Karsten Linne / Florian Dierl (Hgg.): Arbeitskräfte als Kriegsbeute. Der Fall Ost- und Südosteuropa 1939-1945, Berlin: Metropol 2011, 320 S., ISBN 978-3-86331-054-7, EUR 19,00
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In den letzten Jahren haben die umfassenden Fördermittel der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) einen Boom in der Zwangsarbeiterforschung ausgelöst. Die Gelder, die die deutsche Industrie in einem mühsamen Prozess zusammengetragen hatte, um Sammelklagen von ehemaligen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs zuvorzukommen, kamen nicht nur dieser Opfergruppe zugute, sondern auch Wissenschaft und politischer Bildung. Dabei war der Haupttrend ganz eindeutig die Beschäftigung mit dem Schicksal der Zwangsarbeiter in Deutschland. Es entstanden zahlreiche verdienstvolle Studien, die mit einem regionalen Fokus oder mit Blick auf den Einsatz bei einer bestimmten Firma viele Details ans Licht brachten, meist aber das Gesamtbild nur um Nuancen ergänzen konnten. Dabei blieben wichtige Aspekte weitgehend ausgeklammert, etwa Kontinuitäten und Brüche zum Ersten Weltkrieg [1], aber vor allem das Geschehen in Osteuropa unter nationalsozialistischer Besatzung.
Der vorliegende Sammelband entstand aus einem am Osteuropa-Institut der FU Berlin durchgeführten und von der EVZ finanzierten Projekt, welches das Zwangsarbeitssystem in Polen und Jugoslawien von 1939 bis 1945 untersucht. Er bündelt neue, größtenteils unveröffentlichte Forschungen, die sich mit der Rekrutierung von Arbeitern für das nationalsozialistische Deutschland in Ost- und Südosteuropa beschäftigen. Schwerpunkte bilden dabei die im Fokus des erwähnten Projekts stehenden Regionen, nur in zwei Beiträgen werden die besetzten Gebiete der Sowjetunion behandelt, aus denen das NS-Regime einen erheblichen Teil seiner Zwangsarbeiter rekrutierte. Auch geht es - mit Ausnahme des exzellenten Beitrags von Mario Wenzel zu jüdischen Beschäftigten im Distrikt Krakau des Generalgouvernements Polen - weniger um den Einsatz für den deutschen Staat und seine Unternehmen vor Ort, und auch nicht um die Ausbeutung von Juden, sondern um die Art und Weise der Deportation ins Reich.
Wenzels Aufsatz macht deutlich, dass die Interdependenzen und Parallelen von jüdischer und nichtjüdischer Beschäftigung vor Ort bisher zu wenig erforscht sind. Mehrere der anderen Beiträge gehen auf die Interessenkonflikte zwischen SS, Zivilverwaltung und Wirtschaft ein, aber oft läuft das nur auf die Bestätigung der bisherigen Annahmen zur strukturalistischen NS-Polykratie hinaus. Welches Potential eine Analyse dieser Beziehungen haben kann, wenn zugleich auch die einheimischen Verwaltungen einbezogen werden, demonstriert Tilman Plath sehr instruktiv am Beispiel des Baltikums. Er kann zeigen, dass in diesen ethnisch gemischten Gebieten die jeweils von den Nationalsozialisten auserkorenen "offiziellen" Landesbehörden ihre eigene nationale Gruppe stark bevorzugten und zur Erfüllung von Kontingenten für die Deportation nach Deutschland vorwiegend auf Minderheiten zurückgriffen. Dabei wird auch deutlich, dass der Generalbeauftragte für den Arbeitseinsatz (GBA), Fritz Sauckel, mit seinem Apparat dort kein starker Akteur war, weil Wehrmacht, die vor Ort tätigen deutschen Unternehmen und die Ziviladministration es wesentlich besser verstanden, für ihre Zwecke mit den Einheimischen zusammenzuarbeiten.
