Hubert Fehr / Philipp von Rummel: Die Völkerwanderung (= Theiss WissenKompakt), Stuttgart: Theiss 2011, 176 S., 6 Kt., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-2283-8, EUR 19,95
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Hubert Fehr / Irmtraut Heitmeier (Hgg.): Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien: EOS Verlag 2012
Hubert Fehr: Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen, Berlin: De Gruyter 2010
Philipp von Rummel: Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2007
Bei dem hier anzuzeigenden Buch handelt es sich um eine Überblicksdarstellung zur Geschichte und Archäologie der Völkerwanderungszeit, verstanden als "Summe der Ereignisse in der Spätantike und im beginnenden Frühmittelalter, die mit der Zuwanderung fremder Bevölkerungsgruppen auf den Boden des Römischen Reiches zusammenhängen sowie mit der Herausbildung von dessen Nachfolgestaaten" (8). Die beiden Autoren, Hubert Fehr und Philipp von Rummel, sind durch einschlägige Forschungsbeiträge ausgewiesen [1], daher wissen sie um die Problematik der Verwendung des Begriffs "Völkerwanderungszeit" als Etikett für die Entwicklungen, die sich zwischen dem 3. und dem 6. Jahrhundert n.Chr. in Europa vollzogen haben. Insofern ist das Buch auch - wenn nicht sogar vor allem - Zeugnis einer Suche nach den geeigneten Kategorien, um das komplexe Geschehen dieser für die Entwicklung unseres Kontinents formativen Epoche zu fassen.
Die Reihe Theiss WissenKompakt nimmt laut Klappentext für sich in Anspruch, das Wissen zu einem bestimmten Thema "klar, anschaulich und kompakt" zusammenzufassen. Dieser Maßgabe haben Fehr und von Rummel entsprochen, indem sie ein straffes, aber nicht zu knapp geratenes, ein reich bebildertes, zugleich übersichtliches und die zentralen wissenschaftlichen Aspekte des Themas berücksichtigendes Buch vorgelegt haben.
Im ersten Kapitel ("Was war die Völkerwanderung?", 7-19) gehen die Autoren auf die Forschungsgeschichte ein und stecken die Grenzen ihres Themas ab. Wichtige Begriffe wie "Volk" und "Germanen", "Römer" und "Barbaren" werden problematisiert, und der Leser bekommt eine erste Ahnung davon, was "Völkerwanderung" im Kontext von Spätantike und Frühmittelalter bedeuten könnte und was eben nicht.
Das zweite Kapitel ("Welt im Wandel - ein Panorama der Völkerwanderungszeit", 21-43) richtet den Fokus auf die Ausgangslage zu Beginn der Spätantike und zeichnet ein instruktives Bild des römischen Reiches und seiner Beziehungen zum Barbaricum bis ins 4. Jahrhundert n.Chr. Es folgen die beiden zentralen Kapitel des Buches, die den Verlauf der Völkerwanderungszeit zunächst nach ihren strukturellen Gesetzmäßigkeiten zu fassen suchen ("Struktur und Verlauf der Völkerwanderung", 45-63) und dann, verhältnismäßig ausführlich, einen ereignisgeschichtlichen Überblick über die römisch-barbarischen Beziehungen zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert n.Chr. bieten ("Wandernde Völker", 65-151). Ein kurzer Ausblick auf "Völkerwanderungen nach der Völkerwanderungszeit" (153-161) beschließt diesen Teil des Buches. Das Schlusswort am Ende ("Die Völkerwanderung - ein bloßer Mythos? ", 163-170) führt noch einmal die Kernthese der Autoren vor Augen, dass wir die Völkerwanderungszeit weniger aus der Perspektive von Untergang und Verfall als vielmehr aus derjenigen einer Transformation betrachten und deuten sollten. Weiterführende Literatur (171f.), ein Register (173-175) und ein Bildnachweis (176) beschließen das Buch. Auf den Innenseiten des Umschlages findet der Leser vorn eine Landkarte des spätantiken Europa und hinten eine Zeittafel vor.
