Helmut Bräuer: Stadtchronistik und städtische Gesellschaft. Über die Widerspiegelung sozialer Strukturen in der obersächsisch-lausitzischen Stadtchronistik der frühen Neuzeit, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 319 S., ISBN 978-3-86583-406-5, EUR 29,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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In seinem Theatrum Freibergense Chronicum, einer Mitte des 17. Jahrhunderts im sächsischen Freiberg erschienenen "Beschreibung der alten löblichen Berg Haupt Stadt Freyberg in Meissen", berichtet Andreas Möller über die dramatischen Nahrungsengpässe im Jahr 1580, dass mancher Stadtbewohner bis zu vier Meilen nach Brot habe laufen müssen und selbst dann nicht sicher sein konnte, etwas zu erhalten. Der renitenten Bergleute wegen habe der Rat bereits einen Aufstand befürchtet und vorsorglich eine Bürgerwache eingerichtet, "dadurch nechst Gottes gnädigen Hülffe dem zusammen lauffenden Pöbel inhalt geschehen [...]. Daher unter dem Armuth grosse noth und wehklagen sich erhoben/ wie denn zwo Weiber/ eine auf der Newensorge/ die andere fürm Meißnischen Thor/ ingleichen ein Bergmann auffn Brande/ aus Bestürtzung und Kummer sich selbst erhencket" (93). Solche und andere Nachrichten über Teuerungen, Missernten und innerstädtische Konflikte, aber auch Informationen über politisch-dynastische Differenzen, kirchlich-religiöse Entwicklungen und persönliche Erfahrungen finden sich zuhauf in den chronistisch-annalistischen Werken, die Helmut Bräuer in seiner jüngsten Monografie am Beispiel des obersächsisch-lausitzischen Raumes über die städtische Chronistik der frühen Neuzeit betrachtet.
Das Untersuchungsfeld Stadtchronistik beschäftigt den 1938 in Chemnitz geborenen Historiker, der bis 1992 als Hochschullehrer an der Universität Leipzig tätig war, im Grunde seit seiner in den 1960er Jahren erarbeiteten Dissertation. Auch in späteren Jahrzehnten verfasste er eine große Zahl von Einzelstudien zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wirtschafts-, Sozial-, Stadt- und Historiografiegeschichte. Die vorliegende Monografie, die auf jeder Seite die tiefe Vertrautheit des Autors mit dem aktuellen Forschungsstand verrät, ist in gewisser Weise eine Summe dieser Forschungsanstrengungen, für sich genommen aber eine eigenständige, klar konzipierte und - dies sei bereits zu Beginn vermerkt - ungemein materialreiche und anregende Monografie.
Es geht Bräuer darum, aus zeitgenössischen Beobachtungen der obersächsisch-lausitzischen Chronikenschreiber des 16. bis 18. Jahrhunderts ein Bild der städtischen Gesellschaft in Sachsens früher Neuzeit zu gewinnen - ihrer sozialen Hierarchien, kommunalen Beziehungen, wirtschaftlichen Gegebenheiten und kulturellen Traditionen und nicht zuletzt der Bedeutung von Kirche und Religion in Alltag und familiärem Umfeld. Herangezogen wurden rund 160 chronikalische Werke, von umfassenden, oft mehrbändigen Gesamtdarstellungen der Stadtentwicklung über Annalen und Quellensammlungen bis hin zu Familienchroniken, Diarien und individuellen "Merckbüchlein". Etwa die Hälfte dieser Werke, die nicht unmittelbar aus landesobrigkeitlicher, kirchlicher, korporativer oder kommunaler Verwaltungstätigkeit hervorgingen, liegt lediglich in handschriftlicher Form vor. Es sind mitunter sperrige Texte, die mit Verschlüsselungen und Anspielungen arbeiten, verzerren und überzeichnen und darüber hinaus ganz eigene Denk- und Darstellungsmuster offenbaren. Was diesen Texten gleichwohl zu entnehmen ist, zeigt Bräuer mit großer Akribie und Anschaulichkeit. Da wird nicht einfach ausgeblendet, was heutigen Ohren als unwesentlich, kurios oder phantastisch erscheint, und nicht geglättet, was vermeintlich widersprüchlich, diffus oder inhomogen ist. So schreibt Bräuer beispielsweise über die mannigfachen patria-Bezüge, die meist in direkten Anreden oder weit ausholenden Widmungsvorreden zum Ausdruck kamen: "Es war dies eine - gewiß langatmige - Versammlung nicht ungewichtiger Attribute und nuancenreicher Aspekte, mit denen das 'Vaterland' geschmückt wurde, um zu begründen, daß die Wertschätzung der Chronisten, die sie gegenüber der Stadt äußerten, nicht auf einen Unwürdigen fiel." (57) Es ist das stete Nebeneinander von Quellentext und einordnender Deutung, von beschreibenden und analysierenden Passagen, das die Lektüre dieser auch als Lesebuch zu empfehlenden gelehrten Abhandlung bereichert und zu einem besonderen Lesevergnügen macht.
Die Ergebnisse der gut geschriebenen und bis ins Detail gewissenhaft gestalteten Studie sind naturgemäß vielfältig. Sie betreffen zunächst und vor allem die Chronisten selbst, die aus unterschiedlichen sozialen und intellektuellen Milieus stammten, verschiedenen Tätigkeiten in den hier betrachteten drei Jahrhunderten nachgingen und jeweils spezifische Geschichtsbilder hervorbrachten. Wertvoll ist in diesem Zusammenhang auch eine Zusammenfassung der wichtigsten Autoren und ihrer in Residenz-, Messe- Universitäts-, Berg-, Land- und Exulantenstädten entstandenen Werke, die in ihrer Aussagekraft und Auswahl weit über elementare bio-bibliografische Angaben hinausgehen (215-249). Das Autorenprofil verschob sich zwischen 1500 und 1800 zugunsten von Pastoren, Kantoren, Schulmeistern und Handwerkern, und auch in formaler Hinsicht und mit Blick auf Zielgruppen, Funktionen und Gestaltungsprinzipien lassen sich bei den einzelnen Chroniken deutliche Veränderungen beobachten. Typisch an dem einleitend genannten Zitat aus dem Theatrum Freibergense Chronicum Andreas Möllers ist, dass die dem besitzenden Teil der Stadtbewohnerschaft angehörenden Chronisten Unterschichten kaum behandelten, und falls doch, dann lediglich in einem ausgrenzenden Sinn als Symbol von Aufruhr und Gefahr. Weitere Einblicke und Erkenntnisse beziehen sich auf Werte der Bürgerschaft, auf Ordnung, Arbeit, Ehre, Glaube und Kirche sowie Friedenshoffnungen. In der kürzesten Form lassen sich die reichen Befunde des Buches, das durch Personen-, Orts- und Sachregister erschlossen ist, mit dem letzten Satz des Autors zusammenfassen: "Als geistige Produkte städtebürgerlichen Seins und städtebürgerlicher Weltsichten haben die annalistisch-chronikalischen Werke direkt und indirekt am geistigen Leben der frühen Neuzeit teilgenommen. Insofern verdienen sie eine intensive und kritische Beachtung als inhaltsreiche Quellen für die Erforschung städtischer Geschichte" (259).
Joachim Bahlcke