Rezension über:

Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz : Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien. Band 1: Texte; Band 2: Abbildungen, Marburg: Jonas Verlag 2010, 359 + 215 S., ISBN 978-3-89445-434-0, EUR 40,00
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Rezension von:
Hildegard Frübis
Kunstgeschichtliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Hildegard Frübis: Rezension von: Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz : Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien. Band 1: Texte; Band 2: Abbildungen, Marburg: Jonas Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/18811.html


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Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz : Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien

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Das in seinem zeitlichen wie thematischen Umfang beeindruckende Werk von Viktoria Schmidt-Linsenhoff ist das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung der Autorin mit dem Thema der Konstruktion kultureller Alterität auf dem Gebiet der Kunst. Als Professorin im Fach Kunstgeschichte an der Universität Trier hat sie an ihrem Lehrstuhl den Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterdifferenz aufgebaut. Hervorgegangen sind daraus solch innovative und anregende Arbeits- und Forschungsprojekte wie Das Subjekt und die Anderen oder das Graduiertenkolleg Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität 18.-20. Jahrhundert. Nicht zuletzt wurde mit diesen Unternehmungen der Einstieg in ein neues Forschungsfeld gewonnen, das in der deutschen universitären Kunstgeschichte einzigartig ist und das mit dem interdisziplinären Centrum für Postcolonial und Genderforschung an der Universität Trier institutionalisiert wurde.

Das besondere Anliegen der Autorin gilt - wie sie eingangs in ihrem Werk betont - der Ausarbeitung einer "visuellen Ästhetik der Differenz" (7). Herausgekommen sind dabei zwei Bände - aufgeteilt in einen Text- und einen Abbildungsband - die in fünfzehn Fallstudien "Bilder und Bildfolgen, Blickregimes, Kunst- und Subjektbegriffe" vorstellen, die eine "ästhetische Erfahrung von Differenz ermöglichen, die weniger gewaltträchtig ist als die, die wir kennen" (9). Damit scheint als Antrieb des Unternehmens der kleine Funke der Utopie auf. Er richtet sich in den als Fallstudien angelegten Kapiteln auf bekannte, weniger bekannte oder auch anonym gebliebene KünstlerInnen, deren Arbeiten die Brüchigkeit des eurozentristischen Weltbildes zu erkennen geben sollen. Die künstlerischen Arbeiten werden von Schmidt-Linsenhoff gegen den Strich - in diesem Falle gegen den hegemonialen Diskurs der europäischen Wahrnehmung des Anderen - gebürstet und sind getragen von dem Anliegen der Autorin, eine Ästhetik der Differenz sichtbar werden zu lassen, die jenseits des europäischen Selbstverständnisses der hegemonialen Verfügung über das Andere steht.

Der Textband ist in drei große Kapitel gegliedert, die unter den Überschriften Künstler- und Entdeckerblicke, Weibliche Perspektiven und Fremde Dinge, Verdinglichte Fremde die einzelnen Fallstudien versammeln, die - medial wie historisch betrachtet - höchst unterschiedliche Gegenstände (Gemälde, Grafik, Serien, Collagen, Bild/Textmontagen, Installationen) zusammenbringen. Zum Großteil gehen die Beiträge auf Aufsätze zurück, die zwischen 1997 und 2008 entstanden sind und welche in einer ersten Version bereits publiziert wurden. Das Neue des vorliegenden Bandes liegt vor allem im Konzept der Fallstudie, wodurch das umfangreiche Bildmaterial neu gesichtet, geordnet und vor der Folie der Theoriebildung der Postcolonial- und Genderforschung analysiert wird.

