Elizabeth Guilhamon / Daniel Meyer (Hgg.): Die streitbare Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur (= Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik; Bd. 13), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010, 241 S., ISBN 978-3-631-61256-9, EUR 42,80
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Die überwiegend auf Projekten der Pariser 'Groupe de Recherche sur la Culture de Weimar' [1] an der 'Maison des Sciences de l'Homme' beruhenden Bände der Reihe 'Schriften zur Politischen Kultur der Weimarer Republik' haben sich das Ziel gesetzt, die neuesten Forschungsergebnisse zu geistigen Entwicklungen und Diskursen dieses Zeitabschnitts zu dokumentieren. Die Schriftenreihe verfolgt damit Erkenntnisinteressen der jüngeren Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, die den Fokus auf Forschungsgegenstände wie politische Kultur, Milieus und Mentalitäten legt.
Der jüngst erschienene Band 13 widmet sich der Frage nach der "Repräsentation von Macht und Geschichte" anhand der Analyse literarischer Texte größtenteils bekannter Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann sowie Robert Musil, Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Ödön von Horváth und Hermann Broch. [2] Ausgehend von der in der Weimarforschung bereits herausgearbeiteten Erkenntnis der entscheidenden Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Entwicklung der politischen Kultur in der ersten deutschen Republik untersuchen die Beiträge die Wahrnehmung von Geschichte im Kontext ihrer Repräsentation in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Die als Forschungsdesiderat ausgerufene Leitfrage liegt dabei darin, inwiefern eine nach und durch den Krieg entstandene gewandelte Perzeption der Historie in gattungsspezifischen und formalen literarischen Entwicklungen zum Ausdruck kommt; dies gerade auch in Hinblick auf neue Medien. Die zugrundeliegende These postuliert den Zusammenhang von geschichtsphilosophischen Fragestellungen und politischer Krisensituation nach 1918 sowie eine mehrheitliche Abkehr von linearen Fortschrittsauffassungen des 19. Jahrhunderts in den untersuchten literarischen Texten.
Die vier Beiträge von Teil 1 analysieren in einer kulturgeschichtlichen Herangehensweise die Verbindungen zwischen historischem Denken und Ethik, d.h. die Ableitung politischer und ethischer Folgerungen aus geschichtsphilosophischen Stellungnahmen der untersuchten Werke. Michael Neumann (27-42) zeigt, wie Geschichtswahrnehmung zu Legitimitätsansprüchen führen und somit politisch instrumentalisiert werden kann. Er diagnostiziert - u.a. an Texten Ernst Jüngers und Martin Heideggers - eine Hochkonjunktur des Motivs der 'Ergriffenheit' in der Literatur der 20er und 30er Jahre, die etwa bei Ernst Jünger als Resultat der Kriegserfahrung seine Anwartschaft auf "prophetische Autorschaft" untermauert und zusätzlich politische Schlussfolgerungen - im Sinne einer "'kommende[n] Gemeinschaft" enthalten habe (40). Gérard Raulet (43-70) präsentiert Heinrich Manns 'Henri Quatre' (1935/38) als politischen Bildungsroman, der die Erziehung eines Volkes zu Freiheit und Pluralismus thematisiert. Die utopische Vision eines vereinten Europas bleibe dabei aber an ein pessimistisches Geschichtsbild unter dem Motiv der 'ewigen Wiederkehr des Gleichen' gekoppelt. Daniel Argelès (70-85) interpretiert Thomas Manns 'Zauberberg' (1924) als Ausdruck der Veränderung von Manns geschichtsphilosophischem Denken während der 20er Jahre. Die Abkehr von einer von Schopenhauer geprägten zyklisch-deterministischen Auffassung infolge des Weltkriegs hin zur Erfahrung von Geschichte als labiler, von stetiger Kontingenz gekennzeichneter offener Prozess lasse sich motivisch im Roman fassen. Die mehrdeutige literarische Darstellung des Krieges unterstreiche sein herkömmliche Geschichtsbilder umstürzendes, tiefe philosophische Verunsicherung auslösendes Potenzial. In Achim Geisenhanslükes (87-105) Untersuchung zu Robert Musils 'Mann ohne Eigenschaften' (1930/32/43) wird die Erfahrung des Weltkriegs ebenfalls zum Markstein einer Abkehr vom Fortschrittsprinzip, wobei die 'Eigenschaftslosigkeit' die politische Unfreiheit des Subjekts in der Geschichte markiere. Anstatt sich auf ein Geschichtsmodell festzulegen, artikuliere der Roman die individuelle wie kollektive 'Desillusionierung', den fundamentalen Sinnverlust, der in resignativer Verzweiflung ertragen werden muss.
