Alison K. Smith: Cabbage and Caviar. A History of Food in Russia, London: Reaktion Books 2021, 352 S., ISBN 9781789143645, GBP 27,50
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Bereits seit einiger Zeit genießt das Thema Essen große Aufmerksamkeit in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Ernährung wird aus der Perspektive der Alltagsgeschichte betrachtet, gefragt wird nach ihrer Bedeutung in sozialer und kultureller Interaktion in unterschiedlichen Gesellschaften. Praktiken des Essens und Trinkens werden hinsichtlich ihrer symbolischen Funktionen oder ihres identitätsstiftenden Potentials untersucht.
Der Londoner Verlag Reaktion Books Ltd hat gar zwei Buchreihen im aktuellen Programm, die der aktuellen Konjunktur der "food studies" zu verdanken sind: Eine der beiden Reihen, "Edibel", nähert sich monographisch einzelnen Lebensmitteln und Getränken. Die zweite, "Foods and Nations", ist Gerichten, Getränken und den damit in Zusammenhang stehenden Praktiken gewidmet, die sich historisch in einzelnen Ländern unter ganz unterschiedlichen geographischen und politischen Bedingungen entwickelt haben. Auch kulinarischen Einflüssen von außen soll in den einzelnen Bänden nachgespürt werden.
Der Band über die Geschichte der Ernährung in Russland stammt aus der Feder der US-amerikanischen Historikerin Alison K. Smith, die derzeit an der Universität von Toronto lehrt und im Themenfeld einschlägig ausgewiesen ist. [1]
Zur Einführung macht die Verfasserin ihre Leserschaft zunächst mit dem (auch für andere Nationen zutreffenden) Gegensatz zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Eliten vertraut, auf den sie im Zuge ihrer Darstellung immer wieder zurückkommen wird und der sich in der Ernährung in Mangel und Monotonie, bisweilen Hunger auf der einen bzw. Fülle und Luxus auf der anderen Seite gezeigt habe.
Zum Auftakt macht die Verfasserin mit dem Inventar der russischen Küche und ihren wesentlichen Gerichten und Getränken vertraut, die als landestypisch gelten und auf Speisekarten von Restaurants, von Werkskantinen und Cafeterien von Bildungseinrichtungen zu finden sind und bei Besuchen in privaten Haushalten kredenzt werden. Sie beschreibt die übliche Abfolge der einzelnen Speisen sowohl im Alltag als auch bei festlichen Gelegenheiten.
Dem Einfluss der Umwelt auf die Landwirtschaft geht sie im folgenden Kapitel nach. Sie skizziert die unterschiedlichen geographischen Gegebenheiten und die Herausforderungen, die das kontinentale Klima für die Vegetation und den Anbau von Feldfrüchten seit dem Mittelalter bedeutete. Bodenkundliche Aspekte werden in der Darstellung allenfalls angedeutet. Smith stellt einen Katalog an Getreide- und Gemüsesorten zusammen, die unter diesen Bedingungen angebaut werden konnten. Sie listet auf, was in Flüssen und Seen gefischt, was im Wald an Beeren, Pilzen und Honig gesammelt und gegebenenfalls an Wild gejagt werden konnte. Sie erwähnt grundlegende Konservierungsmethoden und stellt die besondere Bedeutung von Flüssen und später der Eisenbahn für den Verkehr und den Transport von Gütern aller Art stellt heraus. Gerade bei Konservierung, Transport und beim Handel auf Märkten habe die Kälte auch positive Effekte gezeitigt.
In den folgenden fünf Kapiteln rekonstruiert Smith in chronologischer Folge Ernährungs- und Trinkgewohnheiten in unterschiedlichen historischen Konstellationen: Sie nimmt sich zuerst den Verhältnissen in der Kiever Rus' an, geht zum Moskauer Reich bis zum Petrinischen und Katharinäischen Russland über, um sich dann mit dem 19. Jahrhundert und der sowjetischen Periode zu befassen. Dabei versucht sie Ernährungspraktiken und ihre Veränderungen in den Kontext der sozialhistorischen Entwicklungen und staatlichen Expansion einzuordnen. Nicht nur durch Handel mit dem Ausland, sondern gerade auch durch den Wandel des Moskauer Reiches zum russländischen Imperium wurden neue Lebensmittel eingeführt und neue Feldfrüchte (darunter die Kartoffel) angebaut. Mit der Ausdehnung des Reiches gelangten Gerichte und Rezepte aus einverleibten fremden kulinarischen Traditionen in die russische Küche. Die Folge war eine Bereicherung, gleichzeitig seien Prozesse der Adaption und Überformung traditioneller Gerichte und Rezepte bis in die Gegenwart in Gang gesetzt worden, die mit wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen korrelierten.
