Miroslawa Czarnecka / Thomas Borgstedt / Tomasz Jablecki (Hgg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte; Bd. 99), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, 490 S., ISBN 978-3-0343-0329-3, EUR 80,70
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Christian Gahlbeck (Bearb.): Die Beziehungen Herzog Albrechts in Preußen zu Ungarn, Böhmen und Schlesien (1525-1528). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten, Berlin: Duncker & Humblot 2017
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Im Alltag versteht man unter Stereotypen verallgemeinernde und oft wertende Vorstellungen über einen Menschen in seiner Eigenschaft als Individuum oder als Angehöriger einer sozialen Gruppe. Solche - nicht selten negativ konnotierte - komplexitätsreduzierende Konzepte haben sich in sehr verschieden strukturierten Gemeinschaften in Vergangenheit und Gegenwart als besonders langlebig erwiesen, sie fanden Eingang in ihr kulturelles Gedächtnis und entfalteten sehr unterschiedliche Wirkungen.
In den vergangenen Jahren sind Stereotype immer wieder Gegenstand der Erforschung durch Angehörige verschiedener Disziplinen geworden, die diese besonderen Konstrukte unter historischen, imagologischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen, ethnologischen und kulturanthropologischen, kognitions- und sozialpsychologischen Fragestellungen eingehender untersucht haben. Bereits eine oberflächliche Recherche mit passenden Suchbegriffen in elektronischen Metakatalogen und Datenbanken fördert umgehend eine große Zahl an Veröffentlichungen zu Fragen rund um das Generalthema "Stereotyp" zu Tage. Schnell könnte man daher zu der Auffassung gelangen, es sei vielleicht schon alles gesagt. Dass dies aber nicht unbedingt der Fall ist, zeigt sich spätestens bei der Lektüre des hier anzuzeigenden Sammelbandes mit den Beiträgen einer interdisziplinären Tagung über frühneuzeitliche Stereotype in sehr unterschiedlichen Quellentypen und medialen Gattungen, die im Oktober 2008 in Breslau stattfand.
Den Herausgebern des Konferenzbandes war es dabei wichtig, Stereotype weniger als Repräsentationen von inneren, psychischen Haltungen zu betrachten bzw. dieselben in Werken der Literatur und der Künste zu rekonstruieren. Vielmehr war ihnen daran gelegen, dass nach Zweck und Funktionsweise von Stereotypen in verschiedenen Medien, nach ihren jeweiligen Entstehungszusammenhängen sowie nach den Bedingungen gefragt wurde, die die jeweilige Wirkung von Stereotypen in den jeweiligen historischen Kontexten beeinflussten.
Die 24 Beiträge des Sammelbandes sind drei großen Themenfeldern zugeordnet: Das erste ist Nationalstereotypen gewidmet. Einleitend äußert sich Hubert Orłowski zur Theorie der Stereotype, zur Relevanz kulturhistorischer Zäsuren für ihre Erforschung im Allgemeinen und der Epoche der frühen Neuzeit, des definierten Untersuchungszeitraums, im Besonderen. Seinem Beitrag schließt sich eine Reihe von Fallstudien an, in denen die Funktionen von Nationalstereotypen in verschiedenen Medien und literarischen Gattungen herausgearbeitet und dabei nicht nur dem Feld der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, sondern auch der Geschichte und Kultur anderer europäischer Völker entnommen worden sind. Die typisierende Beschreibung von Nationalitäten im Rahmen barocken Systemdenkens und in Gestalt von Völkertafeln steht im Mittelpunkt des Artikels von Franz M. Eybl. Martin Disselkamp beschäftigt sich unter anderem mit dem Problem von klimatheoretischen Wahrheitskriterien für die Beschreibung von Nationalcharakteren im Werk Jean Bodins und ihre Einordnung in die zeitgenössische Wissenschaftspraxis. Das Bild "des Spaniers" in Texten aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die von deutschen Protestanten verfasst wurden, wurde von Silvia Serena Tschopp näher untersucht. Der Rolle von Nationalstereotypen in kulturellen Transferprozessen, sei es bei der Adaption französischer Theaterstücke für ein polnisches Publikum, sei bei der Wahrnehmung und Darstellung des "Fremden" - auch mit dem Ziel, (kommunikative) Spannung zu erzeugen bzw. Abgrenzungen zu anderen Gruppen vorzunehmen - sind Ferdinand van Ingen, Marcin Cieński und Justyna Łukaszewicz in ihren Beiträgen nachgegangen. Mirna Zeman hat unter Anlehnung an ein von Małgorzata Świderska entwickeltes imagologisches Konzept die Entstehung, Verbreitung und Funktion von mentalen Bildern untersucht, die über Kroaten in der frühen Neuzeit im deutschsprachigen Raum im Umlauf waren.
