Axel Schildt / Detlef Siegfried (eds.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies, 1960-1980, New York / Oxford: Berghahn Books 2006, 436 S., ISBN 978-1-84545-333-6, EUR 27,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band IV: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhundert., München: C.H.Beck 2010
Stuart J. Hilwig: Italy and 1968. Youthful unrest and Democratic Culture, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009
Boris Spix: Abschied vom Elfenbeinturm? Politisches Verhalten Studierender 1957-1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, Essen: Klartext 2008
Axel Schildt (Hg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen: Wallstein 2016
Detlef Siegfried: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers 1914 bis 1934, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2001
Detlef Siegfried: Bogensee. Weltrevolution in der DDR 1961-1989, Göttingen: Wallstein 2021
Was verbindet den amerikanischen Softdrink Coca-Cola mit Karl Marx, dem deutschen Vordenker des Kommunismus? Wenig, will es auf den ersten Blick scheinen - sehr viel meinen dagegen die Herausgeber Axel Schildt und Detlef Siegfried in der Einleitung zu ihrem aus einer Konferenz in Kopenhagen hervorgegangenen Sammelband. Die im Titel anklingende Reminiszenz an den Kultfilm Jean-Luc Godards verweist bereits auf das wichtigste Ergebnis des Buches: Die Entstehung einer jugendlichen Konsumkultur gegen Ende der 1950er Jahre wirkte katalytisch auf die (Wieder-)Entdeckung des Politischen als Betätigungsfeld für junge Menschen.
Damit widerspricht der Sammelband gängigen zeitgenössischen Sichtweisen fundamental. Der Massenkonsum in den westlichen Gesellschaften führte demnach nicht etwa zur Entmündigung und Entpolitisierung der Konsumenten, wie das die kritischen Schriften linker Intellektueller in den 1960er Jahren suggerierten. Ganz im Gegenteil: Erst die Befriedigung materieller Bedürfnisse schuf die notwendigen Freiräume für die Entstehung eines politischen Bewusstseins. Darüber hinaus beförderte die sprichwörtliche Qual der Wahl aus einem sich zunehmend differenzierenden Warenangebot überlegte Entscheidungen und "erzog" den Jugendlichen auf diese Weise zum mündigen Bürger.
Diese Beziehung zwischen Konsum und Politisierung in verschiedenen europäischen Jugendkulturen zu konkretisieren, ist Anliegen des Sammelbandes. In den Blick genommen werden mit Schweden, Dänemark, Westdeutschland, Großbritannien und Frankreich nord- und mitteleuropäische Staaten, in denen die gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Nachkriegsjahrzehnte besonders tiefgreifend waren: Hier leisteten der Baby-Boom, ein durch die prosperierende Wirtschaft bedingter hoher Lebensstandard, längere Ausbildungszeiten sowie Säkularisierungsprozesse der Herausbildung moderner Jugendkulturen Vorschub.
Ihre seit Ende der 1950er Jahre zunehmende wirtschaftliche Potenz machte die Heranwachsenden zu Trendsettern vor allem in Sachen Mode und Musik. Gleichzeitig erlangten sie auch politische Macht. Der Aufstieg in einflussreiche Positionen der expandierenden Massenmedien sowie der Kulturindustrie festigte ihre gesamtgesellschaftliche Geltung und beschleunigte so die Transformation. Dass die Einzelbeiträge diese Wechselbeziehung zwischen den jeweiligen Jugendkulturen und den Mehrheitsgesellschaften näher auszuleuchten versuchen, ist genauso positiv hervorzuheben wie die undogmatische Erweiterung des nationalen Blickwinkels um eine europäisch-transatlantische Perspektive.
Die Beziehung zwischen Politik und Konsum beurteilen die Autoren durchaus unterschiedlich. Der Berliner Musikhistoriker Peter Wicke etwa kennzeichnet das Verhältnis als spannungsreich. Für ihn spiegelt die Auseinandersetzung um den legendären Beatles Song "Revolution" das ambivalente Verhältnis zwischen den "Fab Four" aus Liverpool als Teil einer kommerziell organisierten Jugendkultur und den politischen Aktivisten der Studentenbewegung adäquat wider. Andererseits macht insbesondere der britische Historiker Arthur Marwick in seinem instruktiven einleitenden Beitrag deutlich, dass sich die beiden Imperative der Jugendbewegten "Changing the World" und "Having a Good Time" (46) nicht konkurrierend gegenüberstanden, sondern untrennbar miteinander verbunden waren. Statt einen Unterschied zwischen konsumorientierten "Spaßjugendlichen" und politischen Aktivisten zu konstatieren, sieht Marwick in den verschiedenen Jugendszenen der 1960er und 1970er Jahre eine Art revolutionären Hedonismus am Werk.
