Ferenc Tóth (Bearb.): Correspondance diplomatique relative à la guerre d'independance du prince François II Rákóczi. (1703-1711) (= Bibliothèque d'études de l'Europe Centrale; No. 9), Paris: Editions Honoré Champion 2012, 609 S., ISBN 978-2-7453-2329-3, EUR 133,25
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Der 1874 von dem französischen Verleger Honoré Champion (1846-1913) in Paris ins Leben gerufene und nach seinem Gründer benannte Verlag, der 1973 an das schweizerische Verlagshaus Slatkine verkauft wurde, ist vor allem durch wissenschaftliche Publikationen zur Literaturgeschichte, Philosophie und Geschichte sowie zur vergleichenden Sprach- und Literaturwissenschaft bekannt geworden. Einen nicht unbedeutenden Schwerpunkt bilden zudem Editionen, die freilich im deutschen Sprachraum immer weniger Resonanz finden. Die Zahl der Bibliotheken etwa, die in Deutschland das 2009 von Maria-Cristina Pitassi in sechs Bänden herausgegebene "Inventaire critique de la correspondance de Jean-Alphonse Turrettini" anschafften, lässt sich an einer Hand abzählen. Nicht viel besser steht es um die 2010 von dem französischen, auf das frühneuzeitliche Ostmitteleuropa spezialisierten Historiker Daniel Tollet begründete "Bibliothèque d'études de l'Europe Centrale". Der geographische Schwerpunkt dieser innovativen Schriftenreihe, in der bisher pro Jahr rund drei Bände erschienen, liegt auf Südosteuropa, genauer auf Ungarn. Die vorliegende Edition, die Auszüge der diplomatischen Korrespondenz aus der Zeit des von Ferenc II. Rákóczi geführten Unabhängigkeitskrieges der Jahre 1703 bis 1711 enthält, fügt sich insofern ausgezeichnet in einen bereits bestehenden thematischen Schwerpunkt ein. Dass gerade in Frankreich bis zur Gegenwart ein starkes Interesse am frühneuzeitlichen Ungarn besteht, hat viele Ursachen, die auch mit Aspekten moderner Migration und Wissenschaftsorganisation zusammenhängen.
Vor dem Hintergrund der ungarisch-österreichischen Konfliktgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts spielten Quellenpublikationen namentlich zu den einzelnen Adelsaufständen in Ungarn stets eine wichtige zeitgeschichtliche Rolle. Als Joseph Fiedler 1855 den ersten Band seiner "Actenstücke zur Geschichte Franz Rákóczy's und seiner Verbindungen mit dem Auslande" in Wien veröffentlichte, zeigte er sich zuversichtlich, dass "durch die Veröffentlichung dieser Actenstücke ein wichtiger, bisher fast ausschliesslich nach den Angaben der ungarischen Parteiführer selbst, wie natürlich, höchst einseitig behandelter Abschnitt der vaterländischen Geschichte in mancher Beziehung ein neues Licht und neue Gestalt erhalten" (VII) dürfte; die "politische Wichtigkeit dieser Publication" (X), so Fiedler, sei unstrittig. Auch auf diese Zusammenhänge geht Ferenc Tóth in der Einleitung zu seiner eigenen Auswahledition ein, die nicht nur die intensiven Beziehungen zwischen Frankreich und Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert widerspiegelt, sondern auch das beinahe durchgehend problematische Verhältnis zwischen dem französischen Hof und dem Kaiserhof in Wien.
Die Auswahledition basiert auf langjährigen Vorarbeiten des 1994 gestorbenen Altmeisters der ungarischen Frühneuzeitforschung, Kálmán Benda, der ursprünglich eine vollständige Erfassung und Veröffentlichung des einschlägigen Quellenmaterials angestrebt hatte. Als Referenzwerk, besonders für die engeren editionsphilologischen Entscheidungen, diente Tóth vor allem die Edition "Correspondance diplomatique de François II Rákóczi 1711-1735", die Béla Köpeczi 1999 in Budapest herausgab. Mit Blick auf die konkurrierenden Editionen und Editionstypen wird man bei Tóths Werk am ehesten von einer Studien- oder Leseausgabe sprechen dürfen. Nicht in französischer Sprache verfasste Schriftstücke wurden übersetzt, chiffrierte Texte ausschließlich in entzifferter Form präsentiert. Der Herausgeber entschied sich im Grundsatz für modernisierende Eingriffe in Orthographie und Interpunktion, ohne deren Qualität und Umfang allerdings näher zu beschreiben. Eine Dokumentation der Textgenese, mithin eine Darstellung von Entstehungsstufen, Überlieferungen etc., war ebenso wenig beabsichtigt wie die Ausarbeitung eines umfassenden sachkritischen Apparats. Der Leser erhält lediglich sparsame Hinweise auf Personen oder Ereigniszusammenhänge, die ein unmittelbares Verständnis des Quellentextes erleichtern sollen. Umfangreicher wird der historische Kontext in der hundertseitigen Einführung angesprochen, die zugleich einen Überblick über den aktuellen internationalen Forschungsstand vermittelt.
Zahlreiche Schriftstücke, vor allem diejenigen aus den Archives du Ministère des Affaires Étrangères in Paris, werden erstmalig publiziert, andere sind dem Leser bereits aus früheren Quelleneditionen bekannt. Ihre Auswahl und Anordnung lässt zwei unterschiedliche Zielsetzungen erkennen. Zum einen sollen die Persönlichkeit von Ferenc II. Rákóczi, sein individueller Lebensweg und sein politisches Denken, aber auch die Familie als Ganze im Rahmen der ungarischen Adelsgesellschaft und -kultur vorgestellt werden. Zum anderen stehen die im engeren Sinn diplomatiegeschichtlichen Verwicklungen, also Korrespondenzen von Gesandten, höfische Initiativen und europäische Entscheidungsträger, während des Konflikts der Jahre 1703 bis 1711 im Mittelpunkt. Die Zuordnung der einzelnen Schriftstücke in sieben Themenfelder lässt diese doppelte Zielsetzung klar erkennen: Die Rákóczi und Ungarn im 17. Jahrhundert; Kindheit und Jugend von Ferenc II. Rákóczi; Ursachen des ungarischen Unabhängigkeitskrieges und sein Ausbruch; Staat und Armee in Ungarn in der Epoche von Ferenc II. Rákóczi; Die auswärtige Politik Frankreichs und Ungarn; Das Ende des Unabhängigkeitskrieges; Rákóczi in der Emigration.
Was die moderne Editionswissenschaft allgemein als Stärken und Schwächen von Studien- und Leseausgaben herausgearbeitet hat, lässt sich exemplarisch an der vorliegenden Auswahledition bestätigen. Ein Werk wie das vorliegende ist für die Lehre und auch für eine breitere Orientierung von Nutzern verschiedener Fachdisziplinen ohne Frage von Nutzen, zumal die Lektüre der einzelnen Schriftstücke in Originalsprache aufgrund fehlender Latein- und Ungarischkenntnisse oft gar nicht möglich sein dürfte. Für einen solchen Nutzerkreis ist allerdings der Preis des Werkes mit Abstand zu hoch. Der Fachmann wiederum wird die zum Abdruck gelangten Schriftstücke ohne zuverlässige textgenetische Apparate kaum sinnvoll verwenden können.
Joachim Bahlcke