Der zweite Abschnitt des Sammelbandes ist sozialen Stereotypen in unterschiedlichen Gattungen gewidmet: Stefanie Arend fragt nach der Anwendbarkeit des Konzepts in der Emblematik am Beispiel von Herrscherallegorien. Die besondere Bedeutung, die realweltliche Stereotype für die Komposition von Komödien, Flugblättern, Epigrammen und frühneuzeitlichen Romanen und ihr jeweiliges Funktionieren besitzen, haben Daniel Fulda, Florent Gabaude, Rainer Hillenbrand und Tomasz Jabłecki in ihren Beiträgen herausgearbeitet. Den Zusammenhang von Körperinszenierungen, Auto- und Heterostereotypisierungen als rhetorische Strategie in unterschiedlichen Textsorten, darunter Tanzbücher, hat Marie-Thérèse Mourey untersucht. Die Funktion von Geschlechterstereotypen und stereotypem Handeln sowie die Veränderung von Rollenmustern in Hochzeitsgedichten hat Rudolf Drux näher erläutert. Jonathan Schüz hat gezeigt, wie das frühneuzeitliche Hexenbild als ein "Gegenbild der Gesellschaft" entworfen wurde, wie Stereotypisierungen in Hexenprozessen zur Anpassung individueller Fälle an zeitgenössische juristische Normen führten und erst dadurch ein zu verfolgendes "Verbrechen" kreiert wurde, welches anschließend durch eine an stereotypen Vorstellungen orientierte Befragung bestätigt wurde. Franz Fromholzer, Werner Wilhelm Schnabel und Grażyna Barbara Szewczyk haben sich mit der Verhandlung konfessioneller Differenz und der Funktion entsprechender Auto- und Heterostereotype in Trauerspielen, Exulantenliedern sowie im Werk Andreas Gryphius' beschäftigt.
In den Beiträgen des dritten Teils des Sammelbandes werden literarische Topoi hinsichtlich ihrer spezifischen Funktionsweise in verschiedenen Fallstudien dahingehend überprüft, ob und inwiefern Verbindungen zu stereotypen Konzepten bestehen: Nicola Kaminski zeichnet das topische Zusammenspiel verschiedener Künste nach, die sich in bestimmten Aspekten als defizitär erweisen, zusammen allerdings komplementär ergänzen. Den Funktionen von Stereotypen und rhetorischer Muster in schlesischer Chronistik ist Jolanta Szafarz nachgegangen. Fridrun Freise und Dirk Rose haben sich mit Stereotypen über die Rolle des Dichters in Elbinger Kasualschriften bzw. in der Rezeption des Hans Sachs als Prototypen eines Volksdichters beschäftigt. Wie Topoi und Vorstellungsmuster genutzt wurden, um bestimmte Sachverhalte zu beschreiben und zu bewerten hat Dirk Werle am Beispiel der "frühneuzeitlichen Bücherflut" demonstriert.
Lesern, die sich meist unter einem bestimmten Blickwinkel mit Stereotypen befasst haben, so zum Beispiel mit nationalen Stereotypen im Kontext binationaler Beziehungsgeschichte, mag die Auswahl der Themen auf den ersten Blick etwas heterogen erscheinen. Doch die Zusammenstellung ist auf den zweiten Blick gerade deswegen besonders reizvoll: Sie ermöglicht die Verhandlung des Generalthemas in einem europäischen Kontext, rückt Entstehungs- und Funktionsbedingungen sowie die Wandlungen sozialer und konfessioneller Stereotype ins Zentrum stellt die strukturelle Verbindung bzw. Verwandtschaft zwischen den genannten Vorstellungsmustern und literarischen Topoi heraus. Gerade letztgenannte Zusammenhänge in der Zusammenschau stärker in den Fokus zu rücken, macht den besonderen Reiz der Aufsatzsammlung aus.
Maike Sach