Manfred Kittel: Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt am Main nach 1968 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 86), München: Oldenbourg 2011, IX + 489 S., ISBN 978-3-486-70402-0, EUR 49,80
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1968 wird historisch. Das Datum ist mittlerweile auf breiter Front zum Objekt zeitgeschichtlicher Forschung geworden. Mit Manfred Kittel, Jahrgang 1962 und seit kurzem Direktor der Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung, meldet sich ein Nachgeborener zur Sache. Noch während seiner vorhergehenden Tätigkeit am Münchner Institut für Zeitgeschichte hat Kittel sich in einer Studie der Frage gewidmet, wie weit die 68er auf ihrem Marsch durch die Institutionen gekommen sind und dekliniert sie an einer umfangreichen monographischen Untersuchung zum kommunal- und kulturpolitischen Milieu der Stadt Frankfurt der frühen 70er Jahre durch. Die Ereignisse in Frankfurt hatten für die Impulse, die von den 68ern ausgegangen sind, (wie sonst allenfalls noch West-Berlin) Modellcharakter und Ausstrahlung auf die ganze Republik.
Dem Untertitel "Politik und Kultur ..." entsprechend beschäftigt sich Kittel zum einen mit Politik im engeren Sinne, also mit den zeitgenössischen Entwicklungen und Transformationen der Parteien, vor allem SPD und CDU, zum anderen mit den Auswirkungen der manifesten Politisierung auf die Institutionen des Kulturlebens; hier nimmt er vor allem das 1972 mit einem Neubau versehene Historische Museum der Stadt Frankfurt und die Erprobung von Mitbestimmungsmodellen am Schauspiel, in denen auch dem Ensemble Mitspracherechte in künstlerischen Fragen eingeräumt werden sollten, in den Blick.
Die SPD, die sich mit dem Godesberger Programm gerade erst zur Volkspartei gewandelt hatte, erlebte nach 68 besonders im Unterbezirk Südhessen einen massiven Zustrom junger Menschen, so dass die Jusos bald schon eine dominierende Rolle spielten und die alteingesessenen Eliten erfolgreich in die Defensive drängten. Ideen wie das imperative Mandat wurden propagiert, die gewählten Organe wie die Stadtverordnetenversammlung ins zweite Glied verwiesen und die Politik im Frankfurter Römer direkt aus dem Vorstand des SPD Unterbezirks heraus gesteuert. Wohl gelang es mit Walter Möller 1970 einen Exponenten der Linken und mit seinem Nachfolger Rudi Arndt eine Art linken Volkstribun auf dem Posten des Oberbürgermeisters zu installieren, doch der ständige interne Konflikt zwischen den Erfordernissen des Amtes und der stark ideologisierten Politik der Partei war programmiert. 1972 ging man so weit, die bis dahin in Frankfurt geübte konsensuale Allparteienverwaltung aufzukündigen und eine SPD-Alleinherrschaft anzustreben. Interessanterweise sah sich die Frankfurter CDU ähnlichen Entwicklungen ausgesetzt. Auch hier formierte sich eine junge kampfeslustige "Gruppe 70" - von Kittel als "schwarze 68er" bezeichnet, dann auch als Gruppe "Adel und Banken" bekannt geworden -, die eine härtere Gangart gegenüber der SPD anmahnte und gegen die herkömmliche Konsenspolitik der alten Führung um den (im Hintergrund noch heute mit 90 Jahren aktiven) Ernst Gerhard opponierte. In den folgenden Jahren gelang es der CDU besser, die divergierenden Flügel zu integrieren als der SPD, die über ihren heftigen inneren Kämpfen das Werben um die Zustimmung der Bürger vollkommen aus dem Blick verlor.
