Christian Rattemeyer u.a. (eds.): Exhibiting the New Art. 'Op Losse Schroeven' and 'When Attitudes become Form' 1969, London: Koenig Books 2010, 280 S., ISBN 978-1-84638-074-7, EUR 16,80
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Nach dem Wandel des Hofkünstlers (Martin Warnke) zum Ausstellungskünstler (Oskar Bätschmann) haben sich die Bedeutung und der Stellenwert von Ausstellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal unverhältnismäßig potenziert. So kommt es nicht von ungefähr, dass in dem 1991 veröffentlichten Kompendium "Die Kunst der Ausstellung" beinahe die Hälfte der besprochenen Ausstellungen seit den Sechzigerjahren datieren. [1]
Die bekannteste, ja geradezu "mythisch" verehrte Ausstellung ist die zunächst in der Kunsthalle Bern im März 1969 von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung "When Attitudes Become Form (Works - Concepts - Processes - Situations - Information) ". Sie hatte zwar keine "Stil"-bildende Wirkung, da sie Ansätze der amerikanischen wie auch europäischen Conceptual und Minimal Art gemeinsam mit solchen der Arte Povera, Land Art, Fluxus und anderen Positionen verband, doch verdichtete sich in ihr geradezu beispielhaft die allgemeine Aufbruchsstimmung in der Kunst jener Zeit. Vor allem die alles andere als klassische Vorgehensweise Szeemanns führte dabei quasi en passant zur Nobilitierung einer neuen auktorialen Position des Kurators. [2] Ferner ereignete sich mit dieser Ausstellung eine weitere Transformation der Ausstellungsgeschichte, insofern die Berner Präsentation im Wesentlichen durch das Sponsoring eines Wirtschaftsunternehmens (Philip Morris) überhaupt erst initiiert wurde.
All dies sind Aspekte der neueren Kunstgeschichte, die weithin bekannt sind. Der erste Band einer "Exhibition Histories" benannten Buchreihe erweitert diese Sichtweise um ein ebenfalls nicht völlig unbekanntes Phänomen, dass Christian Rattemeyer, Hauptautor des vorliegenden Buches, aber nun zu einer hochinteressanten historischen Konfiguration verdichtet: in der Rezeptionsgeschichte mittlerweile nahezu vergessen wurde nämlich der Umstand, dass eine Woche vor der Berner Ausstellung mit "Op Losse Schroeven (Situations and Cryptostructures) " im Amsterdamer Stedelijk Museum eine inhaltlich annähernd gleich ausgerichtete Ausstellung eröffnet wurde. Immerhin 32 Künstler nahmen an beiden Ausstellungen teil. Im Rückgriff auf bislang zum Teil unpublizierte Quellen rekonstruiert Rattemeyer in seinem ausführlichen Aufsatz die Chronologie der Konzeption sowie der Präsentation der Werke beider Ausstellungen, führt erstmals die Bedeutung des im Hintergrund arbeitenden italienischen Künstlers und Autors Piero Gilardi für die Konzeption beider Ausstellungen aus, vergleicht die Art und Funktion der Ausstellungskataloge und geht kurz auf die zeitgenössische Rezeption ein (12-62). Gerade im Blick auf den letzten Punkt ist es verblüffend, dass beide Ausstellungen 1969 auf eine vergleichbare Resonanz stießen und sich diese im Laufe der folgenden Jahrzehnte erstaunlicherweise geradezu polar auseinander entwickelte, so dass "Op Losse Schroeven" spätestens seit Mitte der Neunzigerjahre nur noch wirklichen Kennern bekannt war (56f.). Vor diesem Hintergrund ist es Rattemeyers Anliegen "to recalibrate the historical relevance" (17) beider Ausstellungen, also vor allem den kunsthistorischen Stellenwert der Amsterdamer Ausstellung zu unterstreichen.
Neben zahlreichen interessanten Details offenbart Rattemeyers vergleichende Betrachtung, dass die zeitlich und auch im Hinblick auf die Künstlerauswahl so extrem ähnlichen Ausstellungen auf gänzlich unterschiedlichen kuratorischen Vorgehensweisen beruhen: Während Szeemanns Arbeit durch eine Vertreterin von Philip Morris im Sommer 1968 erst initiiert und vier Monate vor der Eröffnung konzeptionell präziser formuliert wurde (18-22), arbeitete sein Amsterdamer Kollege Wim Beeren bereits seit September 1967 an Konzepten zu seiner Ausstellung (22ff.). Und obwohl Rattemeyer belegen kann, dass beide Kuratoren von der Tätigkeit des Anderen wussten, bleibt auch für ihn die Frage rätselhaft, warum bis kurz vor der Eröffnung der Ausstellungen kein wirklicher Austausch zwischen ihnen stattfand (25). Auch die Vorgehensweise beim Aufbau der Ausstellungen unterschied sich wesentlich (28-40). Rattemeyer kommt zu der Schlussfolgerung, dass der Kunsthallen-Chef Szeemann eher am Einzelwerk interessiert war (60), während der eher klassisch kunsthistorisch arbeitende Museumskurator Beeren eher den intellektuellen Austausch mit dem Künstler suchte (61).
Der auf Rattemeyers Aufsatz folgende dokumentarische Teil des Buches druckt nicht nur die entsprechenden Katalogtexte wieder ab, sondern verbindet überdies erstmals die Raumpläne mit dem von Rattemeyer kommentierten Bildmaterial der jeweiligen Installationen, macht es also möglich die Ausstellung trotz des historischen Abstands imaginär zu durchwandern (65-201). Daran anschließend wird die Rezeptionsgeschichte der Ausstellungen in den Mittelpunkt gerückt, wenn eine ausführliche Besprechung des italienischen Kritikers Tommaso Trini aus dem Jahre 1969 wiederabgedruckt wird (202-210) und der Aufsatz von Steven ten Thije eine breitere Übersicht über die öffentliche Rezeption beider Ausstellungen in der Schweiz und den Niederlanden ausbreitet (212-219). Am Leitfaden der Berner Ausstellung verfolgt Claudia di Lecce die Sponsoringmaßnahmen von Philip Morris (220-229). Den Abschluss des Buches bilden fünf 2008/9 durchgeführte Interviews mit Künstlern und Gilardi (230-265).
Das Buch ist insgesamt eine Fundgrube für eine Kunstgeschichtsschreibung der Gegenwart vor dem Hintergrund des Alterns der im Titel beschworenen "New Art". Es besticht im Zuge der komparativen Betrachtung durch akribische Archivarbeit und deren souveräner Auswertung: eine bravouröse Fallstudie zur Kunst- und Ausstellungsgeschichte um 1970. Wenn man sich noch Weiteres gewünscht hätte, dann wäre es die Verfolgung der weiteren Stationen der beiden Ausstellungen gewesen [3], die bezeichnenderweise beide nach Deutschland wanderten (von Amsterdam nach Essen bzw. von Bern nach Krefeld und abschließend nach London) und dort auch leicht verändert wurden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Bernd Klüser / Katharina Hegewisch (Hgg.): Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1991.
[2] Vgl. Søren Grammel: Ausstellungsautorschaft: Die Konstruktion der auktorialen Position des Kurators bei Harald Szeemann. Eine Mikronanalyse, Frankfurt a.M. 2005; Tobia Bezzola / Roman Kurzmeyer (eds.): Harald Szeemann - with by through because towards despite: Catalogue of all exhibitions 1957-2005, Zürich / Wien / New York 2007.
[3] Teresa Gleadowe weist in ihrem Vorwort auf genau diesen Punkt hin (vgl. 11).
Stefan Gronert