Matthias Köhler: Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (= EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven; Bd. 3), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, XII + 531 S., ISBN 978-3-412-20771-7, EUR 69,90
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Nein, ein Buch, in dem man vor dem Schlafengehen noch ein paar Seiten liest und am kommenden Abend sofort wieder den Anschluss findet, ist das wahrlich nicht. Es ist ein Buch - eine Münsteraner Dissertation von 2010 -, dessen Lektüre höchste Konzentration erfordert, das sich auf einem sehr hohen Reflexionsniveau befindet und letztlich auch mit Erfolg versucht, eine Fülle moderner Theorien aus den Nachbarwissenschaften - von Luhmann über die Spieltheorie bis zum Bargaining-Konzept, um nur einige zu benennen - für geschichtswissenschaftliche Forschungen nutzbar zu machen.
Wer zu dem Buch in dem Glauben greift, zum Nijmegener Friedenskongress, mit dem der so genannte Holländische Krieg (warum eigentlich nicht "Niederländischer Krieg"?) seinen Abschluss fand, faktengeschichtlich viel Neues zu erfahren, der wird enttäuscht. Aber er wird in anderer Hinsicht mehr als entschädigt. Ausgangspunkt der Studie ist die Frage, ob es zwischen instrumentellem und symbolischem Handeln der Akteure im Rahmen eines Entscheidungsprozesses - in diesem Fall von Friedensverhandlungen - einen Zusammenhang gibt und wie er sich darstellt. Dass ein solcher Zusammenhang besteht, ist offensichtlich, wichtiger ist deswegen das Mischungsverhältnis von instrumentellen und symbolischen Aspekten des Handelns von Diplomaten. In einem 3. Kapitel - nach einer langen "Einleitung" (1) und einer pragmatischen Schilderung des Kongressgeschehens (2) - beschäftigt sich der Verfasser genau mit ihnen, den Trägern der Verhandlungen, denen er eine Doppelrolle zuweist: als ministre public den Herrscher zu vertreten und sachlich das bestmögliche Verhandlungsergebnis für ihn zu erzielen, und als honnête homme eine informelle Rolle einzunehmen und unter Wahrung des Adelskodex seinem Familienclan einen Zuwachs an finanziellem, sozialem und symbolischem Kapitel zu verschaffen. Grundsätzlich, so weist Köhler mit gut gewählten Beispielen nach, waren diese beiden Rollen eng miteinander verwoben und Zielkonflikte eher die Ausnahme denn die Regel. Schon die Tatsache, dass die Diplomaten im Allgemeinen ohne eigenes Kapital eine solche Aufgabe nicht übernehmen konnten (und ihre Bitten um "Gehaltserhöhung" in der Regel abschlägig beschieden wurden), dafür aber dann von ihrem Souverän nach Abschluss ihrer Mission auch entsprechende Gegenleistungen in Form von symbolischem Profit (Ämter, Titel, Pensionen) erwarteten oder auch einfach öffentlichen "Ruhm", macht das deutlich. Die Doppelrolle der Diplomaten ermöglichte es zudem, makropolitische Verhandlungen einzugehen, die sich eindeutig aus ihrer Rolle als honnêtes hommes ableiteten und viel mehr Flexibilität einschlossen, als wenn sie "nur" als ministres publics auftraten - die Verhandlungen zwischen Frankreich und den Generalstaaten, die dann zum Separatfrieden führen sollten, gründeten auf solchen informellen Kontakten des französischen Gesandten Estrades mit niederländischen Klienten.
Auch bei den eigentlichen Entscheidungsprozessen überlappten sich die symbolischen und instrumentellen Aspekte des Handelns sehr deutlich. Der Verfasser verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel der Bedeutung von Höflichkeit / Unhöflichkeit im Verlauf von Verhandlungen, also derjenigen Interaktionssituationen, in denen beispielsweise mit Unhöflichkeit signalisiert werden konnte, dass an der Fortsetzung von Verhandlungen unter bestimmten Bedingungen kein Interesse mehr bestand und externe Optionen - Abbruch, Rückkehr zu Kriegshandlungen - ("Exit-Optionen") in Erwägung gezogen wurden. Bei den Argumentationen der Diplomaten im Zuge der Entscheidungsprozesse, also der Stiftung von Geltungsansprüchen, war die Überzeugungsarbeit die eine Sache, die sich aber immer an anderer Überzeugungsarbeit stieß, so dass eine symbolische Komponente aktiviert werden konnte, die man als eine allen Gesandten gemeinsame europäische diplomatische Kultur definieren kann, gegen die der uneinsichtige Widerpart vermeintlich oder tatsächlich verstieß. Das galt vor allem auch hinsichtlich der Mediatoren, von denen die Franzosen den angeblich zu sehr an den Interessen der Generalstaaten orientierten William Temple früh ins instrumentelle und auch symbolische Abseits stellten, auch zum Beispiel deswegen, weil er sich strikt weigerte, die im diplomatischen Kodex vorgesehenen Geschenke der Konfliktparteien zu akzeptieren. Ein eklatanter Verlust an "Vertrauen" war die unmittelbare Folge. Aber die Schwierigkeiten der Mediatoren hatten auch etwas mit der insgesamt undurchsichtigen Politik des Londoner Hofs allgemein zu tun.