Teil 2 befasst sich mit der Geschichtsrhetorik während der Weimarer Republik in ihrem Zusammenhang mit dem Medium Literatur. Die Beiträge demonstrieren den Einfluss des historischen Denkens zeitgenössischer Autoren auf die Auswahl von Genres und die literarische Gestaltung ihrer Werke. Christa Karpenstein-Eßbach (109-126) untersucht die Deutung der deutschen Kriegsniederlage in der Literatur am Ende der 20er Jahre und entwickelt daraus drei typische Deutungsmuster. Für Ernst Glaesers Roman 'Jahrgang 1902' (1928) zieht sie das Fazit einer 'generativen' Interpretation des Krieges als innenpolitischer Generationenkonflikt, mit dem ein ins Politische gewendeter Potenzanspruch der jungen Generation in der Republik begründet werde. Edlef Köppens Roman 'Heeresbericht' (1930) als 'vertikaler' Ansatz dokumentiere hingegen mithilfe von Montagetechniken die Realität des Krieges unter Verzicht auf eine historische Perspektivierung und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für die eigene Gegenwart. Das Drama 'Wunder um Verdun' (1932) von Hans Chlumberg enthalte ein kollektives Deutungsmuster, das die nach Kriegsende fortbestehenden, auf einen neuen Krieg zusteuernden "Unabgegoltenheiten" (123) aller Nachkriegsgesellschaften symbolisch vor Augen führe. Bei allen drei Werken sieht Karpenstein-Eßbach die nach 1918 nicht mehr bestehende Möglichkeit einer positiven Geschichtsphilosophie programmatisch vorgeführt, der Krieg erscheint als radikaler Bruch mit der davorliegenden Geschichte. Daniel Meyer (127-139) präsentiert Alfred Döblins Versepos 'Manas' (1927) als exemplarische Verkörperung des 'Epischen', das für Weimar typisch gewesen sei und zur 'Binnenkonjunktur' der Gattung in dieser Zeit geführt habe. Döblin deutet nach Meyer den Krieg darin als radikalen Sinnverlust und die Kriegsheimkehr als Ausgangspunkt erneuter Sinnfindung. Das Versepos dient der Versinnbildlichung von Döblins zyklischer Auffassung von Geschichte, indem die Hermetik des literarischen Textes die Undurchschaubarkeit historischer Prozesse spiegele, die in der Wahrnehmung zwischen den Polen 'Chaos' oder 'Fortschritt' schwanken. Claire Kaiser (141-150), die sich mit 'Berlin Alexanderplatz' (1929) ebenfalls Döblins zuwendet, betont übereinstimmend den zyklischen Charakter seines Geschichtsbildes und bezeichnet den Roman als pessimistisches Bild der Moderne mit apokalyptischen Bestandteilen. Geschichte erscheint darin als Abfolge von Aufstieg und Untergang, die Gegenwart wird - als Resultat des Krieges! - zur Epoche von Tod und Zerfall, zum katastrophenhaften Ende der Historie. Im Gegensatz zur Apokalypse der Bibel biete das Buch aber keine metaphysische oder säkulare Heilsperspektive. Paul Laveau (151-162) befasst sich mit Bertolt Brechts 'Dreigroschenroman' (1934), der im Exil aus der Unzufriedenheit des Autors mit der in seinen Augen misslungenen Rezeption der 'Dreigroschenoper' (1928) entstand. Laveau zufolge ging es Brecht darum, die erwünschte Interpretation des Stoffes als Gesellschaftskritik und -satire entschieden zu unterstreichen. Sein satirisches Grundanliegen bestand demnach in der Demaskierung des fundamentalen Dranges nach bürgerlicher Anerkennung unter der Bereitschaft, dabei auch zu kriminellen Mittel zu greifen: Skrupellosigkeit, Zynismus, Korruption, Verrat, Brutalität und sogar Mord werden als Handlungsmittel der bürgerlichen Gesellschaft gezeichnet. Nicole Pelletier (163-176) beschäftigt sich mit zwei Geschichtskomödien Ödön von Horváths, die sie als Ausdruck einer für viele Exilautoren nach 1933 typischen Hinwendung zur Geschichte deutet. Für Horváth selbst diagnostiziert sie zusätzlich eine metaphysische Wende nach 'innen': Seine ein ethisches Liebesprinzip vertretenden Geschichtskomödien 'Dorf ohne Männer' (1937) und 'Pompeji' (1937) stellen demzufolge eine humanistische 'Antwort' auf das 'Dritte Reich' dar. Als Teil eines geplanten, aber nicht mehr verwirklichten Zyklus, der den ewigen Kampf von 'Gut' und 'Böse' thematisieren sollte, symbolisieren sie gleichzeitig Horváths ebenfalls zyklisch angelegte, zum Pessimismus neigende Geschichtsphilosophie.
