Nicolai Sinai: Fortschreibung und Auslegung. Studien zur frühen Koraninterpretation (= Diskurse der Arabistik; Bd. 16), Wiesbaden: Harrassowitz 2009, XI + 324 S., ISBN 978-3-447-05873-5, EUR 68,00
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Quo vadis Koranforschung?
Im Paradigma des Historismus erklärt sich der Sinn eines Textes ganz aus dem Vorfeld seiner Entstehung. Ebenso wie der Geist vergangener Zeiten aus ihren Texten zu rekonstruieren ist, ebenso sind die Texte vor dem Hintergrund ihrer Zeit zu verstehen. Der Text ist Produkt und Zeuge seiner Zeit, und auch wenn er über seine Zeit hinaus normativ sein sollte, so ist er das doch nur in seinem ursprünglichen = eigentlichen Sinn. Historistische Koranforschung, wie sie von Nöldeke und anderen betrieben wurde, zielte deshalb auf die Genese des Korantextes und sein historisches Umfeld, nicht auf seine Auslegungs- und Wirkungsgeschichte.
Abgesehen von den tieferen Aporien des Historismus aber gilt: Spätestens seitdem sich in den Geisteswissenschaften die Auffassung durchgesetzt hat, dass der Sinn eines Textes weniger darin liegt, wie er entstanden ist und eher darin, wie er verstanden wurde; spätestens, seitdem Gadamer die Abstraktionen des Historismus sichtbar gemacht hat; und spätestens, seitdem der Strukturalismus, von Frankreich ausgehend, uns in Bewusstsein gerufen hat, dass Texte unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte rezipiert werden, ist uns eine solche, naiv-historistische Einstellung nicht mehr möglich.
Weitgehend unberührt von geistesgeschichtlichen Paradigmenwechseln blickt die orientalistische Koranforschung mittlerweile jedoch auf über hundertfünfzig Jahre zurück, während denen es immer wieder um nichts anderes ging als die Entstehung des Korantextes und seinen Sinn im Ursprungsmilieu. Der dafür übliche Begriff "Koranforschung" ist im Grunde zu weit. Statt von Koranforschung spreche ich daher im folgenden von Koranphilologie und meine damit alle Bemühungen der Koranforschung, die Gestalt des Korantextes zu sichern, seine Genese zu rekonstruieren und seinen Ursprungssinn zu erschließen. [1]
Das übergeordnete Anliegen von Nicolai Sinais Dissertation Fortschreibung und Auslegung sehe ich darin, einen Ausweg aus dieser Sackgasse aufzuzeigen. Ausweg heißt einerseits die Einsicht verarbeiten, dass der Sinn eines Textes, wie Madigan unter Berufung auf Gadamer gesagt hat, eben nicht so sehr im "mens auctoris" liegt, "but rather in the mens lectoris or, better, in the complex relationship between the text and its readers in their contexts"[2], andererseits aber auch die auf der Hand liegende Konsequenz daraus vermeiden, nämlich die "Substitution von Koranforschung durch die Erforschung der Koranrezeption" (ix) und damit die Entwertung weiter Teilen der in der Koranphilologie angesammelten Traditionsbestände. Sinai will eine hermeneutische Wende anstoßen, die, vom Boden der Koranphilologie ausgehend, nun auch die erste Deutungsgeschichte stärker in den Blick nimmt und damit letztlich die Einheit von Koranphilologie und Koranrezeptionsforschung erweist.
Darüber, ob es ihm gelungen ist, wird sich streiten lassen. Sinai beginnt, indem er die kategoriale Unterscheidung zwischen Genese und Exegese als Grundlage der Trennlinie zwischen Koranphilologie und Koranrezeptionsforschung so weit wie möglichst abschwächt ("Zum Begriff des Kanons", 1-22). Sinais Kritik richtet sich zur Hauptsache gegen Jan Assmanns extensionale, punktuelle und auf die Normativität der Texte abstellende Kanonkonzeption. Ein kanonischer Text wie der Koran oder die Bibel zeichnet sich für Assmann dadurch aus, dass er durch einen Akt der Kanonisierung in Bestand und Wortlaut festgeschrieben wird. Ab dem Zeitpunkt der Kanonisierung verkörpert der Text die Wahrheit schlechthin und fordert lebenspraktische Umsetzung. Letzteres zu leisten ist nach Assmann die Hauptaufgabe der Exegese, die in Assmanns Modell deshalb erst nach der Kanonisierung einsetzt. Der Akt der Kanonisierung ist die Wasserscheide zwischen Textgenese und Textexegese.
Dagegen bringt Sinai Kanonbegriffe ins Spiel, die in der Kanonisierung weniger eine punktuelle Zuschreibung sehen als einen Prozess und nach denen Exegese nicht hauptsächlich der Umsetzung von lebenspraktischer Normativität dient, sondern eher der Herstellung und Absicherung von Identität. Sinai geht davon aus, dass kanonische Texten schon vor der Kanonisierung im Assmannschen Sinn "Plausibilitäts- und Relevanzerfahrungen" (9) reflektieren, die eine Gemeinde mit dem Text gemacht hat. Mit der Festschreibung des Textes kommt lediglich die erste Etappe eines übergreifenden Prozesses zu ihrem Ende, in dessen Verlauf sich die Wahrheits- und Sinnerwartungen einer Gemeinde allmählich auf bestimmte Texte konzentrieren. Die Unterscheidung zwischen Textgenese und Textexegese wird insofern relativiert, als das Wachstum eines Textes, der schon um seine Wichtigkeit weiß, immer auch Selbstinterpretation sein soll. Die zu einem solchen Nukleus neu hinzukommenden Texte legen das, was schon an Texten da ist, aus.
Die Kanonisierung, verstanden als die Arretierung der Textgestalt und die Beendigung seines Wachstums, ist für Sinai dann nicht mehr der Beginn von Auslegung, sondern nur die Verlagerung ihres Ortes heraus aus dem Text in den Kommentar. Aus interpretierender Fortschreibung wird eigentliche Exegese, die nun aber nicht einseitig auf die lebenspraktische oder gar im engeren Sinn juristische Anwendung abzielt, sondern, wie Sinai herausarbeitet, sich oft durch eine erstaunliche "Lebensferne" auszeichnet. Auslegung beginnt somit anders als bei Assmann nicht erst nach der Kanonisierung und ist weder vor noch nach der Kanonisierung so stark normativ, wie Assmann annimmt.
