Hermann Mückler: Kolonialismus in Ozeanien (= Kulturgeschichte Ozeaniens; Bd. 3), Wien: facultas 2012, 328 S., ISBN 978-3-7089-0398-9, EUR 19,40
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Das Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus ist längst zu einer core area der Geschichtswissenschaft erwachsen. Entsprechend facettenreich existieren Studien zu diesem Sujet. Ein in der geschichtswissenschaftlichen Forschungslandschaft verhältnismäßig randständiges Dasein hegen dabei jedoch noch immer die aus okzidentaler Perspektive geografisch peripher gelegenen Inseln Melanesiens, Polynesiens und Mikronesiens. Hermann Mücklers Publikation Kolonialismus in Ozeanien, die sich als dritter Band in seine mehrbändige Kulturgeschichte Ozeaniens einreiht, ist ein diesem Makel Abhilfe schaffendes, längst überfälliges Buch. Das komprimierte Übersichtswerk ist als interdisziplinärer Drahtseilakt an der Schnittstelle von Ethnologie, Soziologie, historischer Anthropologie und klassischer Geschichtsschreibung zu verstehen. Dabei gelingt es dem Autor stets die angemessene Balance zu wahren.
Mückler beginnt zunächst mit grundlegenden Überlegungen zum Kolonialismus, in denen die Herrschaftstypologie nach Max Weber und die Funktionsweise von Gesellschaften erörtert werden. Das ökonomisch, militärstrategisch oder welt- und herrschaftspolitisch motivierte Expansionsstreben der Kolonialmächte sorgte für eine massive Veränderung der Verhältnisse in den kolonisierten Gesellschaften Ozeaniens. Kolonialherren und Kolonisierte standen sich hier meist in einem äußerst asymmetrischen Beziehungsverhältnis gegenüber. Mückler konstatiert, dass "für die Kolonisierten [...] der wichtigste Aspekt des Kolonialismus nicht notwendigerweise die wirtschaftlichen Impulse, sondern primär die Erfahrung von Macht und die Unterwerfung unter fremde Herrschaft [war]." (68) Für die Kolonialmächte spielte dabei die Frage nach der Stabilität der Sozialordnung die entscheidende Rolle. Wie unterschiedlich Herrschaftsformen praktiziert wurden, wird dabei anhand der Gegenüberstellung der konservativen Kolonialpolitik Großbritanniens unter starker Einbindung indigener Eliten auf Fidschi und der französischen Siedlungskolonie Neukaledonien ersichtlich.
Der Autor betont, dass die alltäglich erfahrenen Personen- und raumbezogenen Fremderfahrungen als beiderseitiger "Kulturschock" (47) und "Faszinosum des Fremden" zugleich wirkten. Die Mischung aus dem Streben nach wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, Wissenstransfer und Bildungsexpansion in den Kolonialländern, gekoppelt mit oftmals romantisierender Neugier auf das Exotische kommen in der Publikation ausreichend zur Geltung. Ferner war auch Ozeanien ein großer "imperialer Ausweichraum" [1]: Zum einen bot er potentiellen Unruhestiftern, das heißt am Rande der Gesellschaft Stehenden und Abenteuerlustigen, als Auswanderungsobjekt eine Alternative im Leben. Zum anderen lenkte der Kolonienerwerb auch von innenpolitischen Problemen ab.
Auch wenn Mückler darauf zielt "westliche Sichtweisen und Deutungshoheiten mit solchen aus dem Pazifik zu verknüpfen" (10), ist das Buch doch vor allem aus okzidentaler Perspektive geschrieben - wie der Autor im Übrigen selbst eingesteht (10). Entsprechend untersteht der knapp 130 Seiten starke Hauptteil des Buches einer Untergliederung von oben: Den heutigen geografischen Bezeichnungen zieht Mückler der damaligen Zeit entsprechend eine Untergliederung nach den Kolonialmächten vor.
Zunächst wird anhand Spaniens erläutert, dass frühe Formen der Kolonisierung vor allem mit Missionsarbeit Hand in Hand gingen. In einem Exkurskapitel zu Mission und Kolonialismus wird hervorgehoben, dass oftmals gerade der Erstkontakt über den weiteren Verlauf entschied. Die Bekehrungsarbeit der Missionare griff als "Form kultureller Penetration" [2] dabei stärker in bestehende Kulturgefüge ein, als dies Kolonialherrschaft und -wirtschaft taten.
