Andreas Tacke / Stefan Heinz (Hgg.): Menschenbilder. Beiträge zur Altdeutschen Kunst, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011, 320 S., 146 Abb., ISBN 978-3-86568-622-0, EUR 49,95
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Unter der Überschrift Menschenbilder veröffentlichen die beiden Herausgeber in Zusammenarbeit mit Ingrid-Sibylle Hoffmann und Christof Metzger die Beiträge einer Tagung [1], welche ursprünglich zur Vorbereitung einer gleichnamigen Ausstellung [2] konzipiert worden war. In der gesuchten Ambivalenz der Menschenbilder finden die Herausgeber in ihrem Vorwort eine Möglichkeit, die geistes- und kunstgeschichtlichen Phänomene der Jahrzehnte um 1500 in ihrer Mannigfaltigkeit und gegenseitigen Bedingtheit treffend zu charakterisieren. Ausgehend von der Prämisse, "dass das Bild des Menschen einerseits die Gesamtheit seines Wesens verkörpert und andererseits auch Ausdruck einer bestimmten Sichtweise auf die Welt ist" (11), rekurrieren sie dementsprechend ausdrücklich auf die implizierten Bedeutungsebenen des von ihnen gewählten Titels (10f.). Den Terminus der "Altdeutschen Kunst", welcher die Bandbreite der behandelten Gegenstände historisch wie topografisch begrenzen soll, rufen sie in Anbetracht seiner langen Tradition seit der Romantik (und etwaigen negativen Konnotationen zum Trotz) als "eine allgemein periodisierende, pragmatische und vergleichsweise neutrale Kategorisierung" (9) in Erinnerung (7-10).
In diesem Sinne verspricht bereits der Titel Menschenbilder. Beiträge zur Altdeutschen Kunst eine Fülle von vielfältigen Forschungsgegenständen und -ansätzen zur deutschen Kunst der Spätgotik und Renaissance. Diese Erwartung - das sei hier bereits vorweggenommen - kann in Anbetracht der insgesamt 14 Beiträge nur bestätigt werden. Beispielsweise sind gesellschaftliche Randgruppen mit dem Zigeunerbild, das Erwin Pokorny zum Thema macht, ebenso vertreten wie Herrscherporträts, denen sich Kerstin Merkel in einer kenntnisreichen Studie zur ikonografischen Inszenierung der Bruderliebe widmet. Mit Illustrationen zu literarischen Stoffen befassen sich hingegen Ulrike Heinrichs und Nicolas Bock, wobei "Kennzeichen des Komischen" bei Dürer und "das Interesse am Körper in der Kunst" zur Sprache kommen. Repräsentativen Beispielen für Künstlerbilder, wie sie in Martina Sitts Studie zum Hamburger Lukasaltar vertreten sind, wären etwa die humorvollen "Selbstentwürfe" Urs Grafs im Beitrag von Maike Christadler an die Seite zu stellen.
Zudem deckt auch das Alter der dargestellten Menschen die ganze Spanne des Lebens ab: So reicht das Spektrum von Kleinkindern, mit denen sich Christof Metzger am Beispiel des Jesuskindes befasst, bis hin zu Stefanie Knölls Forschungen zu Greisenkörpern in der schwäbischen Kleinskulptur. Beiden Autoren ist daran gelegen, den augenfälligen Naturalismus der Körperdarstellungen mit den Bedürfnissen des jeweiligen Rezipientenkreises der Bildwerke in Verbindung zu bringen. So kann plausibel gemacht werden, dass die Kind-Jesu-Visionen von Nonnen in Frauenklöstern eine "wechselwirkende Befruchtung zwischen künstlichem Bild und innerer Schau" (66) in Gang setzten, wohingegen ein humanistisch gebildetes Publikum drastische Schilderungen alter Frauenkörper als "eine Dekonstruktion des verführerischen, weiblichen Fleisches" (90) verstehen und wertschätzen konnte.
Zwar beschäftigen sich auch Berthold Hinz und Heiner Borggrefe mit Darstellungen des nackten Menschen, doch liegt ihr Augenmerk auf jeweils unterschiedlichen Aspekten der Nacktheit. Bei Hinz ist es die theoretische Objektivierung des Motivs, das sich in der Praxis Dürerscher "Proportionsarbeit" (17) vom realen Vorbild, das heißt vom "natürlichen" Akt, entfernt. [3] Im Ausgang von Dürers Studien untersucht hingegen Borggrefe die künstlerische Inszenierung der erotischen Wirkung von menschlicher Anatomie.
Mit den theologischen Implikationen des entkleideten Körpers im Bild befasst sich Daria Dittmeyer, die anhand von Passions- und Martyriumsszenen aufzeigt, wie sich ausgerechnet in einer empathiefreien Betrachtung drastischer Gewaltszenen "der vollendete Ausdruck von Glaubensgewissheit" (209) offenbaren kann. Indes steht die Frömmigkeit der Bildinhalte - und damit wohl auch ein "Menschenbild" - zur Diskussion, wenn Darstellungen Mariens in Anlehnung an humanistische Autoren in eine künstlerische Konkurrenz zur heidnisch-antiken Venus des Apelles geraten, womit sich ausgehend von Hans Baldung Grien Sibylle Weber am Bach beschäftigt.