Ob dieser Kanonbegriff trägt, wird sich bei seiner Anwendung zeigen, einmal im zweiten Teil der Studie (59-160), wo Sinai zunächst die innerkoranische und präkanonische Selbstauslegung des Textes in seinem Wachstumsprozeß rekonstruieren will, und dann im dritten Teil (161-288), der die nach Sinai früheste Form von eigentlicher Exegese beschreibt.
Jetzt aber schon lässt sich an Sinais Kanonbegriff kritisieren, dass die identitätsstiftende und die normative Funktion eines Textes eng zusammengehören und sich nicht derart in einen Gegensatz zueinander stellen lassen, dass darauf zwei konkurrierende Konzeptionen von Kanonizität gründen können. Das zum einen. Zum anderen krankt Sinais Ansatz daran, dass er dem Vorurteil verhaftet bleibt, der Koran hätte von Beginn an im Zentrum der islamischen Kultur gestanden. Die Tücke des Modells von der stetigen, zur Textgenese als Textselbstauslegung parallel laufenden Kanonisierung liegt in ihrer Teleologie: Die Kanonisierung ist eine Entwicklung, deren Ziel ab initio festzustehen scheint, ein sich zwischen Text und Gemeinde steigerndes Resonanzphänomen, das unweigerlich seinem Kulminationspunkt zusteuert. Schon der früheste Textkern des Korans hat quasikanonischen Status.
Sinai sucht damit Anschluss an die islamische Innensicht, die er nach der Darlegung seines Kanonbegriffs deshalb auch in einem längeren Kapitel rechtfertigt: "Der Koran im frühen Islam: Ein Hintergrundszenario" (23-58). Sinai kommt hier zunächst über Referate der Positionen von Wansbrough, Crone und anderen sowie einen Abtausch bekannter Argumente nicht hinaus. Dass "Angehörige(n) z.T. verfeindeter und einander sogar militärisch bekämpfender Gruppierungen" (30) innerhalb desselben Ereignisrahmens argumentieren, haben wir schon vernommen. Ebenso ist uns das Argument vertraut, eine tiefgreifende Manipulation der islamischen Geschichte würde eine unwahrscheinliche Verschwörungstheorie und - ebenso unwahrscheinlich - anschließende totale Zensurmaßnahmen in einem Weltreich voraussetzen (30, wiederholt 72). Es verliert übrigens an Kraft, wenn die Manipulation zu einem frühen Zeitpunkt der Bewegung stattgefunden hätte, als sie noch lokal relativ begrenzt war, und sich dann mit der Bewegung selbst ausgebreitet hätte.
Dass der Koran möglicherweise doch so alt ist, wie die islamische Tradition es will, in jedem Fall aber deutlich jünger, als von Wansbrough behauptet, darf Sinai zugegeben werden. Allein die Tatsache, dass der Koran ungefähr so alt ist, wie die islamische Tradition annimmt, heißt aber noch nicht, dass er auch so entstanden sein muß, wie die islamische Tradition behauptet.
Ein allerdings beachtenswertes Argument für die islamische Innensicht gewinnt Sinai aus Roman Jacobsons Konzept der phatischen Sprachfunktion. Als liturgischer Rezitationstext erfüllt der Koran eine phatische Funktion. Er übermittelt weniger Information, als dass er die Hörer ihrer Verbindung mit Gott vergewissert. Es ist typisch für die Rezeption solcher Texte, dass ihrem Aussagegehalt weniger Aufmerksamkeit zukommt. Setzt man nun voraus, dass der Koran im Zuge der islamischem Expansion innerhalb kurzer Zeit seinem Entstehungsmilieu entrissen wurde, ergibt sich eine Erklärung für zwei Phänomene, an denen die Kritiker der innerislamischen Sicht immer wieder ansetzen: die unverständlichen Koranstellen und die Widersprüche zwischen frühem islamischem Recht und Koran. Bei der "Entbettung" des Korans aus seinem Entstehungsmilieu sind bestimmte Wortbedeutungen schlicht vergessen und juristische Forderungen überhört worden, da die ganz im Vordergrund stehende phatische Funktion des Textes zunächst kein Interesse an einer Konservierung der ursprünglichen Bedeutungen, geschweige denn einer juristischen Befolgung des Textes aufkommen ließ.
Diese Argumentation ist stichhaltig, Sinai unterfüttert sie jedoch mit unbewiesenen Annahmen aus der islamischen Tradition, um sie zeigen zu lassen, was sie nicht zeigen kann. Zwar deutet in der Tat einiges darauf hin, dass der Korantext eine kontextuelle Umbettung erfahren hat, doch allein daraus folgt nicht, dass sein ursprünglicher Kontext einst so beschaffen gewesen sein soll, wie die islamische Überlieferung behauptet. Ebenso leuchtet nicht ein, weshalb der Koran, wie Sinai behauptet, zu seiner Entstehungszeit ein juristisch normativer Text gewesen sein soll, der im Zuge der Umbettung nicht nur einiges an kontextueller Information, sondern auch seine normative Funktion zunächst verloren und später dann zurück gewonnen haben soll. Die Verse mit juristischem Gehalt jedenfalls sind dafür kein Argument, denn auch wenn der Koran zu Beginn nur ein eher marginaler Rezitationstext gewesen wäre, wäre zu erwarten, dass er auf juristische Regelungen, deren Normativität anderswo begründet liegt (Autorität einer Führerfigur, Gewohnheitsrecht etc.) eingeht, sie erwähnt und kommentiert. Ob er nur existierende Regelung reflektiert, ob er Regelungen einzuführen sucht und schließlich, ob er damit Erfolg hatte oder nicht, all das lässt sich aus dem Text selbst nicht entscheiden, und da wir keine weiteren Quellen aus seiner Entstehungszeit haben, lässt es sich überhaupt nicht entscheiden.
Die semantische Erschließung des Korantextes muss folglich nicht als eine Wiedererschließung gedacht werden, es kann auch die Ersterschließung eines bis dahin nahezu wirkungslosen Textes gewesen sein. Den Prozess selbst beschreibt Sinai dabei durchaus treffend. Er legt dar, wie der Koran langsam in Texte und Themenfelder eindringt und fasst diesen Vorgang mit dem schönen Bild eines osmotischen Diffundierens. Trotzdem kommen immer wieder Prioritätszuschreibungen durch, die mehr oder weniger bewusste Rückprojektionen der klassisch-islamischen Innensicht sind.
