Holger Th. Gräf / Andreas Tacke (Hgg.): Von Augsburg nach Frankfurt. Der Kupferstecher Johann Philipp Thelott (1639-1671) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; 93), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2022, 473 S., 365 Farb-Abb., ISBN 978-3-942225-55-7, EUR 50,00
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"Einige werden posthum geboren". Sollte diese Nietzsche-Sentenz auf den Kupferstecher Johann Philipp Thelott passen, der von 1639 bis 1671 gelebt und gewirkt hat, dann aber gänzlich in Vergessenheit geriet? Mehr als 350 Jahre nach seinem Tod versuchen Holger Th. Gräf und Andreas Tacke ihm mit einer Reihe von Mitstreitern nun eine veritable Wiedergeburt zu bereiten. Eine durch mehrere Städte tourende Ausstellungsreihe, eine Wolfenbütteler Tagung und ein fulminant ausgestatteter Tagungsband holen Thelott aus dem Vergessen. Schwergewichtig ist dieser Band, in Folioformat, Text zweispaltig gesetzt, knapp 500 Seiten und 365 Farbtafeln, mehr als ein Dutzend Aufsätze und weitere Beiträge, vieles davon auf der Grundlage originärer und akribischer Forschungs- und Recherchearbeit, gefördert von einem halben Dutzend, zum Teil namhafter Geldgeber wie der Thyssen-Stiftung oder der DFG. Willkommen, Herr Thelott, im universalen Gedächtnisspeicher der Kunstgeschichtsschreibung.
Zum Auslöser für diese Wiedergeburt wurde das beiläufige Auffinden von Thelotts Arbeitsbuch im Jahr 2015 im Archiv der oberhessischen Kleinstadt Grünberg, wohin es durch die dortige Bäckerzunft gekommen war, die die noch leer gebliebenen Blätter des Buches nach dem frühen Tod von Thelott für ihre Zwecke weiter verwendete. Für die Herausgeber, die sich der Sozialgeschichtsschreibung der Künstler verpflichtet wissen, wird dieses Buch zu einem interessanten Dokument; aus ihm ließen sich exemplarisch die Geschäftsbeziehungen eines Künstlers des 17. Jahrhunderts rekonstruieren. Tacke reiht es in einen größeren Kontext von "Arbeitsbüchern" von Künstlern ein und scheut sich dabei nicht, die Thelott'schen Geschäfts- und Werknotizen im Kontext der ersten Garde zu nennen: vom Reisetagebuch Dürers über Gesellenwanderbücher, den künstlerischen Reflexionen in Delacroix' "Journal" bis hin zu selbst angelegten Werkverzeichnissen, wie sie etwa Paul Klee verfasst hat. Der Koherausgeber Gräf präsentiert dann eine Edition des Thelott'schen Arbeitsbuches mit Reproduktion und Transkription aller Seiten sowie "Biogrammen" der hier erwähnten Geschäftspartner. Diese Bemühungen bilden den mittleren von drei Teilen, in die der monumentale Band aufgeteilt ist. Ein weiterer Teil bringt ein Werkverzeichnis von Thelott, und zwar etwas mehr als hundert Nummern: Kupferstiche mit Anteilen von Radierung, fast alle nach Vorlagen von Dritten gestochen (keine Zeichnungen, keine Gemälde).
Den einleitenden und größten Teil aber bildet ein Konvolut von 14 Aufsätzen, die auf die erwähnte Tagung zu Thelott im April 2022 zurückgehen. Hier wird ein weites und reiches Spektrum kulturgeschichtlicher Bezüge des 17. Jahrhunderts entfaltet, das zum einen den allgemeinen Rahmen für eine Künstlervita wie die eines Thelott bildet, in dem Thelott selbst zum anderen aber nur eine marginale Rolle spielt.
Thelott stammte, wie vor allem aus der von Gräf einleitend nachgezeichneten Vita hervorgeht, aus einer niederländischen Familie, die 1560 nach Augsburg eingewandert war und sich dort gleich in den eingesessenen Kreisen zu etablieren vermochte. Und dort, in Augsburg, ist der Name auch groß, aber nicht durch den hier behandelten Johann Philipp, sondern vor allem durch einen entfernten Verwandten, den Silberschmied Johann Andreas Thelott (1655-1734), den Christoph Emmendörffer in dem Band würdigt. Danica Brenner beschreibt soziographisch das Augsburger Umfeld, in dem Johann Philipp groß und von dem er angeregt wurde - ein eng verwobenes Netz von Künstlern, Gold- und Silberschmieden. Thelott lässt sich aber erst greifen, als er Mitte der 1660er Jahren nach Frankfurt ging, wo er vermutlich unter der Protektion seines aus Augsburg stammenden Patenonkels Zacharias Stenglin stand, der in der Mainstadt das einflussreiche Amt eines Stadtsyndikus innehatte. Auch Kontakte, die Thelott dort zu Spener aufbaute, waren für ihn von Bedeutung. Nur die etwa sechs Jahre in Frankfurt bis zu seinem frühen Tod 1671 blieben ihm, um sein schmales, im Werkverzeichnis dokumentiertes Oeuvre zu schaffen. Frankfurt wird daher in mehreren Aufsätzen gewürdigt, um auch hier das Umfeld kenntlich zu machen, in das Thelott nun eingetreten war: die Löhne und Preise in der Stadt (Andrea Pühinger), das Buch- und Verlagswesen (Marina Stalljohann-Schemme) oder die Bedeutung und der Rang der Frankfurt Porträtkunst mit zum Teil großen Namen wie Merian d.J., Johann Heinrich Roos oder Sandrart (Wolfgang P. Cilleßen).