Die Rolle des GBA bleibt in den meisten Aufsätzen relativ blass. Zwar hat mit Dieter Maier der wohl beste Kenner der deutschen Arbeitsverwaltung während des Dritten Reichs einen guten Überblick über diese Spezialverwaltung beigesteuert, aber auch er kann den Mangel der zentralen Überlieferung zu Sauckel nicht überwinden. Angesichts dessen wichtiger Rolle ist es wohl überfällig, dass mithilfe der gerade in Osteuropa lokal vorhandenen Akten eine Studie erstellt wird, die die Rolle dieses "Sklavenhalters" aus dezentraler Perspektive schildert.
Auch bei Sauckels Politik muss Polen, wie für jegliche Überlegungen zum NS-Zwangsarbeitssystem, tatsächlich als der "Modellfall" gelten, als der es hier präsentiert wird. Insofern ist es verzeihlich, dass das Buch nur einen Beitrag zur Ukraine enthält, selbst wenn von dort insgesamt die meisten Menschen nach Deutschland deportiert wurden. Dennoch stellt Polen als erstes erobertes Land in vieler Hinsicht ein Muster für das künftige Vorgehen in Europa dar, schon alleine deshalb, weil es in mehrere Teile gegliedert wurde, die jeweils eine spezifische Behandlung erfuhren. Durch Ryszard Kaczmarek wird Ostoberschlesien von einem polnischen Experten untersucht, der in seinem Beitrag sehr deutlich zeigen kann, wie viel Forschung in unserem Nachbarland schon bislang zum Themenkomplex Zwangsarbeit geleistet - und im Westen nur unzureichend rezipiert - wurde.
Sieht man einmal vom hier ebenfalls vertretenen Robert Seidel ab, dessen Monographie über den Distrikt Radom des Generalgouvernements die lokale Rekrutierungspraxis ausführlich beschreibt, hat sich die deutsche Forschung der letzten Jahre vor allem auf den Judenmord konzentriert und dem Schicksal der ethnischen Polen deutlich weniger Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dass dieser Fokus vielleicht zu eng war, zeigen Kaczmarek und auch Karsten Linne für den Warthegau. Beide betonen stark den bislang wenig beachteten Zusammenhang zwischen Volkstumspolitik und Arbeit: Die sich gerne äußerst rational gebende Arbeitsverwaltung hat mit ihren Erfassungen und Deportationen die NS-Rassenpolitik durchaus intentional gefördert. Diese Feststellung kann mit gewissen Einschränkungen auch für Serbien gelten, wo nicht nur Juden, sondern auch Roma eine gesonderte Rolle in der deutschen Beschäftigungspolitik spielten. Beide Gruppen waren zu Beginn der Besatzung die ersten Opfer der Rekrutierungen, und anders als die Serben wurden sie niemals als potentielle Verbündete mit weniger harten Bedingungen umworben. Indem die Arbeitsverwaltung die Bevölkerung für ihre Zwecke statistisch registrierte, erleichterte sie später das Aussieben "unerwünschter Elemente". In Polen ging die Kooperation mit der SS soweit, dass Arbeitsamtmitarbeiter anwesend waren, wenn dort die Opfer für die Vernichtungslager von den vorerst im Ghetto weiterarbeitenden Juden getrennt wurden.
Der vorliegende Sammelband mit seinen insgesamt zehn Beiträgen wird für künftige Forschungen zum Zwangsarbeitssystem im besetzten Osteuropa einen wichtigen Ausgangspunkt darstellen. Selbst wenn die Einleitung die offenen Fragen etwas griffiger hätte bündeln können, weist das Buch auf zentrale Wissenslücken hin - mit deren Schließung sich einige der Autoren bereits beschäftigen. Dann wird hoffentlich außerdem die Frage angegangen werden können, wie die Ausbeutung vor Ort aussah und welche Folgen die Konflikte zwischen dem Einsatz vor Ort und dem Abtransport ins Reich hatten. Nicht überall gab es ein so reichliches Menschenreservoir wie in der Ukraine, wo beiden Bedürfnissen der Besatzer zumindest annähernd Rechnung getragen werden konnte.
Anmerkung:
[1] Siehe dazu jetzt Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914-1918, Paderborn u.a. 2011.
Stephan Lehnstaedt