Sinais übergeordnete Absicht, die Grenzen zwischen Textgenese und Textinterpretation zu verwischen, geht Hand in Hand mit der Absicht, das "konventionelle Szenario der Koranentstehung zu verteidigen" (43). Das zeigt sich insbesondere im zweiten Teil der Studie ("Interpretative Fortschreibung im Koran", 59-160). Unter Voraussetzung einer relativen Chronologie der Suren will Sinai nachweisen, dass die einzelnen Fassungen der Abrahamsgeschichte entstehen, indem sie vorangehende Fassungen interpretieren.
Sinai versucht einleitend, den Zirkel, in dem Nöldekes aus der islamischen Tradition abgeleitete Chronologie gefangen ist, mit theoretischen Argumenten aufzuheben, kommt aber über schwache Spekulationen nicht hinaus ("Kriterien einer innerkoranischen Textchronologie", 59-74). Sein stärkstes Argument ist das Vorhandensein von Übergangsformen zwischen drei Klassen von Suren, in die Sinai Nöldekes Vierertypologie zusammenfasst. Diese "Hybridformen" würden den "Schritt von einer typologischen Dreiteilung der Korantexte zur Annahme diachroner Entwicklung" (68) rechtfertigen. Da diese Dreiteilung jedoch nicht im Koran selbst gegeben ist, sondern von Koranphilologen entwickelt und dem Korantext übergestülpt wurde, sind Hybridformen wohl eine Zwangsläufigkeit. Sie zeigen nur, dass eine derartige Typologie eine Abstraktion darstellt, die den fließenden Übergängen, wie sie wohl in jedem literarischen Formenspektrum anzutreffen sind, nicht voll gerecht werden kann.
Ein weiterer Zirkelschluss, in den sich Sinai beim Versuch, die Zirkularität von Nöldekes Ansatz zu widerlegen, verfängt, ist das Argument, die Stadien der islamischen Prophetenbiographie würden sich mit Nöldekes Surenchronologie korrelieren lassen. Da die Prophetenbiographie zu einem guten Teil mithilfe von Koranversen verfasst wurde, sind "medinensische" Verse eben jene Verse, mit deren Hilfe die Verfasser der Sīra die Geschichte des Propheten in Medina geschrieben haben!
Noch weniger als eine Verteidigung von Nöldekes Chronologie aber gelingt Sinai der Nachweis, die in ein chronologisches Verhältnis gesetzten Texte würden auch interpretierend aufeinander Bezug nehmen. Sinai will damit über die gängige Annahme hinauskommen, Koransuren würden Entwicklungen im Leben Muhammads reflektieren, was sich als Konsequenz schon allein aus der "Diachrononizität des Koran" (75) ergebe.
Nach Sinai erzählen die verschiedenen Fassungen der Abrahamsgeschichte im Koran die Geschichte Abrahams nicht nur immer wieder neu, sondern interpretieren zugleich auch ältere koranische Fassungen. Spätere Suren müssen "als gezielte Relektüren oder Umdeutungen früherer Suren verstanden werden". Sie haben "nicht nur einen Gegenwartsbezug, sondern auch einen retrospektiven Textbezug" (76).
Eben das aber, diesen "retrospektive Textbezug", kann Sinai nicht glaubhaft machen. Die verschiedenen Fassungen der Abrahamsgeschichte müssen keineswegs so verstanden werden, dass sie aufeinander Bezug nehmen, sie können sehr gut so verstanden werden, dass sie, mögen sie auch nacheinander entstanden sein, nur nebeneinander auf eine, möglicherweise auch mehrere außerkoranische Vorlagen der Abrahamsgeschichte rekurrieren. Die verschiedenen Fassungen der Abrahamsgeschichte sind variierende Aufführungen und insofern Auslegungen eben nur jener außerkoranischen Abrahamsgeschichte.
Da der Koran ein hochrepetitiver Text ist und über ein nur sehr beschränktes Inventar an Begriffen und Stoffen verfügt, wären die Anforderungen an einen Nachweis intendierter Rückbezüge in Abgrenzung von bloßen Wiederholungen ohne intendierten Rückbezug sehr hoch. Abgewandelte Wiederholungen derselben Geschichte reichen dafür bei weitem nicht aus. Da die Suren sich außerdem in selbstbezüglicher Weise als Teil desselben großen Offenbarungstextes verstehen, ist eine Bedingung für die von Sinai veranschlagten Selbstzitate innerhalb des Korankorpus, nämlich das Aufeinandertreffen von verschiedenen Textidentitäten, nicht gegeben oder zumindest problematisch.
Dass eine "charakteristische Diktion" (77) oder bestimmte Handlungssets abgewandelt wiederkehren; dass in manchen Fassungen einer Geschichte Elemente auftauchen, die in anderen fehlen; dass manche Fassung etwas voraussetzen oder nur kryptisch ansprechen, was andere Geschichten in extenso mitteilen, all das wäre auch bei einfachen Wiederholungen derselben Geschichte ohne intendierten Rückbezug zu erwarten. Es bedürfte schon weit darüber hinausgehender, metakommunikativer Signale, die anzeigen, dass in Suren Teile anderer Suren als fremder Text betrachtet und aufgegriffen werden, Signale, die ich an keinem der von Sinai angeführten Korantexte entdecken konnte. Die Struktur von Sinais Argumentation sei kurz an zwei Beispielen veranschaulicht:
- In Vers 79/20 heißt es im Zusammenhang eines Dialoges zwischen Moses und dem Pharao: "Und er (=Moses) ließ ihn (=Pharao) das große Zeichen (āya al-kubrā) sehen." Der Passus 20/17-22 erzählt, wie Moses auf Gottes Geheiß seinen Stab auf den Boden wirft, worauf er sich in eine Schlage verwandelt, was an dieser Stelle als "großes Zeichen" angesprochen wird. Nach Sinai beantwortet 20/17-22 folglich die Frage "Worin bestand die Moses nach Q 79:20 zuteil gewordene āya al-kubrā?" (77).
Der sich bei diesem Beispiel aufdrängende Einwand, dass der Koran oft kryptisch bleibt, weil die Geschichten, die er erzählt, dem Publikum, an das er sich richtet, schon bekannt sind, versucht Sinai zu neutralisieren, indem er ihn in seine These einbaut. Die späteren und ausführlichen Fassungen erklären die früheren, indem sie "externe Wissenskontexte ( ) in korpusinterne Nachträge und Ergänzungen überführen" (85). Ziel sei eine "interpretative Subsistenz" des Korans. Doch das gilt nur, wenn man das Bestehen interpretativer Rückbezüge schon als gesichert annimmt, was es nicht ist. Auch wenn man die Chronologie nach Nöldeke akzeptiert, werden die Suren eben nur länger und ausführlicher, was es mit sich bringt, dass bei den Wiederholungen der gleichen Geschichte Details zur Sprache kommen, die in den frühen Fassungen unter den Tisch gefallen sind.