Fehrs und von Rummels Buch ist flüssig geschrieben, ansprechend gestaltet und zeichnet sich durch vielseitiges und Interesse weckendes Bildmaterial aus. Die Autoren beziehen Position, indem sie sich, was die Bedeutung von "Völkern" für die Völkerwanderung betrifft, einer Forschungsrichtung anschließen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten von der so genannten "Wiener Schule" geprägt worden ist. Natürlich sind hiervon abweichende Stimmen, zum Beispiel derjenigen Wissenschaftler, die weniger Berührungsängste gegenüber vermeintlich stabilen ethnischen Einheiten verspürten und die den Zerfall des Weströmischen Reiches in erster Linie als Resultat barbarischer Invasionen begriffen, nie verstummt und haben sogar in jüngster Zeit, zumal in der nichtdeutschsprachigen Forschung, wieder mehr Bedeutung gewonnen - vielleicht hätte man diesen Punkt noch etwas stärker betonen können. [2] Andererseits gewinnt das Bild, das Fehr und von Rummel von der Transformation der römischen und der barbarischen Gesellschaften in Spätantike und Mittelalter zeichnen, dadurch, dass dies unterlassen wurde, an Geschlossenheit, und die Darstellung der Autoren, die ja ohnehin durch allerlei Ungewissheiten im archäologischen und historischen Detail belastet ist (darauf wird immer wieder in kleinen, herausgehobenen Texten hingewiesen: z.B. 50f.: "Reihengräberfelder - Zeugnis germanischer Zuwanderung?" und 132f.: "Die Suche nach den Goten in Spanien"), gewinnt auf diese Weise an Stringenz.
Eine Stärke des Buches liegt darin, dass es die Völkerwanderungszeit mit großer Konsequenz dem Leser als eine Epoche nahe bringt, die Römer und Barbaren vereinte und die nördlich wie südlich des Mittelmeeres charakteristische Folgen zeitigte. Auf diese Weise wird etwa die Entwicklung der regionalen maurischen Herrschaftsbildungen in Nordafrika seit dem 4. Jahrhundert n.Chr. wie selbstverständlich in die Darstellung einbezogen und zu den germanischen Königreichen in Mittel- und Südeuropa in Beziehung gesetzt. Bei der unvermeidlichen Frage nach den Gründen für das Ende des weströmischen Kaisertums 476/80 n.Chr. heben Fehr und von Rummel mit Recht immer wieder die internen, sozusagen hausgemachten Gründe hervor, die im Verlaufe der Spätantike die innerrömischen Strukturen zusehends schwächten und sie so im Falle von unerwarteten, externen Impulse verletzbar machten.
Bei aller äußerlich ansprechenden Aufmachung fallen im Verlaufe der Lektüre eine Reihe von Versehen auf, die zwar, für sich genommen, nicht allzu schlimm sind, in der Summe aber stören. Hier einige Beispiele (40ff.): Nicht Stilicho war im Kampf gegen Gildo Oberkommandierender in der Schlacht, sondern Mascezel (40); der Hadrianswall liegt in England, nicht in Schottland (46); die von den Römern Unterworfenen heißen dediticii (47); die Mauern Konstantinopels wurden ab 413 unter der Herrschaft Theodosius' II. erneuert (53).
Trotz des zuletzt angeführten Kritikpunktes möchte ich betonen, dass Fehr und von Rummel eine über weite Strecken gelungene Einführung in die Geschichte und Archäologie der Völkerwanderungszeit vorgelegt haben, die geeignet ist, interessierte Studenten und Laien für die grundsätzlichen Forschungsprobleme dieser Epoche zu sensibilisieren und sie an sie heranzuführen.
Anmerkungen:
[1] Ich nenne als Beispiele nur beider Dissertationen: Hubert Fehr: Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen, Berlin / New York 2010 und Philipp von Rummel: Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert, Berlin / New York 2007.
[2] Im Literaturverzeichnis ist ja das Werk von Michael Kulikowski: Die Goten vor Rom, Darmstadt 2009 (engl. Ausgabe Cambridge 2007), der den Ergebnissen der Wiener Schule durchaus kritisch gegenübersteht, ausdrücklich genannt. Zur Bedeutung der Barbareninvasionen für den Niedergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert n.Chr. siehe auch Bryan Ward-Perkins: Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Darmstadt 2007 (engl. Ausgabe Oxford u.a. 2005) und Peter Heather: Der Untergang des römischen Weltreichs, Stuttgart 2007 (engl. Ausgabe London 2006).
Timo Stickler