Thelott aber war kein originärer, sondern nur ein reproduktiver Künstler. Seine zahlreichen Porträts stach er nach vorhandenen Gemälden in Kupfer; und diese seine Arbeiten fanden dann Verwendung in Leichenpredigten für die ortsansässige Elite (Gräf) oder als Darstellung der Person des Autors in teilweise bedeutenden Buchpublikationen (Lea Hagedorn). Auch themenorientierte Stiche gehörten zu Thelotts Repertoire - Titelkupfer und Frontispize für wissenschaftliche Werke, etwa für gewichtige medizinische Arbeiten (Reinhard Hildebrand) oder für theologische Publikationen (Werner Telesko); dann aber auch eine nachgestochene Landkarte für ein Kolonialprojekt des Landgrafen von Hessen-Hanau (Andreas Weigl) oder die Darstellung der Bedrohung durch die Osmanen (Martin Scheutz).
Bei diesen Arbeiten handelt es sich durchweg um Auftragsarbeiten, und die Auftraggeber waren zumeist die Verleger, die eben diese Publikationsprojekte betrieben. Sie waren seine hauptsächlichen Geschäftspartner, wie sich aus dem nun gefundenen Arbeitsbuch rekonstruieren lässt. Entsprechend charakterisiert ihn Hole Rößler in einem Beitrag als das, was er war: ein "Lohnarbeiter", der "einem geringen künstlerischen Anspruch verpflichtet" sei. Und das wird auch augenscheinlich, wo man (wie auf Seite 281 oder 419) Thelotts Nachstiche mit den Vorlagen anderer Künstler, die ungleich stärker sind, unmittelbar vergleichen kann. Rößler rechnet ihn denn auch dem "Künstlerproletariat" zu, während Gräf aus seiner Rekonstruktion des Arbeitsbuchs im Gegensatz dazu auf eine "offenbar florierende Werkstatt" schließt.
Ein entscheidender Zug des 17. Jahrhunderts generell war die Konfessionsspaltung. Sie betraf auch die Kunst und gehörte somit auch zu den Rahmenbedingungen für die Arbeiten von Thelott, zumal dieser seine Prägung im paritätisch-bikonfessionellen Augsburg erfahren hatte und auch Frankfurt, wiewohl dominant protestantisch, eine gewisse konfessionelle Pluralität in seinem Bürgertum aufwies. Mitherausgeber Tacke widmet diesem Großthema einen Beitrag, in dessen Mittelpunkt einmal mehr nicht der Titelheld, sondern die Größen der Zeit, wie vor allem Joachim von Sandrart, stehen. Protestantische und calvinistische Künstler (schon Cranach d.Ä.) hätten nicht angestanden, auch für katholische Auftraggeber zu arbeiten und katholische Themen (Rosenkranz, Madonnen etc.) darzustellen. Umgekehrt störten aber auch die katholischen Auftraggeber, darunter das Kaiserhaus, sich nicht an der gegenteiligen Konfession der Künstler. "Wes Brot ich eß, des Lied ich sing", kommentiert der sozialgeschichtlich ausgerichtete Tacke solche Arbeitsbündnisse. Der Vorwurf des Opportunismus steht im Raum. Dagegen ließe sich eine ästhetische und professionalisierungstheoretische Sichtweise der Vorgänge stark machen: Gemeinsam wollte man künstlerisch eben das Beste erreichen, weshalb Konfessionsbindungen nun einmal zurückzustehen hatten.
Am Ende drängt sich die Frage auf, ob's für einen Künstler vom Format eines Thelott eine Masterarbeit, vielleicht eine Dissertation oder ein Fachaufsatz nicht auch getan hätte. So viel Aufwand und plötzliches Rampenlicht hat etwas von der Störung längst eingetretener und wohlverdienter Totenruhe.
Andrea C. Hansert