In einem Epilog zeichnet Smith die Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach. Basis ihrer Ausführungen sind vor allem eigene, in einem Reisetagebuch festgehaltene Eindrücke aus zahlreichen, langen Aufenthalten zu Studien- und Forschungszwecken. Im Epilog beschreibt sie das Schlangestehen vor Läden, die Veränderungen in deren Sortiment, setzt Preise und Kaufkraft der Bevölkerung ins Verhältnis. Sie verweist auf die Bedeutung privater Gemüsegärten für die Versorgung der Gesellschaft in den Umbruchszeiten, die sie als Zeitzeugin auf ihren Reisen miterlebte. Sie registriert bei späteren Besuchen und nach wirtschaftlicher Konsolidierung neue Restaurants, den Import westlicher Luxusgenussmittel. Der Epilog endet mit der Skizzierung der Effekte von westlichen Wirtschaftssanktionen anlässlich der Annexion der Krim im Jahr 2014 und der russischen Reaktionen darauf.
Smiths Zugriff auf das Thema ist ein kulturwissenschaftlicher, für die Veranschaulichung von zentralen Gegenständen der russischen Küche und von Praktiken setzt sie zahlreiche, kommentierte Abbildungen ein. Für die Rekonstruktion der Ernährung greift Smith auf Grabungsbefunde, Chronikzeugnisse, auf Berichte von Reisenden und die Analyse von Rezepten des gleichen Gerichts aus Kochbüchern unterschiedlicher Perioden zurück.
Die Perspektive der Autorin, maßgeblich bestimmt durch ihre eigenen langen Aufenthalte, ist die der Nahrung beschaffenden Konsumentin, die Zutaten für die Zubereitung auf Märkten und in Läden besorgt, oder sich ein fertiges Gericht außer Haus vorsetzen lässt. Diese Perspektive findet sich grundsätzlich auch in Reiseberichten, die sie für die Darstellung der Verhältnisse in der Frühneuzeit und in späteren Jahrhunderten verarbeitet hat. Hier wären außerdem Bemerkungen zu den in dieser Quellengruppe enthaltenen Stereotypen sinnvoll gewesen [2], insbesondere wenn nach "typischer" Ernährung gefragt wird und damit Identitätsfragen berührt werden, die auch auf kulinarischem Gebiet virulent werden können (man denke an den Streit um den Borschtsch). [3]
Die Konsumentenperspektive fokussiert die Darstellung vor allem auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln bzw. bestimmter Typen von Lebensmitteln. Ausgeblendet bleibt damit die Perspektive von Nahrungsmittelproduzenten: Bauern werden zwar durchaus hinsichtlich ihrer sozialen Lage behandelt. Ansonsten werden sie, indem ihre Kost rekonstruiert wird, auch als Konsumenten angeführt. Themen wie Bodenamelioration oder Düngung finden hingegen keine Berücksichtigung. Ebenso fehlen Hinweise zum Umgang mit Pflanzenkrankheiten und Schädlingsplagen. Die Reaktion auf Seuchen im Viehbestand findet gleichfalls keine Erwähnung.
All diese Vorkommnisse hatten neben den dargestellten klimabedingten Faktoren Einfluss auf die Höhe der Produktion von Lebensmitteln und ihrer jeweiligen Qualität. Der Ausfall der Ernte, die Dezimierung des Viehbestandes konnte Mangel und Hunger nach sich ziehen. Zoonosen konnten gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Konsumenten hervorrufen. Auch Fragen der Gewährleistung von Qualitätsstandards und hygienischen Kontrollen wird nicht nachgegangen, obwohl sie die Arbeit der Produzenten von Lebensmitteln ebenso betreffen wie sie Felder staatlichen Handelns waren und sind.
Smith versucht, ein Panorama über mehr tausend Jahre russische Ernährungsgeschichte zu entwerfen. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das vielleicht in einigen Bereichen angesichts des zur Verfügung stehenden Raumes notgedrungen oberflächlich bleiben muss. Gleichwohl hat sie ein durchaus lesbares Buch vorgelegt, das vielen als erster, direkter Einstieg in das Generalthema dienen mag, hat sie doch neben einem Glossar auch eine Reihe traditioneller Rezepte angefügt.
Anmerkungen:
[1] Alison K. Smith: Recipes for Russia. Food and Nationhood under the Tsars, Illinois 2008, 2. Aufl., ebenda 2011.
[2] Vgl. die bei Smith zitierten (Geschmacks)Urteile englischer Reisender und die dort enthalten Stereotypen (52, 67).
[3] Vgl. die DPA-Meldung "Wem gehört eigentlich der Borschtsch?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Juli 2022, URL: https://www.faz.net/-iz7-asxyo (9.08.2022). Smith verortet die Suppe in der Ukrainischen Tradition (45) und führt drei verschiedene Rezepte in ihrem Buch an (287f.).
Maike Sach