Claus Veltmann / Jochen Birkenmeier (Hgg.): Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 17. Mai 2009 bis 4. Oktober 2009 (= Kataloge der Franckeschen Stiftungen; Bd. 23), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2009, 232 S., ISBN 978-3-939922-15-5, EUR 24,00
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Im Jahre 2009 widmeten die Franckeschen Stiftungen ihre Jahresausstellung den Waisenhäusern der Frühen Neuzeit. Unter dem Titel Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit ist nun der zugehörige Ausstellungskatalog erschienen. Der Titel steht dabei "gleichwohl stellvertretend für Ursache, Realität und Absicht der vielen unter dem Namen Waisenhaus zusammengefassten Institutionen vom ausgehenden Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert" (9). Die zehn im ersten Teil des Katalogs enthaltenen Aufsätze befassen sich vorwiegend mit August Hermann Francke (1663-1727), dem von ihm gegründeten Waisenhaus Glaucha vor Halle und der Verbreitung seiner Ideen.
Claus Veltmann gibt mit seinem Beitrag "Die Entwicklung der Waisenpflege von der Spätantike bis zum 16. Jahrhundert" einen Überblick über das Thema: von den ersten Einrichtungen, in denen Waisen aufgenommen wurden, den Xenodochien im Orient des 4. Jahrhunderts, über das erste westeuropäische Waisenhaus, das im Jahre 787 in Mailand nachzuweisen ist, hin zu den Waisenhäusern des 16. Jahrhunderts. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem ausgehenden Mittelalter. Anhand von Fallbeispielen (Leipzig, Nürnberg) wird die Entwicklung der Institution Waisenhaus nachvollzogen. Veltmann geht dabei unter anderem auf die Auswirkungen der Reformation ein, die weit weniger Veränderungen für das Armen- und Waisenwesen in den Städten mit sich gebracht habe, als die Forschung lange Zeit vermutete.
Besonders hervorzuheben ist der Aufsatz "Waisenfürsorge und Waisenhäuser im Kontext der frühneuzeitlichen Policey: Ordnungsgesetze und obrigkeitliche Maßnahmen" von Karl Härter. Den Zugang zum Thema wählt er über den Schlüsselbegriff der "guten Policey", da dieser "eine Rekonstruktion der Entwicklung der obrigkeitlichen Sozialpolitik" erlaube: "Policeywesen und Ordnungsgesetzgebung zeigen den historischen Wandel von Motiven, Intentionen und Zielen im Bereich der Waisenfürsorge und an ihnen lassen sich Etablierung und Entwicklung von Maßnahmen ablesen, die auch noch heute zum Ensemble staatlicher Fürsorge gehören" (50). Härter beschreibt den Wandel des Waisenhauses: Aus der policeylichen Zwangsanstalt, die den Prinzipien der repressiven Sozialfürsorge folgte, entwickelte sich schließlich eine Anstalt mit stark pädagogisch-erzieherischer Ausrichtung. Im 18. Jahrhundert sollten die Waisenkinder durch Waisenhausarbeit einen Beruf erlernen, damit ihre Lebensgrundlage nach dem Verlassen des Hauses gesichert war. Nebenbei wurde die Arbeitskraft der Waisenkinder wirtschaftlich genutzt.
