Hannes Leidinger / Verena Moritz / Karin Moser / Wolfram Dornik: Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914-1918, St. Pölten: Residenz-Verlag 2014, 328 S., ISBN 978-3-7017-3200-5, EUR 24,90
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Die hundertste Wiederkehr des Kriegsausbruchs von 1914 sorgt für eine Flut an Literatur, die nach wie vor durch einen Fokus auf die Westfront und von angloamerikanischen Forschern dominiert wird. Viel weniger Aufmerksamkeit erhalten Orte und Kriegsteilnehmer jenseits von Frankreich, England, den USA und Deutschland. Deshalb ist es umso mehr zu begrüßen, dass zur Habsburgermonarchie nicht nur Manfried Rauchensteiner eine gründlich überarbeitete und erweiterte Ausgabe seines Standardwerks vorgelegt hat [1], sondern mit dem hier besprochenen Buch auch jüngere Historiker zu Wort kommen. Die Studien ergänzen sich bestens und sollten tatsächlich nebeneinander gelesen werden: Wo Rauchensteiner den Schwerpunkt auf die große Politik und die Militärgeschichte legt, geht es in "Habsburgs schmutzigem Krieg" um staatliche Gewalt gegen Zivilisten und Kriegsgefangene, mithin also um Aspekte, die in ersterem Werk tendenziell zu kurz kommen.
Im Grunde handelt es sich hier um eine Monographie Hannes Leidingers, die in einzelnen Gesichtspunkten mit externen Beiträgen angereichert ist - Moritz, Moser und Dornik haben jeweils nur ein namentlich gekennzeichnetes Kapitel verfasst, der Rest des schlanken, gut zu lesenden Werks stammt von Leidinger. Dessen konzise Einführung umreißt die Problemlage: Zu den österreichisch-ungarischen Verbrechen im Ersten Weltkrieg gibt es zwar vereinzelte Aufsätze, aber noch keine umfassende Studie. Ein bilanzierender Überblick stellt ein echtes Desiderat dar, zumal einerseits Alarmismus, andererseits Verharmlosung die Debatte dominieren. Der Band füllt diese Lücke, selbst wenn er unverständlicherweise auf ein Fazit verzichtet. Karin Mosers Darstellung des Weltkriegs im österreichischen Film ist in dieser Hinsicht zwar ein lesenswerter Ausblick, will aber nicht wirklich zu den anderen Teilen passen.
Die Autoren sind, bis auf Moser, die erste Ergebnisse ihrer Dissertation vorstellt, allesamt bereits durch einschlägige Untersuchungen hervorgetreten. Sie bewegen sich souverän auf der Höhe des Forschungsstands und ziehen immer wieder Quellen heran, selbst wenn letztere meist schon bekannt sind und keine überraschenden Einsichten liefern. So ist das Werk vor allem eine Synthese, was seinem Wert aber keinen Abbruch tut. Angesichts der Bücherberge etwa zum Kriegsausbruch bzw. zur Kriegsschuld ist eine abwägende Bewertung nur für die Donaumonarchie durchaus hilfreich. Leidingers Urteil ist in dieser Hinsicht klar: Wien habe 1914 "vernunftwidrig" gehandelt und ein "existenzgefährdendes Unternehmen ohne Prestigegewinn und Erfolgsaussichten" (49) begonnen. Ein weiteres Kapitel über völkerrechtliche Implikationen der k.u.k. Politik rundet diesen Befund ab.
Eindrücklich belegen die nachfolgenden Teile, wie sich bereits im Juli 1914 ein Klima der Gewalt entwickelte, in dem Serben gewissermaßen zum Freiwild wurden. Der Feldzug gegen den Nachbarstaat entwickelte sich so zu einer Strafexpedition, bei der die Unterschiede zwischen Kombattanten und Zivilisten immer mehr verschwanden. Schon zeitgenössisch war von 3.500 bis 4.000 zivilen Opfern der k.u.k. Armee auf dem Balkan alleine im August 1914 die Rede. Eine Aktualisierung dieser Zahlen erfolgt zwar nicht, aber die Dimension und Dynamik des Feldzugs werden deutlich gezeigt.