Das koloniale Wettrennen der Großmächte um Kolonien stellt erwartungsgemäß das Kernstück des Hauptteils dar: So ist beispielsweise die französische Erwerbung Tahitis als Reaktion auf die britische Einflussnahme durch den 1840 geschlossenen Vertrag von Waitangi zu verstehen, welche den französischen Gelüsten nach einer Annexion Neuseelands einen Riegel vorschob. Wie an vielen Stellen im Buch, tritt auch hier das interdisziplinäre Verständnis des Autors zutage, wenn Mückler dem Leser anhand Tahitis neben reiner Faktengeschichte die ebenfalls für Tonga, Samoa oder die Cook Inseln Gültigkeit besitzende Gesellschafts- und Sozialstruktur Polynesiens aufzeigt (147 ff.).
Die USA, heute die militärisch präsenteste und neben Frankreich aktivste Kolonialmacht im pazifischen Raum, stellt der Verfasser als eine bereits in den 1850er Jahren rücksichtslos handelsimperialistische Interessen verfolgende Kraft dar (120 f.), deren Einverleibung Hawaiis er aufgrund des fehlenden formellen Verzichts des Königshauses nicht zu Unrecht als eine "völkerrechtlich problematische Annexion" (205) bezeichnet.
Anhand des Deutschen Reichs demonstriert Mückler, dass der koloniale Werdegang Ozeaniens auf der Mikroebene nicht unwesentlich von der Rolle lokal agierender Akteure, wie der Gouverneure Wilhelm Solf (Samoa) oder Albert Hahl (Neuguinea), geprägt werden konnte. Die starke Rolle der Einzelakteure war in diesem Fall insbesondere dem Fehlen einer einheitlichen, übergeordneten Ozeanienpolitik des Deutschen Reiches geschuldet (180 f.). Im Übrigen wird in einem abschließenden Exkurskapitel hervorgehoben, dass das Potential der deutschen Kolonien Neuguinea und Samoa, die noch heute in der Literatur meist als "Prestigeobjekte ohne militärische oder ökonomische Bedeutung" [3] beschrieben werden, seitens der Politik verkannt worden sei. So hätten mit einer gewissenhaften Guanoförderung allein auf Nauru 75% des gesamtdeutschen Düngemittelbedarfs gedeckt werden können (251 ff.).
Abschließend ist zu erwähnen, dass an mehreren Stellen des Buches die Fidschi-Expertise des Autors immer wieder gewinnbringend zur Geltung kommt. Doch hätte auch Guam ab und an als Beispiel fungieren können. Immerhin stand die größte mikronesische Insel im Laufe seiner Geschichte doch unter spanischer, japanischer und US-amerikanischer Flagge und erlebte ergo gleich drei unterschiedliche Formen von Kolonialadministration. Ist beispielsweise verhältnismäßig wenig über die japanische Besatzung der Pazifikinseln in westlichen Sprachen vorhanden, hätte am Beispiel Guam diese exemplarisch durchexerziert werden können. [4] Zudem wäre Guam dafür geeignet gewesen, Mücklers Abschlussthese "Das Kapitel Kolonialismus in Ozeanien ist noch nicht abgeschlossen" (260) inhaltlich zu unterfüttern.
Auch der Aspekt, dass Ozeanier zum einen an die europäischen Kriegsschauplätze ihrer Kolonialherren verfrachtet wurden, zum anderen der Zweite Weltkrieg auch im Pazifik ausgetragen wurde, kommt aus Sicht des Rezensenten etwas zu kurz. Besonders der zwischen Japan und den USA geführten Schlacht auf der Solomoneninsel Guadalcanal, die einen Wendepunkt im Kriegsgeschehen und somit einen zentralen Schauplatz der Geschichte darstellte, hätte mehr Platz im Band gebührt. Welche Auswirkungen der hier heftig und radikal geführte Krieg auf die vor Ort Lebenden hatte und welche Spuren er hinterließ, finden leider keine Erwähnung.
Nichtsdestoweniger hat Mückler mit diesem Buch Großes geleistet. Mit sinnigen Zeittafeln und anschaulichem Kartenmaterial ausgestattet, wird "Kolonialismus in Ozeanien" schon allein mangels Konkurrenz auf dem deutschsprachigen Büchermarkt rasch zu einem Standardwerk aufsteigen.
Anmerkungen:
[1] Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, 33.
[2] Klaus J. Bade: Imperialismus und Kolonialmission. Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium. Beiträge zur Kolonial und Überseegeschichte, Wiesbaden 1982, 18.
[3] Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, 32.
[4] Hierzu hat die japanische Historikerin Higuchi Wakako breit und auch in englischer Sprache publiziert. Wakako Higuchi: The Japanese Administration of Guam, 1941-1944: A Study of Occupation and Integration Policies, with Japanese Oral Histories, North Carolina 2012.
[5] Vgl. Recherche International e.V. (Hrsg.): "Unsere Opfer zählen nicht": die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin u.a. 2005, hier: zum Einsatz von aus ozeanischen Kolonien stammenden Soldaten im Ersten Weltkrieg 312 f., im Zweiten Weltkrieg 326 ff.
Takuma Melber