Jürgen Wilhelm (Hg.): Napoleon am Rhein. Wirkung und Erinnerung einer Epoche (= Veröffentlichungen der LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte), Köln: Greven-Verlag 2012, 200 S., ISBN 978-3-7743-0497-0, EUR 24,90
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Der vorliegende Band entstand aus einem Forschungssymposium, dass am 27. November 2009 in Köln-Deutz unter dem Titel "Die Franzosenzeit im Rheinland um 1800 - Kulturtransfer - Wirkungsgeschichte - Erinnerungskultur" stattfand. Auf der Tagung standen die Veränderungen und Umwälzungen in Politik, Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft sowie das Wirkungsgeschehen der Franzosenzeit im Mittelpunkt. Dabei konnte an Forschungen angeschlossen werden, die im selben Jahr 2009 im Sammelband "Frankreich am Rhein. Die Spuren der 'Franzosenzeit' im Westen Deutschlands" von Kerstin Theis und Jürgen Wilhelm veröffentlicht wurden. Im Rahmen des den beiden Bänden zugrunde liegenden interdisziplinären Projekts wurde mithilfe kulturhistorischer und sozialwissenschaftlicher Analysen die Wirkung der Franzosenzeit auf das Rheinland untersuchte. Im ersten Band lag dabei ein Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert.
Diese Forschungen wurden nun vertiefend weitergeführt. Im Blickfeld der Wissenschaftler standen sowohl die mittel- als auch die langfristigen Wirkungen der französischen Herrschaft im Rheinland über das 19. Jahrhundert hinaus bis hin zu der Frage, ob sich heutzutage noch Spuren der Franzosenzeit im Linksrheinischen finden lassen und wenn ja, weshalb. Untersucht wurde diese Fragestellung in einem interdisziplinären Zugriff: von Historikern, Literaturwissenschaftlern, einem Kunsthistoriker sowie einem Musikwissenschaftler. Entsprechend thematisch breit aufgestellt präsentiert sich der Sammelband.
Während einige der Aufsätze eher klassische Felder der Auseinandersetzung mit der Franzosenzeit behandeln, sticht der Beitrag von Denis Kretzschmar hervor. Er beschreibt in seinem Aufsatz "Von der 'Franzosenzeit' zur preußischen Zeit. Öffentliche Bauten im Rheinland als Element der Kontinuität" die kontinuierliche Entwicklung einer vom französischen Klassizismus geprägten Architektur hin zur preußischen Herrschaft, legt dabei aber den Fokus auf die frühe preußische Zeit. War im 18. Jahrhundert die Architektur noch fürstlich geprägt, so wurden in der Franzosenzeit verstärkt öffentliche Funktionsbauten geplant. Unter anderem war es den finanziellen Zwängen geschuldet, dass eine den Funktionen angemessene Architektur gefordert wurde. Durch die staatliche Ausbildung der Baumeister, die zentralisierte Bauverwaltung und im Linksrheinischen arbeitende französische Architekten wurde der französische Klassizismus im Rheinland verbreitet. Über das Rheinland gelangte die Strömung nach dem Abzug der Franzosen nach Preußen. Die Merkmale des preußischen Klassizismus zeigt Kretzschmar an drei Beispielen auf: dem Regierungsgebäude in Aachen, dem Appellationsgerichtshof in Köln sowie dem Elberfelder Rathaus.
Hervorzuheben ist zudem der Beitrag von Arnold Jacobshagen. Er schildert in seinem Aufsatz "Musik im Rheinland der 'Franzosenzeit'. Anmerkungen zur Bestandsaufnahme und Wirkungsgeschichte" die nachhaltigen Wandlungsprozesse, die auch die musikalische Praxis unter der französischen Herrschaft erfuhr. Gerade in jüngster Zeit haben diese Wandlungsprozesse aufgrund regionaler Studien eine Neubewertung erfahren. Einschnitte sind besonders in den Residenzen der rheinischen Kleinstaaten und in der Kirchenmusik zu beobachten. Andernorts hingegen, wie in Krefeld, Aachen oder Neuss, verlief die musikalische Entwicklung kontinuierlich. Mainz und Bonn konnten sich gar als Zentren wichtiger Musikverlage etablieren. Am Beispiel Kölns zeigt Jacobshagen diese unterschiedlichen Entwicklungslinien auf. Hier übernahmen die Bürger nach der Säkularisation in Privatinitiativen die Organisation der Kirchenmusik und verhalfen der Domkapelle zu bislang unerreichter Größe, sodass sie im 19. Jahrhundert den Mittelpunkt des Kölner Musiklebens bilden konnte. Dank der Religionsfreiheit konnten Protestanten wie Juden im 19. Jahrhundert eigene Musikkulturen entwickeln. Auch die Kölner Oper erfuhr eine Neubewertung. Zahlreiche Premieren wurden hier in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts gefeiert. In der Franzosenzeit wurden demnach im Bereich der Musikgeschichte ebenfalls tiefgreifende Entwicklungen angestoßen.
Einen wirtschaftsgeschichtlichen Blick auf die französische Herrschaft am Rhein wirft Gabriele Clemens. Werner Tschacher legt die Bedeutung der Stadt Aachen und Karls des Großen für die napoleonische Symbolpolitik dar. Gleich zwei, allerdings thematisch sehr verschiedene Artikel widmen sich der Literatur: Helena Siemes' "Literarische Relikte der 'Franzosenzeit' am Niederrhein in populären Texten. Spottlieder, Anekdoten und Kinderverse" und Maria Schultz mit "Deutsche Bürger gegen französische Soldaten. Zur Darstellung des Rheinlandes in historischen Romanen über die Napoleonischen Kriege". Einen Anstoß für weitere Forschungen gibt schließlich Christoph Roolf. Er stellt das Konzept des Kulturtransfers als Grundlage zukünftiger Untersuchungen vor, zeigt seine Entstehung sowie die wichtigsten Inhalte auf, verfolgt die Rezeption des Konzepts von Frankreich nach Deutschland und relativiert abschließend die These, das Interesse der jüngeren Forschergenerationen an der Transfergeschichte habe stark zugenommen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es mit dieser ansprechend illustrierten Publikation gelungen ist, den Blick auf die französische Herrschaft am Rhein um einige neue Aspekte zu erweitern. Hervorzuheben ist, dass die Geschichts- und Literaturwissenschaften hier weitere Disziplinen für die Zusammenarbeit gewinnen konnten und somit der inter- und transdisziplinäre Blick auf die französische Herrschaft am Rhein erweitert wird. So ergibt sich ein vielgestaltiges Bild sowohl der Zeit der französischen Herrschaft und des Umbruchs, den sie herbeiführte, als auch deren mittel- und langfristigen Wirkungen. Die Frage nach den Bezügen der Franzosenzeit zur heutigen Lebenswirklichkeit der Rheinländer bleibt allerdings weiterhin für zukünftige Forschungen offen.
Lisa Klewitz