Rezension über:

Viktoria Schmidt-Linsenhoff / Karl Hölz / Herbert Uerlings (Hgg.): Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus, Marburg: Jonas Verlag 2005, 224 S., 60 Abb., ISBN 978-3-89445-333-6, EUR 25,00
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Rezension von:
Barbara Paul
Institut für Bildende Kunst und Kulturwissenschaften, Kunstuniversität Linz
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Paul: Rezension von: Viktoria Schmidt-Linsenhoff / Karl Hölz / Herbert Uerlings (Hgg.): Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus, Marburg: Jonas Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/7953.html


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Viktoria Schmidt-Linsenhoff / Karl Hölz / Herbert Uerlings (Hgg.): Weiße Blicke

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Gerne nimmt man dieses an der Universität Trier in interdisziplinären Arbeitszusammenhängen entwickelte Buch zur Hand. Der Sammelband geht einmal nicht auf eine bestimmte Tagung zurück, sondern wurde im Kontext des Graduiertenkollegs "Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (18.-21. Jh.)" erarbeitet und im Marburger Jonas Verlag in gewohnt professioneller Art veröffentlicht. Unter der Prämisse, dass Whiteness nicht länger als vermeintlich unsichtbare und universell gesetzte Kategorie zur kulturellen Dichotomisierung und Hierarchisierung zu funktionalisieren ist, wird der Fokus auf künstlerische Strategien, Mechanismen und Effekte der Thematisierung 'weißer Blicke' gerichtet.

Anliegen des Buches ist es, die strukturell keineswegs homogene "Wissenschaftsmetapher Whiteness" (8) im Sinne einer Verknüpfung von Fragestellungen der Gender und Postcolonial Studies zu analysieren. Diese Herangehensweise ist gewinnbringend, um die komplexen Machtverhältnisse, die anhand von Semantiken der Hautfarbe und Blickregimes produziert wurden und werden, genauer zu verstehen. Kulturelle Fehlinterpretationen des 'Fremden' und 'Anderen' werden, so eine Grundkonstante der Funktionalisierung, immer wieder zur Konstruktion von 'Eigenem' genutzt. Dabei gilt, wie Viktoria Schmidt-Linsenhoff in der Einleitung schreibt: "Referenz der Signifikanten im Realen sind vielmehr die weißen Blicke der Einen, die die Farben der Alterität auf andere Körper projizieren, um weiße Identität zu erzeugen und zu stabilisieren." (9)

Die institutionell und individuell begründete 'weiße' Hegemonie basiert auf einer ebenso langen wie facettenreichen Geschichte. Dies verdeutlicht der vorliegende Sammelband, der gerade im deutschsprachigen (Wissenschafts-)Raum ein wichtiges Forschungsdesiderat markiert. Er liefert Einzelergebnisse zu Bedeutungsproduktionen durch Codierungsprozesse, Umformulierungen von Blickregimes und ideologischen Besetztheiten von Wissenskulturen. Die Fallstudien sind so ausgewählt, dass die Untersuchungsgegenstände stets Verschiebungen des dominanten Diskurses in Vorschlag bringen, mögen sie auch noch so klein sein. Die "Bildlektüren" handeln zum einen von Porträts des 17. und 18. Jahrhunderts mit weißen, aber auch schwarzen bzw. farbigen Personen; dabei geht es um Maskerade und kulturelles Cross-dressing als performative Kunstpraxis. Zum anderen interessieren die orientalistische Malerei des späten 19. Jahrhunderts und die damit verknüpften Imaginationen und Projektionen. [1]

Entsprechend des skizzierten Forschungsinteresses beschreibt Katja Wolff in ihrem Aufsatz über Frauenporträts mit so genannten "Mohrenpagen" zwischen ca. 1650 und 1750 (van Dyck, Mignard, Pesne u.a.) die vielfach ambivalent zu lesenden Darstellungsstrategien zwischen dem "Mohr als Zeichen weißer Überlegenheit" (26) und dem Mohr "als naives Kind oder Verehrer" (28). Nina Trauth analysiert die im orientalisierenden Porträt des 18. Jahrhunderts (Vanloo, Nattier u.a.) anzutreffenden künstlerischen Verfahren der Maskerade und Mimikry, bei denen sowohl kulturelle und geschlechterbedingte Differenzen benannt werden als auch Fremdartiges bzw. als fremdartig Imaginiertes partiell angeeignet wird. Die hier favorisierte Deutung, die in Europa praktizierte Subjektbildung mithilfe selbstentworfener stereotypisierter Bilder vom 'Anderen' auszugestalten, findet in weiteren Beiträgen seine Fortsetzung. Erneut spielen Hautfarbe und Kleidung, auch Körpersprache, eine wichtige Rolle bei der Herausbildung doppelt begründeter sexistisch-rassistischer Mythen.

Einen zusätzlichen Aspekt benennt Annegret Friedrich mit Blick auf Joshua Reynolds Gemälde "George Clive with his family and an Indian maidservant" von 1764/66, insofern als nicht nur die indische Dienerin als Subalterne formal und inhaltlich ins Zentrum gerückt ist. Vielmehr wird auch die Tochter auf diesem Familienporträt ebenfalls zentral verortet und gemäß indischer Fürstenhöfe als 'kleine Inderin' gekleidet. Diese Vermischungen kultureller Codierungen entsprechen eigentlich nicht den Interessen des Auftraggebers. Nur für eine kurze historische Zeitspanne scheint ein "kulturelles Cross-Dressing" (106) möglich gewesen zu sein. Darin sogleich ein interkulturell motiviertes Zusammenwirken sehen zu wollen, ist, wie auch die Autorin betont, vor dem Hintergrund der strikten britischen Rassentrennungspolitik in Indien wenig plausibel. Trotzdem ist mit Friedrich hervorzuheben, dass "subversive Wirkungen" in diesem Bild über die "indische Arbeitsmigrantin des 18. Jahrhunderts", anhand des Kindes als "Blick auf die Zukunft" und "'unter Frauen'" (110) verhandelt werden.