Die Beiträge von Teil 3 bewegen sich im Themenfeld von 'Geschichtsdiskurs und Politik'. Luca Crescenzi (179-193) widmet sich wie Argelès Thomas Mann, indem er die Behandlung von Zeit in Essays und Romanen des Schriftstellers aus den 1920er Jahren untersucht und insbesondere die Stellungnahme zum politischen Zeitenwandel in den Fokus nimmt. Manns Rede 'Von deutscher Republik' (1922) erscheint dabei als Versuch einer Rechtfertigung der Republik aus konservativer Sicht. Insofern sieht Crescenzi dabei eine Kontinuität und keinen Bruch in Manns Auffassungen seit den 'Betrachtungen eines Unpolitischen' (1918). Mit dem Motiv der 'Humanität' sei vielmehr eine Synthese zwischen vordemokratischen und republikanischen Denken fassbar, da Mann während der Weimarer Zeit eine auch für das konservative Lager akzeptable Deutung der Demokratie aus hanseatisch-bürgerlicher Tradition versucht habe. Elisabeth Guilhamons Aufsatz (221-235) zeigt am Beispiel der Dramen 'Die Entsühnung' (1933) von Hermann Broch und 'Die Heilige Johanna der Schlachthöfe' (1931) von Bertolt Brecht das Nebeneinander zweier grundverschiedener Ästhetiken trotz Gemeinsamkeit von Stoff und Genre: Beide Autoren kritisieren Konzernbildung und Finanzspekulation. Broch liefert eine Parabel auf den Überlebenskampf Darwin'schen Musters, demonstriert die Ohnmacht des Menschen und zeichnet das Bild einer 'Amok laufenden' Welt. Brecht hingegen verfolgt praktische politische Absichten, indem er durch die Historisierung der Gegenwart Arbeiter- und Kleinbürgerschaft 'aufklären' und zum 'Widerstand' aufrufen will.
Die Grundthese des Bandes, dass in der Weimarer Republik die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges als "zur Katastrophe gesteigerte Erfahrung der Kontingenz" (9) wirksam wurde, wird in den einzelnen Beiträgen überzeugend nachgewiesen. Der Zusammenhang zwischen politischer und geistiger, geschichtsphilosophischer Verunsicherung in der Zeit nach 1918 kommt deutlich zum Ausdruck. Die starke Fokussierung auf den Krieg kann aber auch als Mangel erscheinen, insofern die Relevanz anderer, den politischen Diskurs der Weimarer Zeit maßgeblich bestimmender historischer Ereignisse wie der Verfassungsumsturz vom November 1918 kaum oder gar nicht thematisiert wird. Als Anknüpfungspunkt für weitere wichtige Forschungen bietet sich die teilweise anklingende Frage an, inwieweit das 'Heilsangebot' des Nationalsozialismus in den geschichtsphilosophischen Deutungsversuchen und Sinnfindungsprozessen der Literatur der Weimarer Republik eine Rolle spielt.
Anmerkungen:
[1] Homepage: http://www.weimar.msh-paris.fr/
[2] Zum hinter der vorliegenden Veröffentlichung stehenden Projekt siehe die Projektskizze auf der Homepage der Forschergruppe: http://www.weimar.msh-paris.fr/n_projets.html#hlm
Nikola Becker