes und romantisch überzeichnetes Bild der 'Zigeuner' (siehe die Beiträge von Peter Bell/Dirk Suckow, Marian Zalaga und Herbert Uerlings). Im Bereich der Kunst projizierte die romantisierende Zigeunermetapher Ideale von Freiheit und antibürgerliche Moralvorstellungen auf die Bohemienkultur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Infolge rassistischer Denkmuster kippte diese Metapher jedoch ins Negative. Im Zeichen des neuen Konstrukts der "Asozialen" fand sie schließlich Eingang in die kunsttheoretische Begründung des nationalsozialistischen Vorgehens gegen "entartete" Kunst (Anna-Lena Sälzer).
In der langen Geschichte der Diskriminierung von Sinti und Roma bedeutete der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Rassendiskurs eine Radikalisierung. Mehrere Beiträge setzen sich daher mit den Auswirkungen von kriminalanthropologischen und rassentheoretischen Ansätzen auf die unterschiedlichen medialen Repräsentationen von "Zigeunern" auseinander. Aber auch in diesem veränderten Begründungszusammenhang erweisen sich die Zuschreibungen als durchaus ambivalent. Wie Nicholas Saul für das Werk Carl Hauptmanns verdeutlicht, mussten sich rassenanthropologisches Denken und der Kampf gegen den Antiziganismus nicht widersprechen. Im Nationalsozialismus legitimierte die Rassentheorie bekanntermaßen einen umfassenden Zugriff auf diese Minderheitengruppe und ebnete den Weg für die Vernichtungspolitik. Wie Karola Fings in ihrem Beitrag "Rasse: Zigeuner" jedoch überzeugend nachweist, bestimmten die neuen rassenhygienisch definierten Kategorien nur bedingt das Verwaltungshandeln. Die lokalen Behörden pflegten einen sehr "taktischen Umgang mit der 'Rassenfrage'" (307), bei dem letztendlich nicht die 'Rassendiagnose' über die Deportation nach Auschwitz entschied. Diese situative Eigenlogik von Behörden - unabhängig von kategorialen Zuordnungen - scheint bereits eine längere Tradition zu haben, wie der Aufsatz von Juliane Hanschkow zum Umgang mit 'Zigeunern' und Heimatlosen im frühen 20. Jahrhundert zeigt.
Daneben sind zwei weitere Perspektiven des Sammelbandes hervorzuheben. Erstens fragen vier Autorinnen und Autoren vergleichend nach den Repräsentationen von Juden und 'Zigeunern'. Dabei treten bisher wenig beachtete Parallelen und Überschneidungen in der Geschichte des Ausschlusses wie auch der Emanzipationsbewegungen der beiden Minderheitsgruppen hervor. Zweitens richten mehrere Texte ihren Blick nach Osteuropa, wo die Roma bis heute einen wesentlich größeren Anteil an der Bevölkerung ausmachen als in Westeuropa. In den Beiträgen von Herbert Heuss und Dan Oprescu zu Rumänien und Bulgarien geht es nicht mehr nur um Außenansichten; die aktuellen Debatten angesichts des Konzepts von Civil Society und die Initiative "Decade of Roma Inclusion 2005-2015" führen vor Augen, wie schwierig es ist, die soziale Situation der Roma-Familien zu verbessern, integrative Gesellschaftspolitik einzufordern und zugleich ethnische Selbstbestimmtheit anzustreben.
Die interdisziplinäre Ausrichtung des Sammelbandes eröffnet unterschiedliche Perspektiven auf die Minderheit der Sinti und Roma, der Schwerpunkt liegt allerdings eindeutig auf dem literaturwissenschaftlichen Zugang. Andere Aspekte wie etwa die Repräsentation der Gypsy-Musik in der europäischen Musiktradition wären sicher ebenso lohnenswert gewesen. Die interdisziplinären Grenzen des Bandes zeigen sich außerdem daran, dass relevante Literatur zur Wissenschaftsgeschichte von Kriminologie, Anthropologie und Ethnologie nicht berücksichtigt wurde. Gerade die Forschungen zu Kriminalanthropologie und Kriminalbiologie haben bereits gezeigt, dass erbbiologische und rassentheoretische Kriterien mit sozial-moralischen Argumenten verschränkt und häufig politischen Vorgaben nachgeordnet waren.
Bei der Anzahl und Varianz der Texte hat der einführende Beitrag einiges zu leisten. Das hier gelegte theoretische Fundament von Inklusion und Exklusion verleiht dem Band eine überzeugende Kohärenz. Andere übergeordnete und zum Aufbau des Bandes quer liegende Perspektiven wären jedoch bei der einleitenden Diskussion der Einzelbeiträge wünschenswert gewesen: Etwa die Frage nach Differenz und Spezifika der unterschiedlichen Repräsentationsmedien oder die historische Frage nach Kontinuitäten und Brüchen. Trotzdem bleibt aus geschichtswissenschaftlicher Sicht positiv festzuhalten, dass der lange Zeitraum, den die Aufsätze insgesamt abdecken, die Stärke der Textzusammenstellung ausmacht. Der Band als Ganzes wird der Geschichte und Gegenwart einer nach wie vor wenig beachteten Minderheit mehr Sichtbarkeit verschaffen.
Désirée Schauz