Gleichzeitig kam es in Galizien zum Krieg mit dem russischen Imperium - das keinesfalls weniger gewalttätig als die Doppelmonarchie war. Bezeichnenderweise war es an der Ostfront aber vor allem die eigene Bevölkerung, die zu leiden hatte. Das galt insbesondere für Ruthenen (Ukrainer), die in beiden Imperien als eine Art fünfte Kolonne des Gegners galten und bereits vor dem Krieg Spielball zwischen Moskau und Wien waren, weil sie als Drohkulisse gegen den Rivalen genutzt werden konnten. Den Imperien war nur zu bewusst, wie leicht sich der Nationalismus instrumentalisieren ließ. Die Radikalität des Vorgehens gegen die eigenen Untertanen ist dabei nicht zu unterschätzen. Der Festungskommandant von Przemyśl gab etwa am 27. September 1914 den Befehl: "Ausgiebigen Gebrauch von Kriegsnotwehrrecht machen, das heißt, jeden Verdächtigen niederschießen, aber nicht verhaften!!" (83) Die Zahl der Opfer der Doppelmonarchie in ihrem Kronland Galizien ist bis heute nicht abschließend geklärt und wird von Leidinger auf etwas weniger als 10.000 geschätzt. Immerhin diskutierte der Reichsrat wenig später die Verbrechen der eigenen Militärs, aber die Bewertung des Vorgehens war mitnichten immer ablehnend; mancher Deutschnationale in Wien und der Armee fand das Vorgehen noch zu rücksichtsvoll. Diesem spannenden Blickwinkel widmet das Buch nur wenig Raum, eine Analyse des Diskurses unterbleibt.
Auch andernorts traf es die Bevölkerung, als zur militärisch unumgänglichen Evakuierung aus den Kampfgebieten die Internierung "verdächtiger Elemente" trat, was an der Italienfront bedeutete, dass die Doppelmonarchie fünf Prozent der Evakuierten - mehrere 10.000 eigene Untertanen - in Lager eingesperrte. Verena Moritz, die hier auf einen avancierten Forschungsstand zurückgreifen kann, liefert weitere Zahlen und kann beispielsweise zeigen, dass im September und Oktober 1916 alleine 16.577 Serben interniert wurden. Ihr Beitrag belegt zudem das Leid der Lagerinsassen. In Graz-Thalerhof starben etwa mehr als ein Drittel der 16.400 Häftlinge, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Zu einem Massensterben kam es außerdem unter den Kriegsgefangenen, selbst wenn Österreich-Ungarn hinter den Dimensionen Russlands zurückblieb. Eine Sterblichkeitsquote von über zehn Prozent unter den russischen Soldaten, also mehr als 100.000, ist dennoch zu konstatieren. Im Lager Mauthausen mit einer Höchstbelegung von 14.000 Insassen starben im Januar 1915 beispielsweise 180 Mann pro Tag an Flecktyphus; bis 1917 waren hier alleine 12.000 Tote zu beklagen.
Ein weiteres Kapitel widmet sich der Justizpraxis insbesondere bei Hochverrat: Die vergleichsweise rücksichtsvolle Rechtsprechung der Vorkriegszeit fand keine Fortsetzung, das Militär konnte eine Verschärfung durchsetzen, die teilweise gnadenlose Züge annahm. Ebenfalls in den Blick kommt die Besatzungspraxis, der sich mit Wolfram Dornik ein Spezialist für die Okkupation der Ukraine annimmt. Er zeigt die rücksichtslose Okkupation durch das k.u.k. Heer, aber auch die Unterschiede zwischen dem Feindstaat Serbien und den von Russland "befreiten" Ukraine und Polen - selbst wenn letztere keine Schonung erfuhren, kam es dort nicht zu Massenmorden an den Einheimischen.
Eine Habsburg-Nostalgie verdrängte nach 1918 diese Kapitel der k.u.k. Geschichte, und mindestens teilweise lässt sich wohl noch heute eine Ignoranz gegenüber negativen Aspekten der Doppelmonarchie feststellen. Selbst wenn es ein wenig wie mit heißer Nadel gestrickt wirkt, kommt das Buch daher zum Jubiläumsjahr gerade recht. Es leistet einen wichtigen Beitrag zu einer vernachlässigten öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte.
Anmerkung:
[1] Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, Wien u.a. 2013.
Stephan Lehnstaedt