Im Vorgehen der Fallstudie liegt sicher die methodisch größte Herausforderung wie der intellektuelle Gewinn der Arbeit von Schmidt-Linsenhoff. Zum Konzept der Fallstudie, die in etwa dem historischen Konzept der Mikrohistorie entspricht, gehört zum einen, dass sie einen exemplarischen Charakter beansprucht und zum anderen, dass sie, über den einzelnen Fall hinaus, den Blick auf ein größeres Ganzes - die Makrohistorie - eröffnet. Dies geschieht in Form von Einleitungen, welche die Autorin den Kapiteln jeweils voranstellt. In ihnen wird ein die einzelnen Fallstudien übergreifender Problemhorizont entwickelt, der die Aufsätze durch einen - Zeit und Raum durchmessenden - analytischen Blick auf die Strukturen der europäischen Wahrnehmung des Anderen zusammenbindet.

Dem Verfahren unterliegt die Absicht von Schmidt-Linsenhoff, die strukturellen Momente der Bestimmung eines kolonialen Gegendiskurses heraus zu präparieren. Exemplarisch soll dazu das erste Kapitel etwas näher betrachtet werden. Schon die Überschrift Künstler- und Entdeckerblicke gibt einen ersten Hinweis, unter welcher thematischen Perspektive die hier versammelten Aufsätze zusammengestellt wurden. In den fünf Fallstudien, die vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwartskunst reichen, wird die Selbstreflexion des Blicks in ihrer Strukturanalogie zwischen Künstler- und Entdeckerblicken herausgearbeitet. Es geht dabei um so unterschiedliche Bilder wie den Kupferstich Jan van der Straets zur Entdeckung Amerikas (um 1590) - mittlerweile eine vielfach besprochene Inkunabel zur allegorischen Repräsentation der Entdeckung der Neuen Welt im 16. Jh. -, die Illustrationen zu Vivant Denons Voyage dans la basse et la haute Égypte von 1802, welche im Kontext des Ägyptenfeldzug Napoleons entstanden ist, Eugéne Delacroix' Gemälde wie Die Frauen von Algier in ihrem Gemach (1834), die auf die Erfahrungen seiner Nord-Afrika Reise von 1832 zurückgehen und Paul Gauguins in Tahiti entstandene Gemälde (Manao Tupapao, 1892) die in Beziehung zu Victor Segalens Ästhetik des Diversen (1908 - 1918) gesetzt werden. Das Kapitel endet mit einem Blick auf die Gegenwartskunst in Gestalt von Künstlern wie Jean Michel Basquiat, Samuel Fosso oder Yinka Shonibare, die ihren migrantisch/postkolonialen Hintergrund zum Thema ihrer Kunst gemacht haben.

Dieses Verfahren, eine Fragestellung zu entwickeln, die den Bogen über mehrere Jahrhunderte spannt und dabei die künstlerischen Artefakte in den Kontext einer aus den postkolonialen Bedingungen und Erfahrungen der Gegenwart gewonnenen Fragestellung stellt, bildet die Struktur jedes der drei Kapitel. Produktiv gemacht wird auf diese Weise ein Perspektivenwechsel, der aus dem Selbstverständnis der europäischen Kunstgeschichte heraustritt. Im Blick auf die Erfahrung der ehemals Kolonialisierten und der heute global und postkolonial agierenden Künstler wird so das Repertoire der Kunstgeschichte neu gesichtet. Gewonnen wird dadurch - auch ganz konkret in Gestalt des zweiten Bandes - ein beeindruckender Bildatlas des Kolonialen, der die visuelle Repräsentanz des kulturell Anderen im bisher Übersehenen sichtbar werden lässt. Besonders gilt dies für die Kunst des 16. bis 18. Jahrhunderts, wo die Begegnung und Konfrontation mit dem Anderen beispielsweise in den illustrierten Reiseberichten zu Amerika und Nordafrika oder in den Aquarellen Maria Sibylla Merians zu ihrer Reise nach Surinam sowie in den Gemälden der französischen Porträtkultur zur Darstellung schwarzer Frauen und Männer (Marie Guilhelmine Benoist, Portrait d'une négresse, 1800) vorliegen, aber ihr kolonialer Gegenstand in der kunsthistorischen Forschung bislang gerade nicht zum Thema gemacht wurde. Ebenso zeigt sich, dass gerade das kulturell und geografisch Fremde zum Terrain kunsttheoretischer Diskurse wird, wie sie in der europäischen Kunst geführt wurden. Dazu gehören beispielsweise die wahrnehmungstheoretisch bestimmten Erörterungen, wie sie in der Landschaftskunst Europas seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verfolgen sind.

