Jakob Zollmann: Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen. Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894-1915 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 191), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 400 S., 2 Karten, ISBN 978-3-525-37018-6, EUR 57,95
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War der koloniale 'Staat', den das Deutsche Reich im südwestlichen Afrika errichtete, schwach oder stark? Die Debatte ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil die koloniale Praxis bisweilen als entscheidendes Bindeglied zwischen dem zwar autoritären, aber rechtsstaatlichen System des Kaiserreichs und der genozidalen NS-Diktatur gesehen wird. An der kolonialen Peripherie sollen Praktiken, Verfahrensweisen und Denkmuster ausprobiert worden sein, die nach 1933 in die Metropole und den neuen kolonialen Raum des 'Dritten Reichs' in Osteuropa transferiert wurden. Was spricht für, was gegen diese Annahme?
Von dieser großen Frage ausgehend, nimmt die Berliner Dissertation Jakob Zollmanns den Bereich staatlicher Organisation und Aktivität in den Blick, wo man neben dem bereits intensiv untersuchten Militär am ehesten staatliche Machtfülle, die Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien und die Ausprägung einer neuen, proto-totalitären Einstellung vermuten könnte: die "Polizei". Auf der Grundlage einer Auswertung der einschlägigen Aktenbestände in Namibia, Berlin und Dresden sowie lokaler Zeitungen und der sehr breit erfassten Sekundärliteratur zum deutschen und internationalen Imperialismus zeichnet Zollmann ein differenziertes Bild, das er in drei große Abschnitte gliedert: die "Organisation der Polizei", die "koloniale Strafpraxis" und die "Polizei im kolonialen Raum".
Erste - vielleicht wenig überraschende, aber dennoch für die Argumentation eminent wichtige - Erkenntnis: Die Polizei kam spät, sie war klein und nicht durch besondere Kompetenz ausgezeichnet. In den ersten Jahren wurden Soldaten aus der "Schutztruppe" zum Polizeidienst abkommandiert, was auf die personell und institutionell prekäre Trennung zwischen militärischen und zivilen Behörden verweist. Nach dem Herero-Krieg richtete das Reich 1905 eine zivile Landespolizei ein, die für 110 Polizeistationen 450 deutsche Polizisten und fast ebenso viele einheimische "Polizeidiener" umfasste. Zollmann diskutiert ausführlich die Rekrutierung der Polizisten und Polizeidiener, die Stellung der afrikanischen Polizisten in einem auf der Bewahrung von Rassenunterschieden gegründeten Herrschaftssystem, das Fehlen einer überzeugenden Trennung von Justiz und Verwaltung, die fehlenden Berufungsmöglichkeiten gegen polizeiliche Entscheidungen sowie die Versuche lokaler Interessengruppen und Farmer, Einfluss auf die Struktur der Ordnungskräfte zu gewinnen und ihre Tätigkeiten, etwa bei der Kontrolle einheimischer Arbeitskräfte, in ihrem Sinne zu lenken. Dabei ist etwas überraschend, dass spätere Polizeidiener offenbar gar nicht selten ihre Karriere als zu Bestrafende begannen und so Kontakt zur Polizei gewannen. Diese ambivalente Position als Nicht-Vorbilder, die dann Vorbilder werden sollten, wurde durch ihre Stellung gespiegelt: zwischen der kolonialen Herrschaft und der einheimischen Bevölkerung, zwischen staatlichem Hoheitsträger und Angehörigen einer Schicht von afrikanischen Untertanen der weißen Bevölkerung. Daraus ergaben sich eingeschränkte Kompetenzen (Autorität durften sie nur gegenüber anderen "Eingeborenen" ausüben) und begrenzte Rechte (so erhielten Polizeidiener keine Pensionsansprüche, wenn sie auch bisweilen mit einfacheren Diensten betraut wurden, wenn sie körperlich weniger fit waren). Wie im Buch insgesamt geschieht die Darstellung immer im impliziten Vergleich zu anderen kolonialen Systemen und in einem klugen Rückgriff auf theoretische Deutungsangebote, die vielfach dem britischen Empire in Afrika entstammen.