Franz Matsche ordnet in seinem Beitrag historische Positionen zu den Leistungen und Grenzen der Porträtdarstellung anhand von Inschriften auf druckgrafischen Gelehrtenporträts zwei scheinbar divergierenden Richtungen zu: "Bildnislob und Bildniskritik". Dabei wird deutlich, dass es keineswegs "das dauernd wirksame Wesensbild" [4] des Dargestellten gewesen sein kann, welches zwar die Kunstgeschichtsschreibung - in Kenntnis der Bildnisepigramme allerdings - kaum ein Zeitgenosse erkannt haben dürfte. Im Gegenteil unterschied man klar zwischen der naturalistischen Umsetzung der äußeren Erscheinung eines Menschen im Bild, mit der sich ein Künstler höchstes Lob verdienen kann, und dem Bild eines menschlichen Geistes, das sich allein über den Umweg der Lektüre von Schriften des dargestellten Autors entfalten kann. Die Beobachtung Matsches, dass auch derartige "Bildniskritik" ein ausdrückliches Lob des Künstlers nicht ausschließen muss (220f.), mag die Frage aufwerfen, wie die Kommentare zur Koexistenz verschiedener Memorialbilder noch treffender zu fassen wären.
Überzeugend gelingt es auch Thomas Eser, mitunter anachronistische Überhöhungen des Menschen- und Künstlerbildes durch die Kunstwissenschaft kritisch zu hinterfragen. Bemerkenswert ist dies nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich mit Albrecht Dürers gemalten Selbstbildnissen um die altdeutschen Kronzeugen für autonomes Künstlertum und Selbsterkenntnis handelt, die Eser als zweckgebundene "Probstücke" im Kontext früher Etablierungsbemühungen Dürers "pragmatisch" in der Lebenswirklichkeit eines jungen Malers verortet. Wenngleich ein Sonderstatus des Münchner Selbstbildnisses vertretbar - und damit die Weiterentwicklung des Interpretationsansatzes sinnvoll - erscheint [5], zählt Esers Argumentation sicherlich zu den Beiträgen des Bandes, die "die Forschung" gemäß der Prognose der Herausgeber "zu Neubewertungen zwingen" (13) könnten.
Am Ende freilich bleibt es jedem Leser überlassen, die einleitend formulierten Ansprüche an die Menschenbilder in den einzelnen Beiträgen bestätigt zu sehen. Dabei wird auch in Rechnung zu stellen sein, dass aus dem Versuch, diese Menschenbilder (die ja zunächst einmal schlicht als Abbilder von Menschen aufgefasst werden könnten) zugleich auch als Repräsentanten des gesamten menschlichen Wesens beziehungsweise als Äußerungen einer spezifischen Weltsicht (11) begreiflich zu machen, grundsätzliche Schwierigkeiten resultieren. Ein wesentliches Verdienst des Bandes liegt deshalb darin, dieses Grundproblem der Bedeutungsgenerierung zu thematisieren und verschiedene Lösungsansätze zur methodischen Bewältigung ins Rennen zu schicken. Die ausdrückliche Öffnung des Fokus über Gattungs- und Sujetgrenzen hinweg erweist sich dabei nicht zuletzt wegen der dadurch entstehenden Heterogenität als reizvoll. Auch in Anbetracht der nicht zum Abschluss gelangten Ausstellungsvorbereitungen bietet der Tagungsband dankenswerte Anregungen zu neuen Forschungen zur "Altdeutschen Kunst". Die Zusammenfassungen der Beiträge in englischer und französischer Sprache im Anhang (306-317) mögen ein Übriges dazu leisten, "für einen neuen Diskurs [zu] sorgen, auch in breiter Wahrnehmung" (13).
Anmerkungen:
[1] Tagung: Menschenbilder in der deutschen Kunst 1450-1550, Universität Trier und Stadtbibliothek Trier, 2. bis 5. Juli 2009. Vgl. dazu Anna Moraht-Fromm: Menschenbilder in der deutschen Kunst (1450-1550). Eine Tagung des Kunsthistorischen Instituts der Universität Trier, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 62 (2009), 231-233.
[2] Die Ausstellung, die 2010 bis 2011 in Essen und Wien hätte gezeigt werden sollen, kam "wegen widriger Umstände" (7) nicht zustande. Eine umfangreiche Onlinepublikation der Ausstellungskonzeption erlaubt es bis heute, zumindest einen gewissen Einblick in die beabsichtigte Zusammenstellung der Exponate zu gewinnen: Ausstellungsprojekt "Menschenbilder in der deutschen Kunst 1450-1550", URL: http://www.uni-trier.de/fileadmin/fb3/prof/KUN/FNE/Konzeption_Ausstellung_Menschenbilder.pdf (abgerufen am 01.04.2012).
[3] Vgl. auch Berthold Hinz: "Maß und Messen" - Dürers Zahlenwerk zur menschlichen Proportion, in: Buchmalerei der Dürerzeit - Dürer und die Mathematik - Neues aus der Dürerforschung, hg. von G. Ulrich Großmann, Nürnberg 2009 (= Dürer-Forschungen; Bd. 2), 125-138. Inzwischen erschienen: Berthold Hinz (Hg.): Albrecht Dürer. Vier Bücher von menschlicher Proportion (1528), Berlin 2011.
[4] Bildnis des Willibald Pirckheimer [Kat. 293], in: Albrecht Dürer. 1471-1971 (Ausstellungskatalog Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum 1971), München 1971, 165.
[5] Vgl. Sebastian Schmidt: "dan sy machten dy vürtrefflichen künstner reich". Zur ursprünglichen Bestimmung von Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2010, 65-82, hier: 67f.
Sebastian Schmidt