- Sure 70 beginnt mit folgenden beiden Versen: "saʾala sāʾilun bi-ʿaḏābin wāqiʿ / li-l-kāfirīna laisa lahū dāfiʿ - Einer hat nach der Strafe gefragt, die hereinbrechen wird. / Für die Ungläubigen kann sie niemand abwehren." Die Verse 52/7-8 lauten wie folgt: "inna ʿaḏāba rabbika la-wāqiʿ / mā lahū min dāfiʿ - Die Strafe deines Herrn wird hereinbrechen. / Niemand kann sie abwehren." Der gleiche Reim in beiden Verspaaren wāqiʿ / dāfiʿ und die Wiederholung des Begriffs "ʿaḏāb - Strafe" wertet Sinai als "markante Übereinstimmung" und damit als "literarisches Signal" dafür, dass hier ein intendierter Bezug vorliegt, der so weit geht, dass "Q 70 als Komplement zu Sure 52 zu lesen" (155) ist. Dabei kann hier doch auch einfach nur eine feststehende Redensart zweimal verwendet worden sein. Mit Sinai müsste man davon ausgehen, alle Barockgedichte, in denen das memento mori - Motiv in Verbindung mit einem Reim Tod / Not auftaucht, würden aufeinander Bezug, und das wäre noch ein gutes Stück plausibler als beim Koran, würde es sich hier doch um verschiedene Texte handeln, zwischen denen also auch zitierende Bezugnahmen ohne weiteres möglich wären.
Es ließe sich noch viel gegen Sinais These vorbringen. Sie setzt, wie Sinai selbst sagt, voraus, dass der Verfasser des Korans und auch die, an die er sich richtet, über ein hohes - ich würde sagen: unwahrscheinliches - Maß an synoptischer Intelligenz verfügen. Wahrscheinlich ist demgegenüber die Annahme, dass der Urheber der Korantexte die gleichen Geschichten aus seinem beschränkten Repertoire immer wieder neu erzählt, wobei er nicht bestimmte frühere Fassungen im Auge hat, sondern sich immer wieder anders auf die eine oder auch mehrere außerkoranische Fassungen bezieht. Die Phänomene, die Sinai als sichere Indizien für interpretierende Rückbezüge wertet, ergeben sich dabei zwangsläufig und ungesucht. Die These von der Korangenese durch Koranselbstauslegung überzeugt nicht. So weit der zweite Teil.
Im dritten Teil (161-288) untersucht Sinai die Exegese nach dem Ende des koranischen Textwachstums und stützt sich dabei vor allem auf zwei Texte, den sog. Tafsīr Muqātil von Muqātil b. Sulaimān (gestorben 150/767) und den Korankommentar von Muǧāhid b. Ǧabr (gestorben 104/722). Einleitend äußert Sinai sich zur Authentizität exegetischer Überlieferung und kommt zu dem Schluss, dass die Koranexegese mit der Generation der angeblichen Ibn ʿAbbās-Schüler beginnt, während Ibn ʿAbbās' "exegetische Aktivitäten nachhaltig übertrieben und vielleicht sogar gänzlich imaginiert worden sind" (167), eine Einschätzung, der man zustimmen kann, deren genaue Bedeutung sich jedoch danach bemisst, was genau Sinai unter Exegese versteht.
Hier fällt auf, dass Sinai die Texte, die mit Muqātil b. Sulaimān und Muǧāhid b. Ǧabr in Verbindung gebracht werden, sowohl chronologisch als auch typologisch auf eine Stufe stellt. Beide Werke seien um 770 n. Chr. im Text fixiert worden (172), und in beiden Werken begegne der gleiche "Grundbestand an exegetischen Ausführungen" (173), das gleiche "Gesamtbild" (173). Da Sinai seine Typologie exegetischer Operationen vor allem auf der Grundlage beider Texte und nur ergänzend noch einer Reihe weiterer Quellen erarbeitet, ist eine Falsifikation dieser Annahme ausgeschlossen.
Sinais Vorgehen ist umso erstaunlicher, als er selbst feststellt, dass zu der Zeit, aus der die Art der Koranbehandlung stammt, die uns im Tafsīr Muqātil b. Sulaimān entgegentritt, "der detaillierte Quellennachweis mittels isnād offenbar noch nicht verpflichtend" (169) war. Bei Muǧāhid dagegen ist der isnād schon verpflichtend, womit gravierende Strukturunterschiede einhergehen: Während der Tafsīr Muqātil b. Sulaimān eine durchlaufende Bearbeitung des Korantextes darstellt, ist der Korankommentar von Muǧāhid eine Sammlung von exegetischen Überlieferungen, die sich auf eine Auswahl an Koranstellen beziehen. Indem Sinais "Taxonomie der wichtigsten Glossentypen" (179-215) sich aus einem Korpus bedient, das beide Texte umfaßt, berücksichtigt sie eben diese Strukturverschiedenheit nicht genügend.
Nun im Detail zu dieser Taxonomie! Sinais erste drei Glossentypen "Äquivalenz", "Paraphrase" und "Deparaphrase" beruhen auf einer Unterscheidung "zwischen einfachen und komplexen Explananda / Explanantia" (189). Bei einer Äquivalenz steht ein einfaches Explanans einem einfachen Explanandum gegenüber [3], bei einer Deparaphrase ein einfaches Explanans einem komplexen Explanandum [4], bei einer einfachen Paraphrase ein komplexes Explanans einem einfachen Explanandum [5] und bei einer komplexen Paraphrase ein komplexes Explanans einem komplexen Explanandum. [6]
Die Glossentypen "Erweiterung" und "Zusatz" sollen sich stattdessen dadurch auszeichnen, dass sie die "Grenze von koranischem Primärtext und interpretierendem Sekundärtext" (201) verwischen. Ein Stück Nichtkorantext wird dem Korantext anders als bei Äquivalenz, Paraphrase und Deparaphrase nicht gegenübergestellt, sondern führt ihn fort, sei es als Wort-, Satzteil- oder Satzeinfügung. Muster: "uballiġukum risālāti rabbī fī nuzūli l-ʿaḏābi bikum fī d-dunyā - Ich richte euch die Mitteilungen meines Herrn aus hinsichtlich der Strafe, die im Diesseits auf euch herabkommen wird" (204). Die übrigen beiden Typen "Erläuterungen" und "Verweise" beruhen, nach Sinais Beispielen zu urteilen, wiederum auf einer deutlichen Abgrenzung von Korantext und Nichtkorantext.
