Ronald G. Asch / Birgit Emich / Jens Ivo Engels (Hgg.): Integration - Legitimation - Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, 331 S., ISBN 978-3-631-59997-6, EUR 56,80
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Die Aktualität eines Sammelbandes, der sich mit politischer Patronage im Wandel der Zeiten und in diesem Zusammenhang intensiv mit Korruption beschäftigt, steht außer Frage. Im Zuge der Eurokrise erweiterte die Welt ihre Sprachkenntnisse um den klassischen griechischen Begriff "fakelaki"; und kurz vor Weihnachten erfuhr die deutsche Öffentlichkeit von den Ferienaufenthalten und Kreditkonditionen ihres Bundespräsidenten. Waren das menschlich-allzumenschliche Gefälligkeiten, an denen nur engherzige Moralapostel Anstoß nahmen, oder Akte der Bestechung, die die Korrumpierbarkeit des ganzen Berliner "Systems" erwiesen? Die Debatte darüber ist Mitte Januar 2012 nicht abgeschlossen.
Welche nützlichen Informationen, welche Werteorientierung und damit welche Entscheidungshilfe gewinnt der politisch interessierte Zeitgenosse, der sich ein historisch fundiertes Urteil zur Frage "Korruption oder bloße Medienhysterie?" bilden möchte, aus der Lektüre der in diesem Buch zusammengefügten sechzehn Einzelbeiträge, die den Zeitraum von 1550 bis 1900 und so verschiedene Staaten und Gesellschaften wie Irland, den Kirchenstaat und die USA behandeln? Die Frage selbst ist legitim: Zu einem so brennend heißen, ewig aktuellen Thema muss sich die Geschichtswissenschaft in einer Sprache äußern können, die auch dem gebildeten Laien vertiefte Einblicke und Erkenntniszugewinne vermittelt, sonst stellt sie sich selbst ins Abseits. Diese Forderung ist kein Plädoyer für Eindimensionalität oder gar Simplizität, sondern für Klarheit der Argumentation.
Diesem Anspruch wird - um ein erstes Fazit vorwegzunehmen - nur ein kleiner Teil der Beiträge ganz, die erfreulich ausführliche Einleitung immerhin partiell gerecht. Was allerdings mit der Unterscheidung zwischen "taktischer Korruptionskritik" und "strategischer Korruptionskommunikation" gewonnen sein soll, bleibt auch dem Spezialisten schleierhaft, zumal sich, wie kurz darauf eingestanden wird, eine solche Unterscheidung ohnehin nicht säuberlich vornehmen lässt. Ein weiteres Hauptergebnis, so die Herausgeber, ist mit der Feststellung gewonnen, dass Korruption keine einheitliche Praxis darstellt, sondern als Diagnose von der Bewertung abhängt, welche die als Konstante sozialen und politischen Handelns überzeitliche Kategorie der Patronage zu verschiedenen Zeiten erfährt. Im Klartext ausgedrückt: Was für einen Kardinalnepoten im Rom des 17. Jahrhunderts selbstverständlich legitimiert ist - nämlich zwischen "öffentlicher" Amtsführung und "privater" Netzwerkbildung bzw. Bereicherung nicht zu unterscheiden -, wird im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution zu einer Todsünde gegen die politische Moral. Für einen Politikethiker wie Kant ist die Vereinnahmung des Staates als dynastisches Patrimonium sogar ein Haupthindernis für den Anbruch des ewigen Friedens.
Wie sich dieses Werteverständnis und die daraus abgeleitete Terminologie im Laufe von dreieinhalb Jahrhunderten darstellen, zeigen die verschiedenen Beiträge in der Regel mit profunder Quellenkenntnis, facettenreich und manchmal sogar farbig und fesselnd. Dabei treten nicht nur die Grundformen des zwischen Patron und Kreatur vereinbarten Do ut des, sondern auch die dadurch erzielten Einbindungen, die dazu gefundenen Rechtfertigungen und die dagegen erhobenen Gegenstimmen leitmotivisch hervor - kein kleines Kompliment für einen solchen Sammelband, der nicht wie so viele seinesgleichen zum mehr oder weniger beliebigen Sammelsurium absinkt. Eine Kritik kann man ihm jedoch nicht ersparen: Dass er mit der Fülle des vorgestellten Materials manche der in der Einleitung gezogenen Schlüsse in Frage stellt oder sogar widerlegt und den kritischen Leser andere Leitlinien ziehen lässt - was andererseits auch wieder einen Vorzug einer solchen Publikation ausmacht.
Einspruch ist gegen die These zu erheben, dass sich ein genau definierter Begriff der Korruption erst in der "Sattelzeit" um 1800 herausgebildet habe. Zu einem solchen Urteil gelangt nur, wer wie die Herausgeber die leidenschaftliche und kontroverse Debatte italienischer, speziell florentinischer Historiker und Politiktheoretiker des 15. und frühen 16. Jahrhunderts zum Thema komplett ausblendet. Bekanntlich erwähnt ein Leonardo Bruni die Umwandlung der Republik Florenz zur cosa nostra der Medici-Interessengruppe ab 1434 mit keinem Wort, was man nur mit Scham in eigener Sache und Fremdschämen erklären kann. Mit Machiavelli erhebt drei Generationen später der wortmächtigste "Verfilzungskritiker", der Klientel gesetzmäßig mit Korruption gleichsetzt und darin das Dauerübel von Florenz erkennen will, das Wort - Thesen, die von seinen Zeitgenossen Guicciardini und Vettori differenziert, aber insgesamt akzeptiert werden und in der späteren Historiographie eines Varchi und Sarpi weitergedacht werden. Auch der päpstliche Nepotismus, die spezifisch römische Spitzenform der Patronage, ist vom 15. bis 18. Jahrhundert durchgehend Gegenstand einer Debatte, in der die Unerlaubtheit dieser Verwandtenförderung, selbst in bescheidenem Umfang, zumindest von einer einflussreichen Minderheit beschworen wird. Dass die Kritiker der Patronage selbst an einem Patronage-Defizit kranken, also eher Außenseiter als Insider der herrschenden Netzwerke sind, ist zwar nicht falsch, aber auch nur der halbe Tatbestand - man konnte wie Francesco Guicciardini de facto intensive Medici-Patronage genießen und deren moralische und politische Anfechtbarkeit trotzdem profunde analysieren. Verhüllung durch die Beschwörung von Verdiensten, Verdeckung durch bürokratische Strukturen, Verschleierung durch die Zelebrierung von Öffentlichkeit und Transparenz - so ließe sich der Umgang der Patrone mit ihrer Patronage umreißen.
Dass sich "Integration" von Individuen, Familien und Regionen durch gezielte Einbindung in Netzwerke leisten lässt, belegen die Beiträge des Sammelbandes insgesamt am eindrucksvollsten - doch wer wollte das bestreiten? Dass Patronage die Entwicklung des frühneuzeitlichen Staates fördert, ist ebenfalls unbestritten; allerdings wäre hier stärker auf die damit verbundenen Krisen und Risiken, etwa beim Herrschaftswechsel oder dem Austausch von Führungspersonal, zu verweisen. So bleibt der Leser des Jahres 2012 nach der Lektüre dieses insgesamt wichtigen und anregenden Bandes zwar historisch vielfach belehrt, doch moralisch ratlos zurück: Ist das, was sich Umkreis des Schlosses Bellevue abspielt, nun Korruption oder nur ein unvermeidbarer Nebeneffekt eines insgesamt unverzichtbaren politischen und sozialen Mechanismus?
Volker Reinhardt