Anton Legner: Der Artifex. Künstler im Mittelalter und ihre Selbstdarstellung. Eine illustrierte Anthologie, Köln: Greven-Verlag 2009, 758 S., ISBN 978-3-7743-0420-8, EUR 128,00
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Das knapp 760 Seiten starke Buch von Anton Legner ist Wundertüte und Füllhorn zugleich. In 21 Kapiteln fächert es, gleich einem Kaleidoskop, die vielfältige Welt der künstlerischen Kreativität und des damit verbundenen Selbstverständnisses mittelalterlicher Künstler in vielfarbigen, zum Teil einander überlappenden Facetten auf. Zur Illustration der zentralen und mit Verve vertretenen These, dass nämlich der mittelalterliche Künstler mitnichten so anonym waltete, wie es eine epochendifferenzierende und hinsichtlich einer schöpferischen Autonomie auf die Neuzeit hin konzentrierte Kunstgeschichtsschreibung nach wie vor geltend machen möchte, führt der Autor gegen diese These nicht nur annähernd 950 Darstellungen ins Feld, sondern auch zahlreiche Exempla, die er mit sichtbarer Freude am Erzählen munter aneinander reiht.
Das mit Schuber, Schutzumschlag und mit gleich zwei Lesebändchen ausgestattete Buch ist tatsächlich ein Füllhorn, denn der Verfasser nutzt vielfältige, divergierende Ordnungskriterien, um den überraschend zahlreichen Quellen künstlerischer Selbstbezeugung Herr zu werden.
Zu Anfang führt Legner den damaligen Bekanntheitsgrad der artifices auf die bereits bei Isidor von Sevilla zu findende Wertschätzung der bildenden Künste zurück (Kapitel 1: Im Zeitalter des artifex). So seien die artes mechanicae aufgrund enger theoretischer Verflechtungen Schwestern der artes liberales. So konnte im späten Mittelalter, genauer im Jahr 1399, der aus Paris nach Mailand gerufene Architekt Jean Mignon nurmehr trocken befinden: "Ars sine scientia nihil est" (92). Andererseits beanspruchte der artifex in der Folge des Bezaleel und anderer inspirierter Vorbilder einen gewissen Grad an eigener göttlicher Inspiration. Zieht man zu diesen theoretischen Ansprüchen nun noch die ebenfalls von Legner angeführte Einschätzung Michelangelos hinzu, wonach Künstler sich selbst stets gut oder am besten malten, "ogni pittore ritrae se medesimo bene" (74), eröffnet sich auch von Seiten der Bildwerke ein sehr weites Feld möglicher oder vermeintlicher Selbstbezeugungen.
So begreift der Autor, seine These illustrierend, Selbstbildnisse und sog. Kryptoporträts als eigene Gattung (Kapitel 15/16: Selbstbildnis in der Identifikationsfigur/Persönlich anwesend. Selbstprojektionen in Bildern der historia). Er fragt aber auch nach der Rolle, die Schreiber- und Dedikationsbildnisse für die Darstellung des artistischen Selbstverständnisses im Mittelalter haben können (Kapitel 6-8: Das Gebet des artifex/Donation und Devotion/Orte der Selbstdarstellung). Auch die Fülle von überlieferten Signaturen und Bildinschriften, die jeweils Namen und Werk und nicht selten auch eine zeitgenössische Wertschätzung von Werk und Künstler überliefern, geraten ihm in den Blick. In den besten Passagen gelingt ihm eine Kunstgeschichte nach Aufgaben. Nämlich dann, wenn er Funktions- und Formanalyse auf seine Fragestellung hin justiert und beispielsweise Atlantenfiguren als Bildnisse der magistri operis liest (Kapitel 9: Stütze und Träger des Werks) oder wenn er das gesamte zuvor schon ausgebreitete Spektrum an möglichen Formen, Intentionen und Kontexten ausschließlich am Werk Dürers nochmals herausarbeitet (Kapitel 18: Humilitas).