Es ist genau jene Unterscheidung zwischen einer Behandlung des Korantextes, die den Nichtkorantext als Exegesetext dem Korantext nachstellt, und einer Behandlung des Korantextes, die Korantext und Nichtkorantext in einem Text aufhebt, die Sinai zwar sieht, aber herunterspielt. Dabei hätte die gesamte Typologie auf ihr gründen müssen, denn es ist ein kategorialer Unterschied, ob ein Stück Nichtkorantext ein Stück Korantext fortschreibt oder ob es in erklärendem Rückbezug seinen Sinn in anderen Worten wiedergibt. Letzteres steht für eine dezidiert exegetische Perspektive, die den Charakter des Korantextes wahrt; ersteres steht für eine Perspektive, die den Korantext in einen Vortragstext umformt. Beide Grundtypen sollten keinesfalls, wie Sinai es abschließend noch einmal bekräftigt, zusammen als Manifestation der gleichen "explikative(n) Koranauslegung" (212) verbucht werden. [7]
Die "Narrativen Formen im Tafsīr Muqātil" (217-256), die Sinai im folgenden Kapitel behandelt, beginnen also schon mit einem Teil der Formen, die er noch als nicht-narrative, rein exegetische Glossentypen verbucht. Dabei sieht Sinai selbst, dass gerade jene seiner einfachen Glossenformen, die Korantext und Nichtkorantext verschmelzen, für den Tafsīr Muqātil "charakteristisch sind" (201) und eben nicht für den Korankommentar von Muǧāhid, der Korantext und Nichtkorantext in aller Regel sauber trennt. Trotzdem hält Sinai an der Annahme der gleichen exegetischen Grundschicht im Tafsīr Muqātil wie auch im Korankommentar von Muǧāhid fest. Seine Beobachtungen aber sind recht besehen ein weiteres Argument für Gilliots Unterscheidung zwischen einer paraphrastischen Exegese im Tafsīr Mugahid und einer ganz eigenen, narrativen Exegese im Tafsīr Muqātil, eine Unterscheidung, die mitnichten "unbefriedigend" (179) ist, wie Sinai sagt, sondern einen zwar ausbau-, aber eben auch anschlussfähigen Typisierungsversuch darstellt.
Sinai überbetont die exegetischen Aspekte des Tafsīr Muqātil und unterstellt dem Text eine ausgeprägte exegetische Finalität, die er nicht hat. Dreiviertel des Textes sind grob geschätzt offenkundig nicht-exegetisch motiviert. Und bei dem restlichen Viertel, also den Stellen, an denen Muqātil unter sauberer Trennung von Korantext und Nichtkorantext darum bemüht scheint, den Sinn von Korantext aufzuschließen, fragt sich, ob die exegetische Absicht nicht der Narration untergeordnet ist. Kurz gesagt: Wenn Muqātil auch hin und wieder den Korantext erklärt, dann erklärt er, um zu erzählen. Nicht umgekehrt.
Eine nicht-exegetische Behandlung des Korantextes veranschlagt Sinai im Grunde erst dann, wenn die Reihenfolge des Korantextes durchbrochen wird und Muqātils Erzählung auf Verse zurückgreift, die im Korantext weit auseinander liegen (u.a. 234). Der bloße Umstand, dass Muqātils Behandlung des Korantextes die kanonische Abfolge des Textes wahrt, ist jedoch per se kein Indikator für eine exegetische Herangehensweise. Auch wenn die Textabfolge gewahrt bleibt, kann der Text doch in einer Art und Weise aufbereitet werden, die nicht auf seine Sinnerschließung abzielt, sondern eher darauf, ihn in einen Vortragstext zu transformieren, der nicht mehr er selbst ist. Und eben das ist dann keine Exegese, sondern, wenn wir provisorisch mit der Dichotomie Exegese - Narration operieren, eine quasi-narrative Herangehensweise. So sind bei dem Auszug aus dem Tafsīr Muqātil, den Sinai am Beginn des 10. Kapitels als Beispiel für eine nicht-narrative Aufbereitung bringt (217f.), sieben von insgesamt zehn Verknüpfungen von Korantext und Nichtkorantext als nicht-exegetisch zu werten. Nur drei Operationen (die zweite, dritte und vierte von oben) sind exegetischer Natur.
Diese Überbetonung des Exegetischen wirkt sich auch auf die Analyse der im engeren Sinne narrativen Passagen des Tafsīr Muqātil aus Hier beschreibt Sinai zunächst Fälle, in denen keine exegetische Intention erkennbar ist, weil der Korantext "unmittelbar in die Schilderung eines Geschehens eingeflochten" (235) ist. Korantext wird, wie Sinai zu recht sagt, "nicht im eigentlichen Sinne zitiert, sondern verwendet" (236), was so weit gehen kann, dass er "nicht wortwörtlich reproduziert" wird und es zu einer regelrechten "Einschmelzung" des Korantextes kommt. Davon unterscheidet Sinai die von ihm sog. "glossatorischen Zitatintegrationen", an denen er mithilfe seiner einfachen Glossentypen eine "Zäsur zwischen Korantext und außerkoranischer Erzählung" (236) nachweist. Zwei von vier Anschlüssen in dem gewählten Beispiel sind jedoch nicht-exegetisch ("integrierter Finalsatz", "Präpositionaleinschub") und heben die Grenze zwischen Korantext und Nichtkorantext auf. Es bleibt mit Sinai gegen Sinai festzuhalten: Auch die "integrierten Zitate" zeichnen sich zumindest teilweise dadurch aus, dass sie Korantext verwenden und deformieren. Dahinter steht keine exegetische Perspektive und gerade damit sind derartige Verwendung paradigmatisch für den gesamten "Kommentar" von Muqātil b. Sulaimān.
