Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 839 S., ISBN 978-3-506-77044-8, EUR 88,00
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Mitchell G. Ash / Jan Surman (eds.): The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848-1918, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012
Werner Daum / Wolfgang Kruse / Eva Ochs u.a. (Hgg.): Politische Bewegung und Symbolische Ordnung. Hagener Studien zur Politischen Kulturgeschichte. Festschrift für Peter Brandt, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2014
Marion Baschin: Ärztliche Praxis im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Homöopath Dr. Friedrich Paul von Bönninghausen (1828-1910), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014
Die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa im Kontext des Zweiten Weltkriegs ist nicht nur in Deutschland ein kontroverses Thema. Noch immer bewegt sich die diesbezügliche Diskussion auf vermintem Gelände, wobei man nach wie vor wenig über den Stellenwert dieses Geschehens im gesellschaftlichen Gedächtnis der Deutschen weiß. Das umfangreiche Werk von Eva und Hans Henning Hahn setzt an diesem Punkt an. Hans Henning Hahn widmet sich als Professor für moderne Osteuropäische Geschichte in Oldenburg insbesondere der polnischen Geschichte, der Stereotypenforschung und der Gedächtniskultur; die gebürtige Pragerin Eva Hahn erforscht dagegen die deutsch-tschechischen Beziehungen. Der Untertitel ihres Buches legt zwar die Vermutung nahe, die Autoren würden die Vertreibung in Zweifel ziehen, doch dem ist nicht so. Vielmehr verstehen sie ihre Publikation als eine Geschichte des deutschen Vertreibungsdiskurses und der damit verbundenen Erinnerungskultur.
In den fünfzehn Kapiteln des Buches können Eva und Hans Henning Hahn zeigen, wie die als Vertreibung erinnerten Ereignisse zwar stets präsent waren, manche Beschreibungen aber beinahe in Vergessenheit gerieten, während andere umso häufiger aufgegriffen wurden. So hätten sich in einem jahrzehntelangen Diskurs bestimmte Deutungsmuster verfestigt (oder seien sogar bewusst in die Welt gesetzt worden) und schließlich zu einem Mythos verdichtet - einen Begriff, den die Autoren in Anlehnung an Ernst Cassirers Überlegungen zum Verhältnis von Erinnerung und Konstruktion verwenden. Dabei habe es in der vielschichtigen Debatte um die Massenumsiedlungen von Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte an tatsachenorientierten, quellennahen Untersuchungen gefehlt. Ergiebigere Forschungen seien erst seit 1989 zu verzeichnen, was vor allem soziologischen und historischen Studien aus Ostmitteleuropa zu verdanken sei.
Eva und Hans Henning Hahn stellen den öffentlichen Umgang mit Flucht und Vertreibung prononciert als "Prozess ohne Fortschritt" dar.
In einer "Galerie der Erinnerungsbilder" beschäftigen sich die Autoren zunächst mit der Unachtsamkeit bei der Interpretation von Fakten, Statistiken und Ereignissen. Dabei gehen sie anhand mehrerer Beispiele wie Guido Knopps Publikation "Die große Flucht" auf die Nachlässigkeit von Journalisten und Historikern im Umgang mit Zahlen- und Bildmaterial ein. Auch kritisieren sie die Persistenz des nationalsozialistischen Sprachduktus' "sowohl in den Zeitzeugenberichten [...] als auch in der Fachliteratur" (90). Dies sei weder bei der Erforschung noch bei der Erklärung des Geschehenen hilfreich.