Dadurch veränderten sich auch die Erscheinungsformen des Politischen erheblich. Opposition manifestierte sich in den 1960er Jahren zunächst weniger in offen artikulierter Gesellschaftskritik als in bewusster kulturell-habitueller Abgrenzung. Wie Rob Kroes in seinem klug argumentierenden Artikel herausstellt, wurde etwa die Adaption von Elementen amerikanischer Massenkultur in Europa als Möglichkeit begriffen, Nonkonformität, Libertinage und Wahlfreiheit auszudrücken. Die in diesem Rahmen entstehenden neuen Konsummuster und Lebensstile gaben den Zeitgenossen so manches Rätsel auf. Dass man dabei offenbar in den seltensten Fällen zum Kern des Phänomens vorstieß, zeigt Detlef Siegfried zufolge die für die 1960er Jahre charakteristische menetekelhafte Beschwörung eines neuen jugendlichen Konformismus, für den insbesondere der rasch wachsende Markt mit seinen auf junge Menschen zugeschnittenen Produkten verantwortlich gemacht wurde.
Der anregende Beitrag des Mannheimer Zeithistorikers Konrad Dussel weist jedoch in die genau entgegengesetzte Richtung. Es war die Unterhaltungsindustrie, die oftmals Skepsis gegenüber neuen, von den jugendlichen Zuhörern bevorzugten Musiktrends hegte. In den staatlichen Radioprogrammen Westdeutschlands musste sich englischsprachige Popmusik so erst gegen große Vorbehalte der Intendanten durchsetzen. Statt willfähriger Spielball des Marktes zu sein, strukturierten Jugendliche diesen also selbst.
Teils widersetzte sich deren Konsumverhalten sogar allen Regeln des Massenmarktes. Zu diesem Ergebnis kommt Barry Doyle in seiner Untersuchung des "Northern Soul", einer jugendlichen Subkultur in England. Für die Angehörigen dieser Szene, meist junge Männer mit working-class-Hintergrund, bemaß sich der Wert von Schallplatten nach ihrer Seltenheit. Das begehrte Vinyl wurde weder beworben noch in offiziellen Läden verkauft. Gleichzeitig wirkte die Musik nachhaltig auf die politische Einstellung der Jugendlichen. Soul wurde überwiegend von Schwarzen gemacht, was die tolerante Haltung der jungen Briten dieser Minderheit gegenüber beförderte. Dass Jugendliche dann auch ihrerseits Produkte der Massenindustrie funktionalisierten und instrumentalisierten weist der Heidelberger Wissenschaftler Wilfried Mausbach nach. Er zeigt auf, in welchem Maße etwa Mitglieder der Westberliner Kommune I Comics und Stilelemente der Popliteratur nutzten, um ihre politische Kritik an den westlichen Konsumgesellschaften zu artikulieren. Zudem stellt er heraus, dass die Heranwachsenden sogar selbst zu "active manipulators" wurden (192), indem sie über industrielle Massenware Gruppenidentität konstruierten.
Bis in die frühen 1970er Jahre waren selbst Drogenkonsum und politisches Engagement eng miteinander verbunden, wie Klaus Weinhauers Recherchen in einem bisher völlig unterbelichteten Forschungsfeld ergaben. Erst mit dem Übergang von den "weichen Drogen" wie Haschisch oder Marihuana zu "harten Drogen" wie Heroin und der Ausweitung der zunächst kleinen Szenen auf breitere Schichten der Gesellschaft ging mit dem Konsum von Rauschmitteln auch eine spürbare Depolitisierung der Abhängigen einher.
Axel Schildt und Detlef Siegfried haben mit dem vorliegenden Sammelband ein gelungenes Buch mit spannenden neuen Erkenntnissen auf den Markt gebracht. Hervorzuheben sind insbesondere die vielen Gedankenanstöße, die den Sammelband zu einer überaus inspirierenden Lektüre machen. So wird der Leser auch darüber hinweggetröstet, dass nicht allen Autoren die empirische Durchdringung des Forschungsgegenstands auf gleich hohem Niveau gelungen ist.
Anne Rohstock