Sinai erfasst die Phänomene prinzipiell richtig, gewichtet sie jedoch falsch, um den Eindruck zu erzeugen, Muqātils Texts hätte in erster Linie exegetischen Charakter und falle trotz der offensichtlichen Strukturunterschiede zusammen mit dem Tafsīr Muǧāhid in eine Literaturgattung "Korankommentar". Das scheint die Hauptlinie der Argumentation im dritten Teil der Studie. Bei den "nachgestellten Zitaten" (235-238) etwa, in denen der Korantext anders als bei den integrierten Zitaten nicht eingeflochten ist, sondern nachsteht, sieht Sinai, dass die Verse ohne Defekt für die Geschichte ausfallen könnten, dass sie also nur "vorausgegangene Handlungen" "supplementieren". Weshalb aber soll es sich bei diesen nachträglichen Koranornamenten oder auch Koranbelegen für koranfreie Geschichten um "exegetische Pointen" handeln, so als wäre der Zweck der gesamten Geschichte nun auf einmal die Erklärung des nachträglich angehängten Verses?
Ein Problem für sich sind die "sabab-Erzählungen" (239-256). Sinai erkennt zunächst, dass jene Verbindungen von Korantext und Nichtkorantext, die man in der islamischen Tradition als asbāb an-nuzūl verbucht, sich dadurch auszeichnen, dass der Vers "nicht primär als Teil der Beschreibungsebene" aufgefasst wird, sondern "auf irgendeine Weise in die erzählte Handlungsfolge hineingehört" (239). Mit Karlheinz Stierle etwas klarer gesagt: Der Vers ist nicht nur Teil des Textes der Geschichte, sondern als Offenbarungsereignis auch Teil ihrer Handlung.
Allerdings ist das im Tafsīr Muqātil nur sehr selten der Fall. Wie ich in eigenen Untersuchungen zu den Verknüpfungen von Korantext und ḫabar-Text im Tafsīr Muqātil zeigen konnte [8], reicht dafür, anders als Sinai meint, die "Offenbarungsformel fa-anzala llāh" (239) noch lange nicht aus. Insbesondere der Tafsīr Muqātil enthält nur wenige Verknüpfungen von Korantext und Nichtkorantext, die so verstanden werden müssen, dass sie von der Offenbarung einzelner Verse berichten. Sinai entgeht z.B., dass die auch bei Muqātil des Öfteren zu beobachtende Erweiterung der Offenbarungsformel um ein "fī - bezüglich" zu "fa-anzala llāhu fī" den Vers auf Distanz zum Geschehen hält. Die Texte lassen sich damit in der Regel nicht so verstehen, dass sie von Offenbarungsgeschehen berichten. Sinais auffallend unbeholfene Wiedergabe von "fī" als "über" zeigt, dass er, dessen Übersetzungen sich ansonsten durch hohe Präzision auszeichnen, hier wohl selbst ein Problem geahnt, aber nicht voll erkannt hat, was sich erfahrungsgemäß in solch kleinen Unsicherheiten niederschlägt.
Bei seinen Textbeispielen gesteht Sinai dann auch immer wieder ein, dass den Texten zu vollgültigen asbāb an-nuzūl noch einiges fehlt ("Bei dieser Erzählung handelt es sich natürlich noch nicht um einen wirklichen sabab", 239, "In dieser Erzählung ist die Verkettung von Handlungsgang und Offenbarung dramaturgisch nun allerdings noch recht lose", 241). Unter den von Sinai ausführlicher dargestellten Beispielen ist kein einziger "wirklicher sabab", also ein Text, der zweifelsfrei den Anspruch erhebt, von der Offenbarung eines Verses zu berichten. Auch wenn solche Texte im Tafsīr Muqātil weitaus seltener sind als gemeinhin behauptet wird, gibt es sie aber doch. Allerdings halte ich sie für zufällige Bildungen, ein Effekt, der sich nicht vermeiden läßt, wenn man den Korantext so massiv wie Muqātil mit außerkoranischem Erzählgut vermengt.
Weshalb Sinai keinen "wirklichen sabab" ausgewählt hat, ist mir ein Rätsel. Vermutlich hängt es doch mit einem nicht ganz richtigen Verständnis dessen, was "asbāb an-nuzūl" ausmacht, zusammen. So sagt Sinai beispielsweise, "eine Antizipation des sabab-Passus", also Wortmaterial des Verses schon im ḫabar-Text, würde "eine engere Verknüpfung von Handlung und Offenbarung" (242) bewirken und sei somit näher an der Vorstellung eines "wirklichen sabab". Das angesprochene Phänomen aber zeigt doch nur, dass ḫabar-Text mithilfe von Korantext formuliert wurde und gelegentlich jener Vers, der bei der Formulierung des ḫabar-Textes geholfen hat, am Ende nochmals erwähnt wird, wobei diese nochmalige Erwähnung am Ende allein deshalb, weil der Vers die Wortgebung des ḫabar-Textes beeinflusst hat, doch keine engere Verbindung von "Handlung und Offenbarung" bewirkt. In Sinais Beispiel ist die Erwähnung des Verses dann auch nur eine abschließende Koranreferenz halb mit Ornament-, halb mit Belegcharakter. Das geht u.a. aus der Verseinleitung "fa-anzala llāhu fī l-ḥayyain" (242) hervor (Fettdruck von mir). Sinai übersetzt: "Darauf offenbarte Gott über die beiden Stämme." Das ist irreführend. Ich würde übersetzen: "Daher offenbarte Gott bezüglich der beiden Stämmen."
Dass Sinais asbāb an-nuzūl-Begriff nicht frei von Unschärfen ist, geht auch aus seinen Überlegungen zur Funktion dieser Form hervor. Ihr Vorteil liege darin, dass sie ḫabar-Text und Korantext so eng verbinde wie die integrierten Zitate, dabei aber anders als die integrierten Zitate den Korantext so deutlich markiere wie die nachgestellten Zitate.