Dann widmen sich Eva und Hans Henning Hahn dem Erinnerungsprozess, wobei sie zuerst das komplexe Thema "verdrängte Erinnerungen" behandeln. In diesem Abschnitt zeigen sie an zahlreichen Beispielen die Auswirkungen der von den Nationalsozialisten vorangetriebenen Siedlungs- und Umsiedlungspolitik auf. Vergessen oder verschwiegen werde in zahlreichen Forschungsdebatten, dass die ersten Deutschen, die ihre Heimat im östlichen Europa verloren, nicht vertrieben, sondern von der deutschen Regierung umgesiedelt worden seien. Dies sei aber bis heute in Deutschland kaum bekannt. In diesem Zusammenhang konstatieren die Verfasser auch, "dass die nationalsozialistische Evakuierung der deutschen Bevölkerung" (296) in der Erinnerungspolitik immer noch der "Vertreibung der deutschen Nation aus dem östlichen Europa"(168) zugerechnet werde. Diese Aspekte sind zwar nicht neu, aber den beiden Historikern gelingt es, sie wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Nachkriegszeit bis in die frühen 1950er Jahre, der so genannten "Gründerzeit des Erinnerns" (349). In ausführlicher Detailarbeit entzaubern Eva und Hans Henning Hahn weitere, zumeist bis heute nicht hinterfragte Deutungsmuster. Daran anschließend stellen sie die "Vielfalt des Erinnerns" (489) dar und richten ihren Blick auf die unterschiedlichen Interpretationen und Erinnerungsmuster bis zum Fall der Mauer. In diesem Zusammenhang konstatieren sie eine grundlegende Veränderung der deutschen Gesellschaft, während sich die Erinnerung an die Vertreibung kaum gewandelt habe (587). Dabei befassen sich die Autoren auch ausführlich mit der Rolle der Vertriebenenverbände, wie insbesondere im Kapitel "Erika Steinbachs Historiker" (593) deutlich wird. Eva und Hans Henning Hahn beschreiben die Geschichtsbilder der von der Vertriebenenpräsidentin geschätzten Heinz Nawratil, Alfred de Zayas und Peter Glotz. Die Autoren konstatieren, dass es der Jurist Nawratil vermeide, durch sein "unbegründetes und sachlich unpräzise formuliertes Bild" (605) einen Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem Zweiten Weltkrieg herzustellen. Dem amerikanischen Juristen de Zayas halten sie vor, mit "Nemesis von Potsdam" kein empirisch unterfüttertes Buch verfasst zu haben, aus dem hervorgehe, wer, wo, wann, von wem und warum vertrieben worden sei. De Zayas versuche vielmehr, die Leser mit einer Zusammenstellung bekannter Redensarten und Geschichtsbilder zu gewinnen. "Gerade weil hier längst Bekanntes wiederholt wurde, konnte wohl das Buch Leser mit entsprechender emotionaler Befindlichkeit begeistern." (619) Dadurch werde aber ein "Mythos Vertreibung" gefestigt, der bereits in der frühen Bundesrepublik entstanden sei "und nach wie vor Popularität" genieße (620). "Steinbachs Historiker", so fassen die Autoren zusammen, bedienten die seit mehr als fünf Jahrzehnten weitgehend unverändert gebliebenen Stereotype und bekräftigten so die bekannten Narrative über Flucht und Vertreibung. Um so wichtiger sei es, genau hinzusehen und diese Deutungsmuster zu dekonstruieren, um schließlich vom "Mythos Vertreibung" zu einer "Geschichte der Vertriebenen" zu kommen (627).
Abgeschlossen wird das Buch durch einen umfangreichen historisch-statistischen Anhang, wobei Eva und Hans Henning Hahn auch den Begriff Vertreibung problematisieren. Sie weisen darauf hin, die in der Bundesrepublik übliche Bezeichnung "Vertriebene" suggeriere, dass es sich bei den Betroffenen um eine einheitliche soziale Gruppe handele. So kritisieren sie, schon allein die Terminologie lasse auf eine "Sondergemeinschaft innerhalb der deutschen Nation" (660) schließen. Es folgt eine Zusammenschau, die Einblicke in das "Zahlenlabyrinth" liefert und erklärt, warum bis dato präzise Angaben fehlen, "wie viele Deutsche wo, wann und warum ihre Heimat verloren und wie viele dabei umkamen" (661).
Die hier besprochene Publikation geht über eine reine Darstellung der Ereignisse hinaus und bietet dem Leser einen kritischen Überblick über erinnerungspolitisch nach wie vor brisante Mythen, Legenden und Diskurse. Die Autoren kritisieren widersprüchliche, nicht selten geschichtspolitisch instrumentalisierte Zahlenangaben sowie einen oft unhistorischen, emotionalen Umgang mit dem Thema Flucht und Vertreibung. Dabei breiten sie zwar reichhaltiges Material aus, verlieren jedoch zuweilen den bereits eingetretenen Wandel der Erinnerungskultur aus dem Blick. Eva und Hans Henning Hahn zeigen, wie Zwangsmigrationen zu Vertreibungen stilisiert wurden, und weisen darauf hin, dass dieses Bild von einigen Publizisten und Historikern, sei es aus Schludrigkeit, sei es aus Absicht, nicht korrigiert wurde. Sie stellen zugleich die deutschen Erinnerungsbilder zur Vertreibung in Frage, wobei einige Thesen provokant wirken. Sie fordern nicht nur eine Kurskorrektur, sondern mahnen vielmehr eine radikale und grundsätzliche Revision der deutschen Erinnerung an die Vertreibung an.
Felicitas Söhner