Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band IV: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhundert., München: C.H.Beck 2010, 559 S., ISBN 978-3-406-36955-1, EUR 88,00
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Die Geschichte der Universität in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist bislang erst in Ansätzen erforscht. Nur zögerlich wendet sich die Universitäts- und Bildungsgeschichte der unmittelbaren Vergangenheit jener Einrichtung zu, die ihr institutionelles Fundament bildet. Das hatte weitreichende Konsequenzen: Zunehmend sind andere Disziplinen auf den Plan getreten, die - politisch unterstützt - die Hochschulen ausleuchten, ohne die für viele Forschungsfragen dringend notwendige historische Perspektive einnehmen zu können oder zu wollen. [1] Umso mehr ist es zu begrüßen, dass der Schweizer Soziologe Walter Rüegg 2010 den vierten und letzten Band einer Geschichte der Universität in Europa herausgegeben hat, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt. In insgesamt vier Teilen und fünfzehn Kapiteln unternimmt es die international zusammengesetzte Autorenschaft, dem Leser einen Überblick über die Strukturen des Universitätswesens zu geben, die Entwicklung der Studentenschaft und des Lehrpersonals vorzustellen sowie den Wandel in ausgewählten Disziplinen (Sozialwissenschaften, Geschichte und Rechtswissenschaft, mathematische Wissenschaften, Biologie, Geologie, Medizin, Technik) nachzuzeichnen. Allerdings - so viel sei bereits vorweggenommen - werden die meisten Beiträge geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen an ein Standardwerk zur europäischen Universitätsgeschichte nicht gerecht. Gleichwohl stellt der Band zumindest in Teilen einen ersten Schritt in die richtige Richtung dar.
Dies gilt zum einen für die konsequente europäische und internationale Perspektive. Erhellend - wenn auch teilweise unzureichend belegt - sind insbesondere jene Passagen, die von der "Entnationalisierung des europäischen Hochschulwesens" (65) handeln und die zunehmende Beeinflussung des europäischen Hochschulraums seit den 1960er Jahren durch inter- und supranational agierende Akteure konstatieren (79 ff.). Wohltuend lesen sich auch solche Abschnitte, die aus einem historischen Blickwinkel heraus mit gängigen Vorurteilen über die angeblich so "globalisierte" heutige Hochschule aufräumen: So erhöhen zum Beispiel die Austauschprogramme ERASMUS und SOKRATES die Mobilität der Studierenden nachweislich nicht über das seit dem 18. Jahrhundert übliche Zehntel der Studierenden hinaus, ja sie erreichen diesen Anteil noch nicht einmal vollständig (44). Positiv hervorzuheben ist zudem das Gespür, das einige Autoren für das Aufkommen neuer Terminologien ("Bildungssystem", "Management") an den Tag legen - auch wenn dann die dafür verantwortlichen Gründe ebenso wie die Konsequenzen im Dunkeln bleiben.
Bezeichnenderweise sind vor allem jene Beiträge besonders lesenswert, die gar nicht primär die Universitätsgeschichte im Blick haben, sondern einen "Ausflug in die Wissenschaftsgeschichte" unternehmen, wie es im Vorwort heißt (14). Namentlich gilt das für den Aufsatz von Notker Hammerstein und Dirk Heirbaut, der den Wandel in der Soziologie, der Politikwissenschaft, den Wirtschaftswissenschaften, der Ethnologie und Sozialanthropologie, der Geographie sowie in der Geschichts- und Rechtswissenschaften zum Gegenstand hat. Auf der Basis aktueller Forschungsarbeiten kann Hammerstein beispielsweise zeigen, dass die ideell an Amerika orientierten europäischen Sozialwissenschaften nach 1945 "relativ geschichtsfreien, universalen" und damit entkontextualisierten Konzepten von Wissenschaft den Weg ebneten (333); ihr steiler Aufstieg in der Nachkriegsära erklärt letztlich auch die schon erwähnte eigentümliche Geschichtslosigkeit der jüngsten Universitätsgeschichte. Mit dieser Interpretation rückt Hammerstein nicht nur Einschätzungen zurecht, allein der Ostblock sei mit dem Marxismus einer (pseudo)wissenschaftlichen Ideologie erlegen. Auch der Westen, so könnte man Hammersteins Ergebnisse zuspitzen, hat im Zeichen einer beschleunigten Verwissenschaftlichung des Sozialen höchst fragwürdigen quantifizierenden empirischen Verfahren den Weg geebnet, die alles andere als wertfrei, ja sogar in erstaunlichem Maße von einer neuen, ahistorischen Eine-Welt-Ideologie durchdrungen waren, die sich wiederum nicht ohne den höchst normativen Kontext des Kalten Kriegs erklären lässt.
