Christian Gerlach: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München: DVA 2011, 576 S., ISBN 978-3-421-04321-4, EUR 39,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2014
Tomasz Strzembosz / Rafał Wnuk: Czerwone Bagno. Konspiracja i partyzantka antysowiecka w Augustowskiem, wrzesień 1939 - czerwiec 1941, Warszawa: Wydawnictwo Naukowe Scholar 2009
Die Erklärung von Massengewalt, auch solcher, die unterhalb der Schwelle des Völkermords bleibt: Nicht weniger als dies hat sich Christian Gerlach mit seinem nun auch ins Deutsche übersetzten Buch vorgenommen. Und es ist gut, dass er das getan und nicht vor der Komplexität und Diversität seiner Beispiele kapituliert hat, denn die Studie ist wegweisend. Gerlach verfolgt einen wesentlich breiteren Ansatz als die bisherige Genozidforschung, selbst wenn deren Blickwinkel nicht immer ganz so eingeschränkt ist, wie er im Vorwort behauptet. Im Kern geht es ihm darum, ohne bestimmte theoretische Ansätze Ursachen, Geschehen und Folgen von Massengewalt, also Mord, Vertreibung, kollektiver Beraubung usw., gesamtgesellschaftlich zu betrachten. Es gab viele Täter, nicht nur den Staat; es gab mehr als eine Gruppe von Opfern; es gab mehr Zielrichtungen der Gewalt als nur Mord. In diesem Sinne plädiert Gerlach dafür, Opfer- und Tätergeschichte nicht zu trennen, sondern als integrierte Bestandteile eines wechselseitigen Handlungsprozesses zu untersuchen, in dem niemand völlig passiv ist. Zudem müsse beachtet werden, dass sich multikausale Ursachen und Interessen überschneiden und gegenseitig bedingen.
Diese Paradigmen untersucht das Buch anhand mehrerer Beispiele aus dem 20. Jahrhundert, die als Fallstudien die Möglichkeiten einer Perspektiverweiterung demonstrieren sollen. So zeigen die Vorgänge in Indonesien in den Jahren 1965/66, wie eine ganze Gesellschaft zu partizipatorischer Gewalt angestachelt wurde, ohne dass diese von den regierenden Militärs und Politikern zentral geplant worden wäre. Noch heute wird dies in dem Land als eine "legale" Form des Vorgehens gegen "Kommunisten" gesehen. Opfer waren aber längst nicht nur echte oder vermeintliche Anhänger des Kommunismus, sondern auch ethnische Minderheiten. Circa 20 Prozent aller Toten gehörten der chinesischen Bevölkerungsgruppe an, die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verfolgt wurde; dazu kommen Binnenmigranten, die als Fremde und Landdiebe betrachtet wurden. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass den Massakern längst nicht alle Kommunisten zum Opfer fielen. Weil sie von unterschiedlichen ethnischen, sozialen und politischen Gruppen verfolgt wurden, verstärkte eine Interessenkongruenz zwar einerseits die Dynamik der Gewalt, sorgte aber nach Abnehmen dieser gemeinsamen Absichten auch für ein schnelleres Abflauen der Morde. Ähnlich wie beim zweiten, hierzulande besser bekannten Beispiel Armenien 1915-1923 erwies sich eine ganze Gesellschaft als Täter. Im Osmanischen Reich bzw. der späteren Türkei spielten allerdings wirtschaftliche Gründe eine zentralere Rolle beim Massenmord an den Nachbarn.
Als Ursache für den Ausbruch der Massengewalt identifiziert Gerlach jeweils Krisen, wobei er es sich auch hierbei nicht einfach macht und nur ein einzelnes Ereignis benennt, sondern Krisen eher prozessual - und erneut gesamtgesellschaftlich - versteht. Für diesen Gesichtspunkt wird im Buch Bangladesch (Ostpakistan) in den Jahren 1971-1977 untersucht. In dieser Region war die Eskalation eines lange schwelenden Konflikts zwischen postkolonialen Eliten zu beobachten, der ethnisch-religiös aufgeladen wurde und zu einem weiten Spektrum gegenseitiger Brutalität führte.