Die eigentliche Funktion und der besondere Wert vollgültiger asbāb an-nuzūl liegen jedoch nicht darin, dass sie Korantext zugleich explizit kennzeichnen und fest integrieren. Die eigentliche Funktion und der besondere Wert vollgültiger asbāb an-nuzūl liegen darin, dass dann, wenn asbāb an-nuzūl ḥadīṯ -Form haben, wenn sie also als Textmodule mit Überlieferkette erscheinen, sie die Verbindung zwischen dem Vers und dem Ereignis, auf das er sich angeblich beziehen soll, in herausragender Weise beglaubigen. Was vorher nur die bloße Behauptung ist, der Vers würde sich auf ein bestimmtes Ereignis beziehen, wird zum Augenzeugenbericht davon, wie der Vers im Zusammenhang mit jenem Ereignis offenbart wurde. Der Vers wird selbst zum Ereignis, damit er wie ein Ereignis der Beglaubigung durch Augenzeugen offen steht. Und das wiederum hängt mit der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern eines subjektiv-freien, nicht traditionsgebundenen und eines traditionsgebundenen Korankommentars zusammen (tafsīr bi-r-raʾy vs. tafsīr bi-l-maʾṯūr). Ihr volles Potential erreichen asbāb an-nuzūl daher auch erst in der frei flottierenden Überlieferung. Dazu gäbe es noch viel zu sagen, was den Rahmen dieser Ausführungen sprengen würde. Hier nur soviel: Sinais Begriff von asbāb an-nuzūl krankt daran, dass er sich auf den Tafsīr Muqātil konzentriert. Der Tafsīr Muqātil enthält nicht mehr als einen Teil des Rohmaterials, aus dem erst später vollgültige asbāb an-nuzūl werden. Die kanonischen Sammlungen von al-Buḫārī und Muslim sind für die Genese der asbāb an-nuzūl in jedem Fall wichtiger als der Tafsīr Muqātil.
Zuzustimmen ist Sinai daher wiederum bei seiner formgeschichtlichen Hypothese, asbāb an-nuzūl seien nicht von Anfang an dagewesen, sondern hätten sich aus Vorformen entwickelt. "Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass nicht schon sehr früh Erzählungen über Muhammad zirkulierten, die auch Koranbezüge enthalten haben mögen - vermutlich aber nicht in Gestalt der später so verbreiteten sabab-Form" (245). Bis auf das "vermutlich", das ich getrost weglassen würde, d'accord! [9]
Diesen Argumentationsstrang, der die frühesten Verknüpfungen von Korantext und Nichtkorantext gerade nicht exegetisch erklärt, halte ich für den fruchtbarsten der gesamten Studie. Er kommt noch einmal im abschließenden Kapitel 11 "Die Entwicklung der frühen Koranexegese: Versuch einer diachronen Deutung" (257-281) zum Tragen. Hier stellt Sinai zusammenfassend fest, dass das "sukzessive Eindringen koranischer Elemente in populäre Erzählstoffe als Urstadium eines semantisch ausgerichteten Korangebrauchs" (262) anzusehen ist.
Ich verstehe Sinais Ausführungen an dieser Stelle so, dass das historisch-narrative Interesse am Korantext älter ist als das exegetische. Der Korantext wird zuerst narrativ verwendet, und erst danach kommt die eigentliche Exegese auf - eine Annahme, die sich im Grunde von selbst versteht, denn anders als das historische Interesse setzt das exegetische u. a. voraus, dass der Text durch den Wandel von Sprache und Kontext Verständnisprobleme zu bereiten beginnt und außerdem eine gewisse Bedeutung erlangt hat, die ihn selbst und nicht nur das, was er zu sagen hat, zum Gegenstand des Interesses macht.
Was aber wird dann aus den interpretativen Rückbezügen und der Koranauslegung schon im Wachstumsprozess des Korantextes selbst? Müssen wir das Modell erweitern, derart, dass der Korantext schon während seiner Genese unter einer exegetischen Perspektive steht, die vergessen und dann nach einer Phase narrativer Verwendung des Korantextes wieder entdeckt wird, nun aber nicht als interne Selbstauslegung, sondern als externe Auslegung durch den Korankommentar? Wie dem auch sei: Die Abfolge "erst narrative Verwendung, dann Auslegung des Korantextes" ist ein taugliches Modell zur Erklärung der Anfänge koranischer Rezeptionsgeschichte.
Sinais Annahme von "Entkoranisierungen als Gegentendenz" (265-267) halte ich dagegen für weniger überzeugend. Bei Texten, an denen sich nur schwacher Koraneinfluss abzeichnet, nimmt Sinai an, dass "Koranzitate ausgefallen bzw. verschliffen" (266) worden sind. Weshalb dem so sein soll und weshalb es sich nicht um ein Anfangsstadium des Koraneinflusses handelt, sagt Sinai nicht. Seine Spekulation hier hängt vermutlich mit seinem Irrtum zusammen, es wäre eine Funktion der asbāb an-nuzūl, solchen Entkoranisierungen durch eine besonders feste Verbindung von Korantext und Nichtkorantext entgegenzuwirken (s.o.).
Die eigentliche Exegese hebt Sinai von diesen frühen narrativen Korantextverwendungen ab und veranschlagt ihren Beginn sehr nachvollziehbar "nicht vor Ende des 7. Jahrhunderts" (271), wobei er noch einmal herausstellt, dass es sich bei Ibn ʿAbbās als dem Urvater der Koranexegese um "ein nachträgliches Konstrukt" (270) handelt.
Der Tafsīr Muqātil scheint mir allerdings nicht ganz nachvollziehbar in diese Skizze eingezeichnet. Sinai sieht Muqātil als einen Exegeten, der erstmals den gesamten Korantext durchgeht und dabei die beiden, ihm vorangehenden Traditionen des Umgangs mit dem Koran vereint: die der Geschichtenerzähler und die der eigentlichen Exegeten. Damit habe Muqātil aṭ-Ṭabarī vorgearbeitet, "der ja ebenfalls eine lückenlose Erklärung des Gesamttextes gibt" (278). Muqātil scheint mir jedoch kein innovativer, sondern - im Gegenteil - ein ausgesprochen konservativer Autor, ein Geschichtenerzähler (qāṣṣ), der in der ersten Hälfte des zweiten islamischen Jahrhunderts den Korantext immer noch so behandelt und betrachtet, wie er in der zweiten Hälfte des ersten islamischen Jahrhunderts behandelt und betrachtet wurde, und sich, was damit einhergeht, dem aufkommenden isnād verweigert. Der entscheidende Umbruch der exegetischen Tradition liegt erst nach Muqātil. Es ist die traditionalistische Bewegung, die ganz analog zur Diskussion im Recht auch in der Koranexegese die Bindung der Wissensbestände an die Form der Überlieferung einfordert.