Eine Uminterpretation der Malerei des Orientalismus und der erörterten Sklavereiproblematik schlägt Viktoria Schmidt-Linsenhoff vor. Unter Bezugnahme u.a. auf Jean-Léon Gérômes Gemälde "Sklavenmarkt" (1866) plädiert sie dafür, die "Verkörperung verleugneter Erinnerung" (37) und die "Symptome eines Tätertraumas" (41) zu sehen. Sie distanziert sich begründetermaßen von der älteren feministischen Forschung, die aus damaliger Sicht die voyeuristische Schaulust an weißen Sklavinnenkörpern kritisiert (Linda Nochlin 1983), und von weiteren Untersuchungen, die sich zwar mit dem Bild der Frau beschäftigen (Lynn Thornton 1985), aber keinesfalls als feministisch gelten dürfen (davon gänzlich ausgenommen ist zurecht Reina Lewis 1996). Stattdessen arbeitet Schmidt-Linsenhoff heraus, dass mithilfe der künstlerischen Strategien der "Inversion" und "Projektion" (45) die Sklaverei zunächst in einen imaginären Orient verlagert wird, um sodann deren Abschaffung als "Triumph westlicher Zivilisation" (45) zu feiern. Diese paradoxe Argumentation führt die Autorin auf eine sowohl humanistisch als auch christlich verbrämte Doppelmoral zurück, die sich auf ein binäres Denken wie Kolonisator - Kolonisierte, Schwarz - Weiß, Mann - Frau stützt. Die anklingende Charakterisierung von Feminismus als tendenziell essentialistisch (49, 50 u.a.) ist meines Erachtens als eine historische feministische Position zu markieren. Nicht nur die Postcolonial Studies stellen ihre "eigene Begrifflichkeit permanent infrage" (13); auch die feministische Wissenschaft hat sich insbesondere seit den 1990er-Jahren mit selbstreferentieller Kritik hervorgetan.

Einen weiteren Blickwechsel nimmt Birgit Haehnel vor, die sich anhand der französischen (Salon-)Malerei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Guillaumet, Fromentin u.a.) und mitunter etwas weitgehenden Exkursen im 20. Jahrhundert mit der "Maskulinisierung der Wüste als authentischen Ort von Männlichkeit" (54) beschäftigt. Der Erfahrungsraum Wüste mit seiner kategorial zu markierenden Leere, Weite und auch existenziellen Bedrohung wird vor dem Hintergrund städtisch-zivilisatorischer Paradigma seitens der Künstler etwas plakativ als "neue[r] Ort der Kreativität und Imagination" (67) zu besetzen versucht.

Das Prinzip der Verschiebungen von geschlechterbedingten und ethnisch-kolonialistisch begründeten Normierungen veranschaulicht schließlich auch Reina Lewis am Beispiel von osmanischen und orientalistischen Identitätsmodellen (Vaka Brown, Zeyneb Hanum u.a.) und deren vermeintlicher Authentizität. Dabei wird deutlich, wie komplex die Praktiken von Codierung, Metaphorisierung und Symbolisierung sind und wie fein die Nuancen der Wahrnehmung. Die historischen wie aktuellen Lesarten von Kunstwerken, die kulturelle Kontaktzonen zu erproben bestrebt sind, entpuppen sich mitunter als notwendige Gratwanderungen, um die Kunst und Literatur, hier des 17. bis 20. Jahrhunderts, und deren 'weißen Blickregimes' Stück für Stück besser zu verstehen. Dazu leistet der vorliegende Sammelband einen wichtigen Beitrag. Weitere Untersuchungen zu Whiteness als Strukturkategorie und hegemoniales Machtinstrument besonders in Hinblick auf die visuelle Kultur sollten folgen. Sei es an der Universität Trier, das mit der 2005 realisierten Gründung des "Centrums für Postconial und Gender Studies" (Cepog) eine weitere viel versprechende Institutionalisierung vorgenommen hat, sei es anderswo im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. [2]


Anmerkungen:

[1] Die "Textlektüren" mit Beispielen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert müssen hier aus Platzgründen weitgehend ausgeklammert bleiben.

[2] Etwa zeitgleich mit bzw. kurz nach Erscheinen des hier besprochenen Buches fanden bezogen auf die Gegenwartskunst zwei einschlägige Ausstellungen statt: Maurice Berger (Hrsg.): Ausst.Kat. White. Whiteness and Race in Contemporary Art, University of Maryland Baltimore 2004 und Rosa Reitsamer / Jo Schmeiser: Ausst.Kat. Born to be white. Rassismus und Antisemitismus in der weißen Mehrheitsgesellschaft, IG Bildende Kunst, Wien 2005. Innerhalb der deutschsprachigen Forschung sind zuletzt zum Thema ohne explizite Bezugnahme auf ältere Kunst, aber mit theoretisch interessanten Ansätzen erschienen: Mineke Bosch / Hanna Hacker (Hrsg.): L'homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 16, 2005, Heft 2: Whiteness; Maureen Maisha Eggers u.a. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinforschung in Deutschland, Münster 2005.

Barbara Paul