Allerdings sind dies eher seltene Momente. Für eine tiefergehende Auseinandersetzung sind seine Belege häufig zu weit gestreut. Denn chronologisch reichen sie von der Karolingerzeit bis zu Dürer und Burgkmaier, die sicher eine Epochenschwelle besetzten. Topografisch stammen die Beispiele nicht nur aus den cis- und transalpinen Kulturräumen, sondern manches Mal auch aus griechisch-orthodox geprägten Regionen, die jenseits des sprichwörtlichen Karpatenbogens liegen. Das Buch ist daher auch eine Wundertüte.
So bilden die jeweiligen Kapitel, die man mit großem zeitlichen Abstand auch einzeln lesen könnte, nur grobe Orientierungen. Gleich einem Kaleidoskop verschränken sich die einzelnen Facetten und man gewinnt nach längerer Lektüre den Eindruck, dass diesem oder jenem Kapitel auch das in einem anderen Abschnitt untergekommene Bild- oder Textbeispiel gut angestanden hätte. [1] Tatsächlich belegt die schiere Zahl von Abbildungen in zumeist vorzüglicher Qualität und fast immer akkurat zum Text hin geordnet, dass es sich bei dem Buch um eine, wie es der Untertitel verdeutlicht, "illustrierte Anthologie" handelt.
Diesen Eindruck unterstützen auch die nicht selten von Legner leichtfüßig erzählten 'Künstlerlegenden' aus Schwank und Predigt, sowie die einschlägig bekannten topischen Lobpreisungen der hohen Literatur, die in einer Auswahl, deren Kriterium leider nicht erkennbar ist, in einem Anhang widergegeben sind. So sind es die vielen, nicht selten abseitigen und unbekannten pikturalen Zeugnisse, aber auch die wenigen kunsthandwerklichen Traktate und überlieferten Werkverträge, die in ihrer präsentierten Dichte helfen, die vorhandene Wahrnehmung und Wertschätzung des jeweiligen artifex in seiner Zeit zu belegen. Damit, ganz generell gesagt, wird der Autor seiner selbst gestellten Aufgabe vollauf gerecht.
Worin liegt aber nun für den Leser der Sinn eines solchen Unterfangens? Kurz gesagt, liegt er in der inspirierenden Wirkung, die die Belege entfalten. Einmal angestoßen, möchte man die legendarischen Überlieferungen auf weitere Hinweise durchforsten. Ebenso scheint es lohnend, die von Legner erwähnten Mythologeme der Kinder des Merkur, aber auch die Exempla, die beispielsweise Pygmalion und Phidias als Identifikationsfiguren bieten, nicht nur in der mittelalterlichen Literatur systematisch zu untersuchen. Auch antiken Traditionslinien, und seien sie - wie vielleicht im Beispiel des Jean Mignon, der Cicero zitiert - auch nur rhetorischer Natur, könnte man nachgehen, um weiteren Aspekten künstlerischen Selbstverständnisses auf die Schliche zu kommen. Schließlich, woran die paraphrasierten Verträge und kunsttechnologischen Traktate erinnern, was aber wohl aufgrund der erst langsam wieder in Gang kommenden engeren Zusammenarbeit von Kunsthistorikern und Restauratoren weitestgehend ausgeblendet blieb, wären die technischen Aspekte in den Blick zu rücken. Denn auch hier ließen sich künstlerische Spielräume festmachen und damit etwas über die für die Zeitgenossen erkennbaren Distinktions- und damit Identifikationsmerkmale aussagen, die den einzelnen Meister aus der Menge zeitgenössischer Werkschaffender heraushob.
Anton Legner hat nun dafür verdienstvollerweise einen enormen Fundus an Bildern und Texten bereit gestellt. Man möchte daher für den Autor dieses opulenten Bandes annehmen, dass ihm, der im katholischen Köln lebt, so mancher rheinische Heilige gewogen sein wird. Denn schließlich, so belegt es die Schlußvignette (209 und Abbildung 944) mit dem Schreiber Radulf und dem hl. Vedastus, schlägt jede Zeile, jeder Punkt, kurz die gesamte Zahl geschriebener Buchstaben für Tilgung der Sünden ins Gewicht.
Anmerkung:
[1] Tatsächlich ist dem Rezensenten nur eine einzige 'Dublette' ins Auge gefallen, was für den strengen Ordnungssinn des Autors spricht. Es handelt sich um das vermeintliche Selbstbildnis des Rodrigo Alemán,188, 305.
Michael Grandmontagne