Schmidt-Linsenhoff betrachtet unter dieser Perspektive die im Genre der Voyage Pittoresque gehaltenen "orientalischen Landschaften" von Vivant Denons Voyage dans la basse et la haute Ègypte. Im Blick auf dessen Landschaftskonzeptionen arbeitet die Verfasserin die Multiperspektivität und Subjektivität der Wahrnehmungsweise Denons heraus und stellt sie dem Anspruch auf Objektivität entgegen, von denen die Darstellungen der Description geprägt sind. Im Einzelnen sind dies zweifellos richtige Beobachtungen. Doch in Hinsicht auf deren Wertungen innerhalb des postkolonialen Projekts einer alternativen Ästhetik der Differenz ist die Rezensentin weitaus skeptischer als die Autorin. Dazu soll exemplarisch auf eine der Bildinterpretationen geschaut werden. Für Schmidt-Linsenhoff steht die Wahrnehmungsweise und Bildkonzeption eines Vivant Denon für die mit ihrem Projekt verknüpfte Hoffnung, fixierte Stereotypen und Bildordnungen des kolonialen Bild- und Blickregimes aufzubrechen und ihnen, in den von ihr ausgewählten Bildern und Bildfolgen "ein feines Linienwerk von Rissen, das wie das Krakelée in der Oberfläche eines Historiengemäldes auf die Dynamik gegenläufiger Kräfte und Verwerfungen verweist" (14) entgegen zu stellen. Der Kolonialismus war sicher nie einfach nur weiß oder schwarz, Mann oder Frau, Orient oder Okzident - wie Schmidt-Linsenhoff schreibt. Dazu sei nur auf Arbeiten wie die von Stuart Hall oder Homi Bhabha verwiesen, welche die Komplexität der kolonialen wie postkolonialen Kultur haben deutlich werden lassen. [1]

Die Auflösung der dichotomen Wahrnehmungsstruktur auf dem Gebiet des Visuellen gehört zu den besonderen Leistungen der beiden Bände von Schmidt-Linsenhoff. Der Hoffnung, im Blick zurück die Anderen und ihre Einsprüche in der europäischen Kunstgeschichte sichtbar werden zu lassen, hält die Rezensentin nochmals ihre Skepsis entgegen. Zum einen gilt es zu beachten, dass die Perspektive einer alternativen Ästhetik der Differenz gerade durch die zeitgenössische und postkoloniale Erfahrung bestimmt ist, in der die ehemals Kolonisierten zu selbstbewusst agierenden Künstlern, Literaten und Politikern geworden sind. Es ist deren Leistung, in einem neuen kulturellen wie künstlerischen Selbstverständnis aufzutreten. Und zum anderen, selbst wenn in einzelnen Bildern europäischen Ursprungs eine differente Darstellung des Anderen aufscheint, bleibt dies die Perspektive der europäischen Wahrnehmung. Muss dagegen nicht die Verfasstheit des europäischen Subjekts viel ernster genommen werden, die in der Kunst der Frühen Neuzeit (Illustrationen zur Entdeckungsgeschichte der Neuen Welt und ihre Gegenüberstellung von Entdeckern und Entdeckten) wie in der der Moderne ('Primitivismen' als integraler Teil der Stilbildungen der europäischen Avantgarde) deutlich werden lässt, wie das Andere zu einer spezifisch westlichen Reflektionsfigur geworden ist und ganz wesentlich zur Ausbildung westlicher Identitäten gehört?


Anmerkung:

[1] Homi Bhabha: The Location of Culture, London 1994; Stuart H. Hall: Representations: Cultural representations and signifying practices, London 1997.

Hildegard Frübis