Eine letzte Beobachtung ist zentral für beinahe alle Fälle von Massengewalt: diese wird wechselseitig ausgeübt. Höchst instruktiv sind in Bezug auf diese These Gerlachs Ausführungen zum Partisanenkrieg im Osteuropa des Zweiten Weltkriegs. Gerade hinter der Front waren es meist nicht nur die Besatzer, die Morde verübten, sondern vielfach auch einheimische Hilfstruppen, deren Motive noch einer Erforschung harren bzw. erst in den letzten Jahren in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt sind. Vor allem in den besetzten Gebieten der Sowjetunion wandten sich die Partisanen nicht nur gegen die deutschen Okkupanten, sondern stritten auch für die sowjetische Gesellschaftsordnung, die jungen Menschen materielle und Karrierechancen versprach; dagegen kämpften die Hilfskräfte der Besatzer, die oftmals weniger aus Sympathie für die nationalsozialistischen Ziele gegen ihre Landsleute vorgingen, sondern ihrerseits Aufstiegsmöglichkeiten suchten - oder ganz schlicht alte Strukturen restaurieren wollten. Die Folge waren bürgerkriegsähnliche Zustände, die durch die deutsche Politik nochmals befeuert wurden. Als weiterer Beleg für diese Ergebnisse kann insbesondere Griechenland gelten, wo zwischen 1912 und 1974 immer wieder "Griechen gegen Griechen (einschließlich Minderheiten)" Massengewalt ausübten (334); auch hier ist die deutsche Besatzung nur ein kleiner Teil einer über 60-jährigen Geschichte von Mord, Vertreibung, Raub und Gewalt.
"Genozid" ist für die Erfassung all dieser verschiedenen Formen des gegenseitig zugefügten Leids ein aus mehreren Gründen ungeeigneter Begriff: Einerseits, weil er von bestimmten ethnischen Gruppen ausgeht oder diese sogar erst konstruiert; andererseits, weil er viel zu hoch ansetzt und Gewalt erst ab der Schwelle des Völkermords erfasst. Im Schlusskapitel der Untersuchung plädiert Gerlach daher erneut dafür, den Prozesscharakter sich dynamisch entwickelnder Massengewalt auch und gerade unterhalb des Levels eines Genozids stärker zu beachten. Diese wird in fast allen Fällen von ganzen Gesellschaften getragen, die sich davon mehrheitlich einen Profit versprechen und deshalb die Brutalität ständig eskalieren lassen. Auslösende Momente sind Krisen, die zugleich eine Transformation herbeiführen - also nicht nur Kriege, sondern beispielsweise im Deutschen Reich nach 1918 der Versailler Vertrag, dessen Auswirkungen zusammen mit dem wirtschaftlichen Niedergang 1929 den sozioökonomischen Wandel beschleunigten, so dass schlussendlich der Nationalsozialismus an die Macht gelangen konnte.
Die Betonung der komplexen Strukturen und Zusammenhänge wirft allerdings die Frage auf, wie eine derartige Geschichte künftig überhaupt geschrieben werden kann. Das Buch liefert darauf keine Antwort und bringt selbst "nur" die genannten instruktiven und überzeugenden Beispiele für die einzelnen Aspekte einer derartigen Untersuchung, die schon für sich wichtige Perspektiverweiterungen darstellen. Letztlich wird sich eine solche Untersuchung wohl nur auf Grundlage zahlreicher Detailanalysen schreiben lassen, als eine Art Meistererzählung am Ende eines langen Historikerlebens. Bevor es soweit ist, wird Gerlachs Werk ein unerlässlicher Impulsgeber für künftige Forschungen sein, die größeren und tiefgründigeren Zusammenhängen in Konflikten gewidmet sein sollten.
Stephan Lehnstaedt