Die Kultur wurde ein bevorzugtes Feld für das Ausagieren dieser politisch induzierten extremen Haltungen. 1970 wurde Hilmar Hoffmann Kulturdezernent - womöglich der bedeutendste kommunale Kulturpolitiker in Deutschland nach 1945 überhaupt. Er war kein in der Wolle gefärbter SPD-Mann und verfehlte dank entsprechender Umgangsformen und Bildung auch auf bürgerliche Kreise seine Wirkung nicht. Und doch machte sich Hoffmann kulturpolitisch zum Vollstrecker der Ideen der 68er. Dabei lag sein Paradigma "Kultur für alle" (sein gleichnamiges Buch erschien erst 1979) in einer viel breiteren Grundströmung der Zeit und ist im Grunde genommen das Weiterdenken von Erhardts "Wohlstand für alle" in der Kulturpolitik. Doch in Frankfurt wurde das in Amerika schon längst praktizierte Programm, die Kulturinstitutionen, insbesondere die Museen durch einschlägige Angebote breiteren Schichten zu öffnen, unter den Vorzeichen extremer Ideologisierung vorangetrieben. Einer der markantesten Vorposten wurde das Historische Museum. Inhalt und Form der 1972 neu eröffneten Dauerausstellung nahmen hier gezielt radikale Ausmaße an: das mittelalterliche Feudalwesen wurde durch die Brille des KPD-Gründers Otto Rühle betrachtet und dem Rätesystem der frühen Weimarer Zeit Primat vor der parlamentarischen Demokratie eingeräumt. Gegen solch unqualifizierte Färbungen der Geschichtsdarstellung formierte sich auf breiter Front zivilgesellschaftliche Kritik: sie reichte bis zur linken Mitte der SPD und der linksliberalen Presse mit Frankfurter Rundschau und Spiegel, vor allen Dingen erhob auch die akademische Geschichtswissenschaft öffentlich Einwände dagegen. Doch der "Chefideologe" (Kittel) am Historischen Museum, Detlef Hoffmann, in den 80er Jahren dann Professor an der Universität Osnabrück, zeigte sich davon unbeeindruckt und provozierte einige Jahre später erneut mit einer Texttafel, auf der er Bismarck vor allem in seiner Eigenschaft als Schnapsbrenner würdigte, der seinen billigen Fusel in die deutschen Kolonien in Afrika verkaufte. Erneut löste er damit heftige Debatten aus, die wiederholt auch im Frankfurter Stadtparlament ausgetragen wurden. War der Kulturdezernent mit dieser Geschichtsdarstellung zwar nicht umstandslos einverstanden, so deckte er seine Mitarbeiter in den Instituten doch immer. - Vergleichbare Vorgänge gab es auch in anderen städtischen Kulturinstitutionen, von denen Kittel vor allem das Schauspiel in den Blick nimmt. In der Kultur hatten die 68er somit ein ausgiebiges Exerzierfeld gefunden. Aber auch innerhalb der SPD agierten sie weiterhin heftig und führten so unaufhaltsam ihren Niedergang herbei: bei 29 % stand die Frankfurter CDU Ende der 60er Jahre, als Frankfurt noch unangefochten als SPD-Hochburg galt; bei der Kommunalwahl 1977 erreichte sie über 51 % und konnte mit Walter Wallmann erstmals den Oberbürgermeister stellen. Kittel wertet diese Entwicklung als Plebiszit gegen das selbstherrliche Gebaren der von den 68er durchdrungenen SPD und der von ihnen aufgemischten Kultur- und Bildungslandschaft.
Kittel hat all diese Vorgänge auf der Basis intensiven Quellenstudiums auf fast 500, teilweise mit beachtlicher erzählerischer Spannung geschriebener Seiten minutiös rekonstruiert - wobei die Quellen weitgehend der diversifizierten Presselandschaft und grauer Literatur entstammten und die mittlerweile geöffneten Akten der Stadtverwaltung nur ausnahmsweise zu Rate gezogen wurden. Seine Arbeit ist ein Meilenstein in der zeitgeschichtlichen Rekonstruktion dieser Periode, auch wenn man sich manchmal eine etwas andere Akzentsetzung gewünscht hätte, etwa eine stärkere systematische Würdigung des universitären Milieus. Interessant ist sein Fazit, demzufolge die westdeutsche Demokratie schon vor 1968 reformfreudig genug war, um die allgemeinen Grundtendenzen der Zeit auf Öffnung und Demokratisierung zur Entfaltung zu bringen, und es der extremen ideologischen Zuspitzung und Polarisierung der 68er dazu nicht bedurft hätte. In Kittels Perspektive wird 1968 so weitgehend zur Sackgasse. Es hat insofern hohen symbolischen Wert, dass der brutalistische Betonbau des Historischen Museums, das nach dem Abhängen der ideologisierten Schautafeln zu Beginn der 80er Jahre konzeptionell nie mehr in Takt gekommen ist, jetzt durch Totalabriss verschwunden ist und durch einen Neubau ersetzt wird. Selten wurde der Mythos 68 so gründlich abgeräumt wie auf der Frankfurter Baustelle und in Kittels Buch.
Andrea C. Hansert