Zweiter Punkt: Die deutsche Polizei in Südwestafrika dehnte ihre Kompetenzen weit über das hinaus aus, was im Reichsgebiet denkbar gewesen wäre. Ein Grund dafür war die Existenz von zwei Rechtssystemen: dem deutschen und dem für "Eingeborene", das zwar von derselben Polizei administriert wurde, aber mit deutlich breiteren Kompetenzen. In diesem Bereich blieben in Deutschland nicht mehr angewandte Strafen - wie die Prügelstrafe - weiter in Gebrauch; auch die informelle Todesstrafe, etwa das Erschießen von Viehdieben auf der "Flucht", war scheinbar eine gängige Praxis, ebenso wie Deportationen (von deutschen Sträflingen ins Reichsgebiet, von afrikanischen "Rebellen" in andere, weit entfernt liegende Kolonien, was wiederum nicht selten einer indirekten Todesstrafe gleich kam). Über juristische Formalia gingen die Beamten gerne hinweg, Urteile waren kaum begründet und unvollständig, bisweilen genügte der Wunsch eines Farmers, seine Arbeiter zu bestrafen, damit die Polizei Arrest oder Körperstrafen verhängte. Beamte waren zwar nicht gänzlich vor Bestrafung geschützt, wurden aber nur bei ganz erheblichen Verstößen gegen Dienstvorschriften und Strafrecht wirklich zur Rechenschaft gezogen. Insofern gab es schon Ansätze, die Kolonie zu einem Raum enthemmter kolonialer Willkür mit klaren rassistischen Zügen zu machen oder zumindest werden zu lassen.
Allerdings schränkt Zollmann diese Erkenntnis verbreiteter - und von der politischen Opposition im Reichstag mehrfach skandalisierter - Willkür mit guten Begründungen ein. Kritik an der polizeilichen Praxis vor Ort war auch innerhalb der kolonialen Verwaltung nicht selten und konnte sich bisweilen durchsetzen, gegenüber allzu brutalen Farmern ebenso wie gegenüber allzu enthemmten Beamten; das Problem war weniger ein ideologisches Programm aus Berlin oder Windhuk, sondern die Unfähigkeit der Verwaltung, die vielfach ganz alleine an entlegenen Orten tätigen Polizisten effektiv zu disziplinieren. Auch die unzweifelhafte Brutalität der Polizeijustiz hatte viel mit fehlenden Möglichkeiten und Ressourcen zu tun: die Beliebtheit der Prügelstrafe ergab sich auch aus dem Mangel an Gefängnissen, zumal die Verwaltung Weiße und Afrikaner nicht zusammen unterbringen wollte.
Das Thema der begrenzten Möglichkeiten steht ganz im Mittelpunkt des letzten Kapitels. Denn: es gab nur wenige Räume, welche die koloniale Polizei effektiv zu kontrollieren vermochte. In der weiten Peripherie von Deutsch-Südwestafrika standen einzelne Polizisten oft im buchstäblichen Sinne auf verlorenem Posten, verfügten über keine Häuser, Kommunikationswege oder Unterstützung und starben reihenweise am Fieber. Selbst in der kolonialen Metropole Windhuk führte die räumliche Segregation von Weißen und "Eingeborenen", die nach Stämmen in so genannten "Werften" angesiedelt wurden, dazu, dass es polizeifreie Räume gab. Dort musste sich die staatliche Autorität der Dienste einheimischer Mittelsmänner bedienen, die mit der Zeit ein erhebliches Maß an Autorität gewannen und so ein großes Maß an Unabhängigkeit erhielten. Insofern gelang es der Polizei auch nie, Regelungen, die sie für wünschenswert hielt (beispielsweise ein Verbot von Beziehungen weißer Männer zu afrikanischen Frauen) effektiv durchzusetzen.
Zollmann argumentiert entsprechend, dass den in mancherlei Hinsicht in der Tat entgrenzten Ansprüchen des kolonialen Staats in Südwestafrika seine existenzielle Schwäche gegenüberstand. Diese wurde sowohl in der Unfähigkeit deutlich, deutsches Recht oder zumindest deutsche Rechtsprinzipien in Afrika einzuführen, als auch in dem Unvermögen, wenigstens dem Kompromiss des Kolonialrechts Geltung zu verschaffen. Gegenüber renitenten Farmern, widerständigen Afrikanern und undisziplinierten deutschen Zuwanderern war der zivile deutsche Staat gleichermaßen machtlos.
Zollmann liefert somit ein ausführliches, plausibles Argument gegen die These "von Windhoeck 'nach Auschwitz'" (351). Wichtiger noch als die Zurückweisung dieser bereits vielfach kritisierten These ist jedoch die dichte Dokumentation kolonialer Herrschaftspraxis vor Ort, die in einem gut lesbaren, empirisch umfassend untermauerten, theoretisch ambitionierten und implizit komparativen Text vorgetragen wird.
Andreas Fahrmeir