Ronald Hyam: Understanding the British Empire, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XXI + 552 S., ISBN 978-0-521-13290-9, GBP 24,99
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John Darwin: The Empire Project. The Rise and Fall of the British World-System, 1830-1970, Cambridge: Cambridge University Press 2009
Dietmar Rothermund: Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens, Stuttgart: W. Kohlhammer 2010
Elizabeth Kolsky: Colonial Justice in British India. White Violence and the Rule of Law, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Understanding the British Empire versammelt 18 teils überarbeitete, teils neu verfasste Beiträge aus rund 50 Jahren Forschungstätigkeit des Cambridger Empire-Historikers Ronald Hyam. Bei dieser Gabe zum 80. Geburtstag handelt es sich - ganz seinem Stil getreu - um ein provokantes, gelegentlich irritierendes Unternehmen, das von der Freude an kontrastierenden Standpunkten lebt.
Hyam interessieren vorrangig zwei Aspekte, nämlich "how people arrive at decisions and how they manage sexuality" (xiii). Trotz der ethnologisch anmutenden Fragerichtung nach dem Wie gründet er seine Darlegungen auf eine deutlich deklarierte Abneigung gegen Geschichtstheorien, eine in seinen Augen zu dogmatisch auftretende Kulturgeschichte, jegliche postkoloniale Theorie und "New Imperial History". Mit einiger Verve erklärt er diese Ansätze zu bloßen "methodological fashions", die sich vor allem dadurch auszeichneten, die Leistungen der "alten" Imperialgeschichte nachhaltig zu leugnen. Dabei seien 1982 mit dem Erscheinen des ersten Hefts der Subaltern Studies weder "Geschichte von unten" noch der Fokus auf "self / Other" oder "Identität" neu, sondern bereits für E.P. Thompsons "Making of the English Working Class" von 1963 konstitutiv gewesen (5). Anders als "post-koloniale" und "post-moderne" Historiker ist er nicht der Ansicht, dass die Empire-Erfahrung für das Alltagleben der Metropole oder für die Definition von "Britishness" eine besondere Rolle gespielt habe: Solch allzu theoretischen Annahmen will er mit archivgesättigter Expertise entgegentreten (xv). Dies geht er in sechs systematischen Themenblöcken an: 1) "Dynamics; geopolitics and economics", 2) "Ethics and religion", 3) "Bureaucracy and policy-making", 4) "Great men", 5) "Sexuality" und 6) "Imperial Historians". Titel wie "Great men" wirken angesichts der Tiraden gegen Vertreter der New Imperial History fast trotzig und lassen aufgrund des Gestus des "Alles schon dagewesen" eine eher zähe Lektüre nicht ganz neuer Grabenkampf-Rhetorik befürchten. Dass es anders kommt, liegt an Hyams Interesse für "cosmologies", Mentalitäten und Sinnstiftungen, zeitgenössischer Akteure.
Mit Skepsis begegnet Hyam auch Großtheorien des Imperialismus wie Hopkins / Cains gentlemanly capitalism und Robinson / Gallaghers Ansatz des formal / informal Empire (Teil I): Die Schwäche ökonomischer Ansätze liege in ihrem mangelnden Verständnis von Mechanismen des Regierungshandelns und bürokratischer Tradition, die tief in der Lebenswelt politischer Eliten (mit Oxbridge-Erziehung und Adelshintergrund) wurzelten und Wirtschaftsinteressen ablehnend begegneten, so Hyam. Wenn politische Stäbe nationale Interessen als "prestige: power based on reputation" (Harold Nicolson) definierten und strategische Sicherheit in erster Linie für ausschlaggebend hielten, spielten private Wirtschaftsinteressen für die imperiale Politikgestaltung nur eine untergeordnete Rolle. Von Hopkins / Cains Annahme einer "essential likemindedness" (134) zwischen Politikern und Geschäftsleuten könne also keine Rede sein, zumal die vermittelnden "men on the spot" in zeitgenössischen Kategorien weder für besonders Englisch noch "gentlemanly" gegolten haben dürften: "The great Livingstone himself was born: in a one-room Glasgow tenement, son of a self-employed tea-dealer, and he worked in a mill from the age of ten." (142) In diesem Sinn plädiert er dafür, imperiale Politik (wieder) stärker im Kontext internationaler Beziehungen zu betrachten.
In Teil II "Ethics and religion" befindet sich Hyam als Historiker auf ungewöhnlichen Wegen: "The view from below: The African response to missionaries" (Kap. 6) beruht nicht auf Archivstudien, sondern auf einer Reise nach Swaziland in Begleitung zweier Geistlicher der Community of the Ressurrection. Was mit einem gezielten Angriff auf John und Jean Comaroff als Hyper-Theoretiker unter den Anthropologen beginnt - die in postkolonialer Lesart verbunden mit den "Spekulationen Edward Saids" in Missionaren nur "cultural imperialists" sähen (182) -, bietet dann doch noch eine interessante Umkehrung der Fragerichtung: Was nämlich hatten afrikanische Gesellschaften von westlichen Missionaren? "The missionary may have thought he was playing a European role, but the role he actually played was assigned and determined by the Tswana." (183) Hyam betrachtet Funktionen von Missionen als Knotenpunkte von Arbeitsmigration und Flüchtlingstracks. Nützlich waren Missionare und christliche Religion nur so lange, wie sie Antworten auf aktuelle Umstände bieten konnten, so z.B. in der Agrarwirtschaft oder Medizin. Apologie des Missionsgewerbes oder subversiver Blick?