Fassen wir zusammen: Nicolai Sinais Studie "Auslegung und Fortschreibung" zerfällt in zwei Teile, eine Studie zu "interpretativen Rückbezügen" innerhalb des Korans und eine Studie zur frühesten Auslegungsgeschichte. Die Studie zur Auslegungsgeschichte enthält viele tragfähige und weiterführende Beobachtungen, die Studie zu den "interpretativen Rückbezügen" innerhalb des Korans ist spekulativ. Der von Sinai gewünschte Zusammenhang zwischen beiden Teilen stellt sich damit nicht ein: Da der Nachweis, die Texte des Korans würden entstehen, indem sie sich interpretieren, nicht gelingt, ist auch die früheste Exegese nicht als Fortsetzung jener innerkoranischen Auslegung darstellbar. Ja, es ist recht besehen nicht nur so, dass im Koran keine Auslegung stattfindet, auch die früheste Auseinandersetzung mit dem Korantext ist keine Auslegung, sondern, wie Sinai selbst gelegentlich auch sagt, narrative Instrumentalisierung von Korantext. Die Auslegung des Korantextes beginnt erst Ende des siebten Jahrhunderts n. Chr. Davor ist alles Fortschreibung: der Korantext wächst, indem er fortgeschrieben wird, und die Geschichtenerzähler überspielen mit ihren Instrumentalisierungen die Grenzen zwischen Korantext und Nichtkorantext und schreiben ihn so in ihren narrativen Korandarbietungen fort. Muqātil ist der letzte Ausläufer dieser Richtung, eine Art literarisches Fossil, das fremd in eine Zeit hineinragt, die nicht mehr die seine ist.
Sinai schwebt eine koranische Auslegungsgeschichte vor, die - Koranphilologie qua Rezeptionsforschung gewendet - mit der Selbstauslegung des Korans beginnt und sich dann Schicht um Schicht durch die Tradition des Korankommentars Richtung Gegenwart vorarbeitet. Dieser Ansatz beginnt bei dem, was unsicher ist.
Wir sollten stattdessen bei dem beginnen, was gesichert ist - beispielsweise bei den klassischen Korankommentaren von aṭ-Ṭabarī (gestorben 310/923) oder auch aṯ-Ṯaʿlabī (gestorben 427/1035) - und uns von dort aus unter Suspendierung aller ideologischen Setzungen Richtung Vergangenheit (und natürlich auch Richtung Zukunft) vorarbeiten. Dass wir damit irgendwann beim Koran selbst ankommen, ist unwahrscheinlich, aber auch nicht besonders tragisch, würden wir doch auf dem Weg immerhin genauer erfahren, wie die Muslime des vierten, dritten und zweiten islamischen Jahrhunderts den Koran verstanden haben. Die Auslegungsgeschichte des Korans wächst schließlich nicht in historischer Kontinuität aus dem ursprünglichen Sinn des Korantextes hervor, was es rechtfertigen würde, die Textgenese zum ersten Kapitel seiner Auslegungsgeschichte zu machen. An ihrem Beginn liegt ein großer Bruch, eine "Umbettung" nennt es Sinai, und eben dadurch ist die Verbindung zwischen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte gekappt. Das Fundament der koranischen Auslegungsgeschichte nimmt erst Ende des sieben Jahrhunderts n. Chr. halbwegs greifbare Formen an und wurzelt in einem historischen Dunkel, das aufklären zu wollen ganz unabhängig von der Vergeblichkeit des Unterfangens fragwürdig erscheint, bliebe die Rezeption des Korantextes während der folgenden Jahrhunderte und bis heute von diesem wirkungslosen Ursinn doch in jedem Fall unberührt.
Anmerkungen:
[1] Auch Luxenbergs Versuch, einen syro-aramäischen Grundtext des Korans nachzuweisen, oder Lüling mit seiner These von christlichen Psalmenliedern im Koran sind keine Ausnahmen, im Gegenteil. Lüling und Luxenberg sehen in der Auslegung des Korantextes nicht mehr als eine Verfälschung des ursprünglichen Sinns, die aufgrund der partiellen Unterbestimmtheit der frühen Schrift die Textgestalt deformierend erfaßt hat. Auslegungsgeschichte wird nicht als produktives Geschehen begriffen, das den Sinn eines Textes überhaupt erst zum Vorschein bringt, sie wird auf Textgeschichte reduziert und erscheint einseitig als Entfernung von einem ursprünglichen = wahren Sinn. Das gilt in gleicher Weise für Wansbrough, der in den frühesten Korankommentaren Vorstufen der Textgenese sieht und so auf seine Weise auch die Auslegungsgeschichte in der Textgeschichte aufhebt.
[2] Gabriel Said Reynolds (ed.): The Qurʾān in Its Historical Context, London 2008.
[3] Eines von Sinais Beispielen: "ar-rafaṯu yaʿnī al-ǧimāʿa - Der Verkehr, d.h. der Beischlaf" (189).
[4] Eines von Sinais Beispielen: "wa-ʿatau ʿan amri rabbihim yaʿnī t-tauḥīd - Und sie widersetzten sich dem Befehl ihres Herrn, d.h. dem Monotheismus" (200).
[5] Eines von Sinais Beispielen: "al-qaiyūm yaʿnī l-qāʾima ʿalā kulli nafsin bi-mā kasabat - Der Beständige, d.h. der über einer jeden Seele steht und achtgibt, was sie erwirbt" (193).
[6] Eines von Sinais Beispielen: "kaḏālika nuḫriǧu l-mautā yaʿnī yumṭiru s-samāʿa ḥattā tašaqqaqa ʿanhumu l-arḍu - So bringen wir die Toten hervor, d.h. er lässt den Himmel regnen, bis sich die Erde spaltet und sie herausgibt" (194).
[7] Befremdlich in ihrer Freimütigkeit wirkt auch die Feststellung, es handele sich bei der Rekonstruktion des "Instrumentariums, mit dem der frühe tafsīr operiert", um einen "philologischen Selbstzweck" (sic!) (187). Jedenfalls scheint diese Äußerung eine Erklärung dafür zu bieten, weshalb Sinai die Intentionen und Perspektiven (= Zwecke), die hinter exegetischen und quasiexegetischen Techniken stehen, nicht ausreichend berücksichtigt.
[8] Ich erlaube mir, auf meine Dissertation hinzuweisen, die Ende August 2011 im ERGON-Verlag in der Reihe MISK unter dem Titel "Typen historisch-exegetischer Überlieferungen - Formen, Funktionen und Genese des asbāb an-nuzūl-Materials" erscheinen wird.
[9] Die andere These, man hätte "schon von Anfang an" (245) Koranauslegung mithilfe von asbāb an-nuzūl getrieben, die Sinai zurecht verwirft, ist ein wenig durchdachte Anleihe bei den innerislamischen = theologischen Darstellungen.
Hans-Thomas Tillschneider