Die Mängel des Bandes können diese starken Passagen und Beiträge aber weder verdecken noch wettmachen: Vor allem wiegt die Tatsache schwer, dass die meisten Autoren einer Professorengeneration entstammen, die bereits aus der Universität ausgeschieden ist: In den seltensten Fällen hinterfragen sie das eigene Selbstverständnis als Forscher und Gelehrte sowie die Ideengeschichte der für die Universität prägenden Traditionen und Konzepte wie das der Bildung oder der general education, die stattdessen in einer gleichsam essentialistischen Einstellung als gegeben vorausgesetzt werden. Das hat zur Folge, dass sich der Sammelband über weite Strecken mehr als Quelle zur Erschließung eines bislang dominierenden universitären Selbstverständnisses, denn als genuin wissenschaftlicher Beitrag lesen lässt. Sehr wertende Einschätzungen wie die Bezeichnung der "68er" als "Revolutionsschwärmer" (105), die Behauptung, dass die Universitäten heute auch vor Methoden des Marketings nicht "zurückschreckten", oder die indirekte Kritik an Studienbeihilfen, die seit den 1970er Jahren "gemäß sozialen", leider aber nur "teilweise" auch nach "intellektuellen Kriterien" vergeben worden seien (35), mögen zwar die Einschätzung eines Teils der heutigen Hochschullehrerschaft widerspiegeln, wissenschaftlich untermauert sind sie nicht.
Problematisch wird diese Verwechslung von Zeitzeugenschaft mit Analyse vor allen Dingen dann, wenn der aktuelle Forschungsstand nicht zur Kenntnis genommen wird bzw. wenn die eigenen Eindrücke als Universitätsgelehrter als wissenschaftliche Beobachtungen ausgegeben werden (insbesondere 123 und 485 ff.). Die zum Teil hoffnungslos veraltete Literatur im bibliographischen Anhang (vgl. 215 f.) zeugt davon ebenso wie der Umstand, dass bislang nicht hinreichend belegte Einschätzungen übernommen werden, wie beispielsweise diejenige, die europäischen Universitäten seien nach 1945 "im Kern gesund" gewesen und hätten schnell zu ihren alten Traditionen zurückkehren können (49). Dadurch werden in fast naiver Weise nach Kriegsende auflebende nationale Widerstandsnarrative gegen Faschismus und Nationalsozialismus kolportiert und weitergesponnen, die insbesondere mit Blick auf Länder wie das (post)faschistische Italien als extrem heikel gelten müssen (81).
Bei allen Versäumnissen zeigen die Beiträge eines sehr deutlich: Es ist noch zu früh, um universitätsgeschichtliche Forschungsergebnisse für die Zeit nach 1945 in Handbuchwissen zu fassen, da quellengesättigte historische Studien als notwendige Basis fehlen. Angesichts der aktuellen Forschungslage wäre es wünschenswert gewesen, den im Vorwort des Sammelbandes durchaus geltend gemachten bescheidenen Anspruch auch in den einzelnen Beiträgen erneut herauszustreichen. Dazu hätte die klare Benennung und Offenlegung von Forschungslücken ebenso gehören können wie die Skizzierung künftiger Themen und Fragestellungen. Diese Aufgabe bleibt weiteren Forschungen vorbehalten. Es gibt viel zu tun.
Anmerkung:
[1] Anne Rohstock: The History of Higher Education. Some Conceptual Remarks on the Future of a Research Field, in: Daniel Tröhler / Ragnhild Barbu (eds.): The Future of Education Research. Education Systems in Historical, Cultural, and Sociological Perspectives, Rotterdam 2011, 91-104.
Anne Rohstock