Wie ein roter Faden durchzieht die Frage nach dem "official mind of imperialism", der Praxis von "trusteeship" als "institutionally defining doctrine" (211) im Colonial Office, deren Ambivalenz und Wandel den Band und bildet den Fokus des dritten Teils: Ähnlich wie John Darwin sieht auch Hyam das Empire nicht als monolithischen Block, sondern vielmehr als einen "Mythos": "an illusion based upon a gigantic confidence trick perpetuated by its rulers" (18), die imperiale Macht nur durch Organisation von Mechanismen indigener Kollaboration sowie "Bluff" und "racial arrogance" haben ausüben können. Hyam folgt den politischen Konjunkturen im Sprachgebrauch von "trusteeship" ausgehend von Edmund Burke bis hin zur Labour-"Entwicklungspolitik" nach 1945, v.a. in einer gegen die Ausbreitung des Kommunismus gerichteten britischen Außenpolitik in Afrika.
Wie "Great men" trusteeship in Entscheidungssituationen füllten, will Hyam am Beispiel der "iconic figures" Churchill und Smuts zeigen, ohne indes "Heroen" "unserer Empire-Geschichte" (299) zu stilisieren (Teil IV). In einem sehr amüsanten Artikel zeichnet Hyam - einer Geschichte großer Männer dann doch uneigen -, von Churchill das Bild eines engagierten Politikers und außerordentlich begabten Redners, der state-papers und Parlamentsreden in seiner Zeit als Unterstaatssekretär im Colonial Office (1905-1911) vor allem als rhetorische Stilübung zur Erweiterung seines "political phrase book" (316) nutzte. Wenn Churchill nach der Lektüre eines Armutsberichts 1901 äußerte, er sehe "little glory in an Empire which can rule the waves and is uable to flush its sewers" (311), so versteht Hyam Churchills sozialreformerischen Impetus ebenso vor allem in der Sorge um staatlichen Machterhalt begründet. Auch Churchills Freunde befürchteten, dass er das rhetorische Potential jeglicher Politik überreize. 1915 urteilte Asquith: "It is a pity that Winston hasn't a better sense of proportion [...]; to speak with the tongue of men and angels, and to spend laborious days and nights in administration, is of no good if a man does not inspire trust." (314) Zwischen Februar 1921 und Oktober 1922 kehrte Churchill als Staatssekretär unter Lloyd George ins Colonial Office zurück: Was interessierte Churchill überhaupt an der Kolonialpolitik der Dependencies? Hyam zufolge vorrangig die Position Englands, die Rolle staatlicher Intervention auf internationaler Ebene und die Eindämmung neuer Formen von "international trusteeship" unter US-amerikanischer Ägide. Im Gegensatz zum Blick auf internationale Beziehungen zuvor will Hyam Smuts hingegen nicht in seiner bekannten Rolle als "racist and imperialist" betrachten, sondern eher als "a Boer and a lawyer" (344) und Cambridge Kanzler im Kontext seiner Zeit und gebunden an deren "practice of politics and the art of the possible" (351), zweifellos ein ambivalentes Unterfangen.
Den Schwerpunkt von Hyams Forschungen, die seinen Ruf begründet haben und daher mit vier Kapiteln und rund 110 Seiten den umfangreichsten Teil des Bandes ausmachen, bildet die Sektion "Sexuality: putting sex in perspective". Sexualität sei die Arena, in der sich die kulturelle Distanz zwischen europäischen und anderen Gesellschaften am deutlichsten artikuliere und die die Charakterisierung des asiatischen "Anderen" zeitgenössisch bestimmt habe. Hyam geht es auch darum, welche Bedeutung sexuelle Aktivitäten für das Leben im Empire spielten und in welchem Maße sie ausbeuterische Züge trugen. Mit einer breiten Themenpalette gedachte Hyam, einen Beitrag zur Interpretation von Sexualität im Empire zu leisten: Netzwerke von Prostitution im Dienste der "men on the spot" gehörten dazu, die Differenz zwischen offizieller Prüderie und sexuellen Aktivitäten als Mittel gegen die Unbill imperialer Dienste fernab der Heimat in Minen, Missionsstationen und in der indischen Armee, "pox Britannica", Pornographie, weiße Sklaverei und Netze internationalen Menschenhandels, Homosexualität, Konkubinat und die Politik des ICS - Themen, denen er sich methodisch aufgeschlossen durch Hinzuziehen von Tagebüchern und poetischen Werken nähert. Im Beitrag "Penis envy and 'penile othering'" zeigt er zudem Vor- und Nachteile des Einsatzes von Statistiken auf. Und dennoch fragt man sich, ob man nicht vielleicht doch Richard Voeltz zustimmen möchte, der in einer Rezension urteilte, Hyams Arbeit ließe sich ambivalent sowohl als "radically subversive critique of Empire" als auch als "phallocentric imperial apologetics" (363) lesen.
Im letzten Teil über "Imperial historians: historiography or ancestor worship?" schließlich geht Hyam der Empire-Historiographie und ihrer Institutionalisierung als Teil des Syllabus, Prüfungsgegenstand und damit forschungspolitischen Verpflichtung in Cambridge ein: Wie viel nämlich wissen wir über die Empire-Historiker, die diese Geschichten geschrieben haben und die Studien von Gallagher / Robinson bzw. Hopkins / Cain letztlich überhaupt erst ermöglicht haben? will er an postkoloniale Kritiker gewandt wissen.
Hyams Band stellt zumeist eine Gratwanderung der Empire-Historiographie dar, immer für eine Provokation gut, in rhetorischer Abgrenzung von der New Imperial History streitbar, in der Auseinandersetzung mit der Kultur des Empire oft unkonventionell und ungeheuer archivgesättigt - kurz: im besten Sinne "thought-provoking".
Verena Steller