Im Zentrum des Bandes steht allerdings das von August Hermann Francke gegründete Waisenhaus zu Glaucha vor Halle. Udo Sträter thematisiert in seinem Beitrag dieses Waisenhaus, das "mit traditionellen Waisenhaus-Stiftungen seiner Zeit kaum vergleichbar war. Die Bezeichnung 'Waisenhaus' umfasste bei Franckes Anstalten vielmehr ein komplexes, rapide wachsendes und sich immer wieder den neuen Erfordernissen anpassendes Konglomerat von Schulen - und zwar von Waisen- und Armenschulen über eine lateinische Schule (Latina) bis hin zu einem exklusiven Paedagogikum" (77). Auch eine Druckerei, ein Verlag, eine Buchhandlung sowie eine Apotheke nebst Laboratorien gehörten zum Schulkomplex. So trat das eigentliche Waisenhaus bald in den Hintergrund. Es war als Schul- und Bildungszentrum gedacht, nicht als Anstalt zur Basisversorgung von Waisenkindern. Dank neuer Forschungen wurde "eine Differenzierung zwischen den Funktionen des Waisenhauses für die Jungen und für die Mädchen greifbar" (84). Die Mädchen kamen aus der Region und entstammten Familien der unteren Bevölkerungsschichten. Sie erhielten im Waisenhaus eine Ausbildung und kehrten dann entweder in ihre Familien zurück oder wurden in die nähere Umgebung vermittelt. Die Jungen hingegen stammten aus einem weiten Einzugsgebiet, das dem Einzugsbereich der pietistischen Beziehungen und Korrespondenzen entsprach. Vor allem Pastorenfamilien betrachteten das Waisenhaus als einzige Möglichkeit, ihren Söhnen den Weg an die Universität zu finanzieren.
Den Ideen August Hermann Franckes widmen sich auch Antje Fasshauer und Jochen Birkenmeier. Fasshauer stellt in ihrem Beitrag "Die Ausstrahlung des Halleschen Waisenhauses ins Alte Reich" acht Waisenhäuser vor, denen das Waisenhaus zu Glaucha als Vorbild galt (unter anderem Darmstadt, Göttingen, Stuttgart, Potsdam) und arbeitet den Grad der Nachahmung heraus. Birkenmeier beschreibt in seinem Aufsatz die weltweite Ausstrahlung des Halleschen Waisenhauses. Hierbei waren die Veröffentlichungen der Waisenhausdruckerei von Bedeutung. Vor allem Franckes Schrift "Segensvolle Fußstapfen" fand nach 1701 weite Verbreitung. Er entsandte aber auch Lehrkräfte, unter anderem nach Südostindien und Nordamerika. Stiftungen nach Franckeschem Vorbild fanden sich zudem in Dänemark, Ungarn, Estland, Sibirien und England.
Die Aufsätze, die in diesem Ausstellungskatalog zusammengetragen und anregend illustriert wurden, bieten neue Erkenntnisse auf dem Feld der frühneuzeitlichen Waisenhausforschung. Dabei liegt der Fokus auf der Halleschen Anstalt von August Hermann Francke, seinen Ideen und der Vorbildfunktion des Waisenhauses. Die überwiegend exemplarischen Darstellungen geben zwar detailreiche Einblicke in die Organisationsformen einzelner Waisenhäuser. Sie zeigen allerdings immer nur einen Ausschnitt der historischen Realität. So verliert der Leser leicht das große Ganze aus den Augen.
Eine erfreuliche Ausweitung erfährt der Sammelband dank des Beitrags "Dutch Orphanages in the Golden Age" von Joke Spaans. Dort wird deutlich, dass sich die Generalstaaten im 17. Jahrhundert durch eine auffallend hohe Dichte an Waisenhäusern auszeichneten. Zudem bildete sich ein neuer Typ Waisenhaus heraus: das "burgerweeshuis", in dem das Leben nach einem familiären Modell organisiert war. Die Waisen wuchsen in einer "artificial family" (74) auf. Der Aufsatz löst sich aus dem leider recht eng gesteckten Rahmen und von den exemplarischen Darstellungen ab und bietet eine umfassende Einführung in das niederländische Waisenwesen des 17. Jahrhunderts.
Der zweite Teil des Katalogs widmet sich den Exponaten der Ausstellung, die in guter Qualität abgebildet werden. Neben Modellen und Ansichten vieler frühneuzeitlicher Waisenhäuser liegt der Fokus auch hier auf den Glauchaer Anstalten. Besonders hervorzuheben sind die Gemälde aus den Amsterdamer Waisenhäusern, Exempel niederländischer Malerei des 17. Jahrhunderts, die Szenen aus dem Waisenhausleben widerspiegeln. Das Verzeichnis der Exponate orientiert sich an den Räumen der Ausstellung, auf die auch die Aufsatzthemen abgestimmt wurden. Ein Personen- sowie ein Ortsregister komplettieren den Ausstellungskatalog.
Lisa Klewitz