Wolfgang Dornik / Georgiy Kasianov / Hannes Leidinger u.a.: Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft 1917-22, Graz: Leykam Buchverlag 2011, 544 S., ISBN 978-3-7011-0209-9, EUR 38,70
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Georgiy Kasianov: Memory Crash. Politics of History in and around Ukraine, 1980s-2010s, Budapest: Central European University Press 2022
Eine "Mehrautoren-Monographie" (14) nennt Wolfram Dornik das vorliegende Werk in seiner Einleitung, aber bei näherer Betrachtung erweist es sich eher als eine Art Sammelband mit Schwerpunktsetzungen. Beispielsweise wird die Rolle der Ukraine in der Außenpolitik Russlands, Frankreichs, Großbritanniens, der USA, Polens und der Schweiz auf über 120 Seiten behandelt und liefert wichtige Einblicke. Diese Einschätzung gilt trotz gewisser Schwachstellen, etwa der recht einseitigen Schilderung der Ukrainepolitik des polnischen Staatschefs Józef Piłsudski durch Bogdan Musial. Die ungebrochene Glorifizierung dieser nationalen Ikone bei einer gleichzeitigen Verdammung der Kommunisten hält einer neutralen Überprüfung kaum Stand: Piłsudski war weniger an einer unabhängigen Ukraine interessiert als vielmehr an einem Rumpfstaat unter polnischem Einfluss, der zugleich als Schutzschild gegen den Bolschewismus gedient hätte. Mit Altruismus hatte diese Politik wenig zu tun.
Ein Widerspruch zu Musial entsteht dann auch bei der Behandlung der Frage, was denn überhaupt unter "Ukraine" zu verstehen ist: Georgiy Kasianov beispielsweise identifiziert in seinem Überblick "ukrainischer" Geschichte zwischen 1917 und 1920 nicht weniger als sechs staatliche oder quasi-staatliche Gebilde (ohne die sowjetischen Republiken), die unter das Rubrum "Ukraine" fallen. Nur eines dieser Konstrukte wollte Piłsudski unterstützen - das des ihm wohl gesonnenen, stark antisemitischen Symon Petljura. Gleichwohl ist das definitorische Problem ebenso überzeugend wie pragmatisch gelöst. Einbezogen wird letztlich alles, was sich selbst als "Ukraine" bezeichnete oder von anderen so betrachtet wurde. Fraglich ist allerdings, ob damit eine Dekonstruktion des Nationsbegriffes einhergeht, wie es Dornik postuliert (19). Viel eher scheint es, als ob so eine Nation bzw. eine Art Nationalgeschichte überhaupt erst konstruiert würde.
Der außenpolitische Teil des Buches ist auch der einzige, in dem der Leser etwas über das Schicksal der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg erfährt, sieht man von einem Überblick über das revolutionäre Russland zwischen 1917 und 1922 ab. Diese Tatsache verdeutlicht, dass der Krieg den zentralen Fokus der Untersuchungen darstellt. Die dort präsentierten Erkenntnisse zur Zeit der deutsch-österreichisch-ungarischen Besatzung füllen eine veritable Forschungslücke, denn die Okkupation der Ukraine stellt bislang zu wesentlichen Teilen eine terra incognita dar, wie überhaupt der Erste Weltkrieg in Osteuropa im Vergleich zur West- und Alpenfront bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit in der Historiografie fand. Erfreulich ist, dass dessen Untersuchung hier nicht nur inhaltlich überzeugt, sondern auch mit einer qualitativ hochwertigen Buchproduktion einhergeht: Ein gründliches Lektorat, ein Register, Karten und Fotos in einer Hardcover-Ausgabe sind bei einem Preis von unter 40 Euro keineswegs selbstverständlich.
Leider bleibt die ukrainische Perspektive etwas unterbeleuchtet, es dominiert die Sicht der Fremdherrscher. Insofern ist das Buch methodisch konservativ, was allerdings nicht als Monitum zu verstehen ist, denn angesichts des unbefriedigenden Kenntnisstandes wird hier Grundlagenforschung im klassischen Sinne durchgeführt. Das gilt zwar nur eingeschränkt für den Teil, der Osteuropa zwischen Krieg und Revolution 1917 bis 1922 vorstellt und als Überblick nicht über bisher Bekanntes hinausgeht, schon mehr für die ukrainischen Staatsbildungsversuche zwischen Selbst- und Fremdherrschaft, im Besonderen aber für die Okkupation.
So können Dornik und Peter Lieb zeigen, dass auch für die Ukraine - wie zuvor beispielsweise für Polen oder Rumänien - kein Konzept vorlag, wie denn die Besatzung aussehen sollte. Ganz allgemein träumten die Mittelmächte von einer Kornkammer, die den Hunger in der Heimat zu lindern hatte, aber über die militärtaktischen Operationen hinaus gab es keine Pläne, wie denn die Ausnutzung des Landes ablaufen sollte. Entgegen bisherigen Darstellungen betonen die Autoren, dass die Ukraine bis Sommer 1918 weitgehend befriedet war und dort gerade keine Nationalitätenkonflikte oder gar bewaffneter Widerstand zu beobachten waren. Freilich bedeutet dies nicht, dass die Mittelmächte die Sympathie der Bevölkerung gewonnen hätten, denn die Besatzer wurden an den Realitäten, nicht an ihren weit reichenden Versprechen gemessen.
Die Wirklichkeit bedeutete Kriegsverwüstungen, eine harte Ablieferungspolitik und zu Anfang der Okkupation auch Repressalien. Die Rada, also das ukrainische Parlament, konnte weder die Erwartungen der Besatzer noch die der Besetzten erfüllen, denn sie war zu sehr zwischen den verschiedenen Interessen zerrissen. Kontraproduktiv wirkte sich insbesondere aus, dass die deutsch-österreichisch-ungarische ökonomische Prärogative der propagierten Unabhängigkeit der Rada widersprachen, deren Autorität untergruben und letztlich die Zusammenarbeit mit den Einheimischen belasteten. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Mittelmächte trotz nahezu identischer Absichten ständig gegenseitig behinderten - in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß. So konnte letztlich nur rund zehn Prozent des avisierten Getreides tatsächlich ausgeführt werden, während die Deutschen sogar Kohle in nennenswertem Umfang in die Ukraine exportieren mussten, um überhaupt eine Nutzbarmachung zu ermöglichen - ein "grandioses Scheitern" (323) der Politik der Mittelmächte. Deshalb wollen die Verfasser auch nicht von einer "Ausbeutung" sprechen - diese war zwar geplant, konnte aber nicht realisiert werden.
Zu weiteren Studien fordert insbesondere der knappe, skizzenartige Vergleich zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg auf, der den anregenden Abschluss und Ausblick dieses fruchtbaren Buches bildet. Offensichtlich ist, dass die politischen Bedingungen völlig unterschiedlich waren und 1917/18 auch keine exterminatorischen (Hunger-)Pläne zur Anwendung kamen. Der durchaus vorhandene Antislawismus zeichnete sich weder durch Hass gegen die Einheimischen noch durch einen Kulturimperialismus aus, womit die spekulativen Thesen von Vejas Liulevicins [1] auch für dieses Gebiet einmal mehr widerlegt wären. Hinzu kommt, dass bei den durchaus zu beobachtenden Repressalien die k.u.k. Truppen durch ebensolche Härte auffielen wie die Deutschen und zudem erst später auf die gemeinsame Linie einer kooperativen Verwaltung des Landes einschwenkten - zu einer Zeit, als die Deutschen schon daran gegangen waren, eigene Vergehen durch eine rigide Kriegsgerichtsbarkeit zu ahnden. Von dem von Alan Kramer und John Horne [2] postulierten, speziellen "German Way of War" lässt sich also für die Ukraine nicht sprechen.
Das heißt allerdings nicht, dass es keine Gemeinsamkeiten mit der nationalsozialistischen Fremdherrschaft gegeben hätte: Hier wie da waren verbündete Armeen unter deutscher Führung präsent, wurde die Ukraine als "gelobtes Land" und Kornkammer gesehen, wurden die Armeen anfänglich als Befreier begrüßt und schnell als Eroberer verhasst. Auch herrschte in beiden Fällen ein starker Antisemitismus, wobei sich Rhetorik und Realität 1917/18 durchaus unterschieden. Wesentlich ist vor allem, dass die weltanschauliche Komponente eines harten Antibolschewismus schon im Ersten Weltkrieg deutlich hervortrat und die Kriegführung beeinflusste - explizite Kontinuitätslinien und Brüche harren aber auch hier noch einer genaueren Erkundung.
Anmerkungen:
[1] Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002.
[2] John Horne / Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.
Stephan Lehnstaedt