Am Ende kam es tatsächlich zu einem Ergebnis der Entscheidungsprozesse, das die kaiserliche Seite eher als unbefriedigend, wenn nicht als schändlich interpretierte, die französische als Bestätigung ihrer europäischen Arbiterstellung, mögen auch die realen Erfolge eher bescheiden ausgefallen sein - was den Hof Ludwigs XIV. aber nicht davon abhielt, den Friedensschluss zu einem Triumph des Roi-Soleil zu stilisieren. An der - relativ gesehen - Kurzlebigkeit der Nijmegener Friedensordnung änderte das nichts.
Auch wenn hier der Bereich des Zeremoniells - abgesehen von wenigen Einblicken, etwa in Differenzen um die erste Visite - weitgehend ausgeblendet bleibt, muss man die Befunde des Autors, die sich auf die Entscheidungsfindungen im engeren Sinn konzentrieren, als schlüssig einordnen und zur Kenntnis nehmen, dass eine Interaktion von instrumentellen und symbolischen Formen des Handelns für die Diplomaten weit eher die Regel als die Ausnahme war. Die Nijmegener Friedensverhandlungen sind dem Rezensenten seit den mittleren 1970er Jahren hinlänglich bekannt - wenn er trotzdem einräumt, aus diesem Buch viel gelernt zu haben, dann mag das einerseits als Kompliment verstanden werden, soll aber zugleich auch verdeutlichen, wie viel sich in methodischer Hinsicht und in der Offenheit, theoretische Modelle und Überlegungen aus Nachbardisziplinen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch geschichtswissenschaftlich zu nutzen, seitdem verändert hat. Zugleich muss man sich bewusst machen, dass diese "Fallstudie" eher zufällig auf Nijmegen fokussiert wurde - der Ansatz hätte auch an Rijswijk oder Utrecht oder irgendeinem anderen Friedensschluss des Zeitalters exemplifiziert werden können.
Die Monita halten sich in sehr bescheidenen Grenzen. Zwei Kapitel des Buches (4.2., 4.4.) sind in etwas modifizierter Form bereits in Sammelbänden vorab erschienen - eine allgemeine Tendenz, die sich unter anderem der Tatsache schuldet, dass Exzellenzcluster und andere vergleichbare Förderinstrumente sozusagen einem ständigen Druck ausgesetzt sind, Ergebnisse oder auch nur Zwischenergebnisse von Mitarbeitern publizieren zu müssen. Die Einleitung ist mit 85 Seiten weit ausladend, und so sehr man den Forschungsüberblick auch dankbar zur Kenntnis nimmt: etwas weniger hätte auch mehr sein können. Ob der Aufwand an Theorie - ihrer Darstellung und ihrer Instrumentalisierung - nicht vielleicht doch etwas übers Ziel hinausschießt, will ich lediglich als Frage stehen lassen. Wie erkenntnisfördernd das Ermitteln des Durchschnittsalters der Gesandten ist (123), hat sich mir nicht recht erschlossen. Merkwürdig viele Trennfehler sind stehengeblieben, die Zitationsweise der archivalischen Quellen - CC-JA, LE1-KG usw. - ist gewöhnungsbedürftig. Nicht ausstellen, aber doch erwähnen will ich, dass der Verfasser gegenüber Autoren, auf denen er so oder so aufbaut, gelegentlich sehr deutliche Worte der Kritik einsetzt.
Das Buch wird auch Kritiker finden, die möglicherweise seine relativ schmale Quellenbasis - Akten überwiegend aus französischen Archiven und Bibliotheken und zudem aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien - ausstellen werden oder einen Hiatus zwischen theoretischen Vorreflexionen und materiellen Ergebnissen beklagen. Ich habe die ausgesprochene Quellennähe der Arbeit positiv vermerkt und die Fähigkeit des Verfassers, viel zwischen den Zeilen zu lesen und mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen an die Quellen heranzugehen, schätzen gelernt. Auch die intensive Einbeziehung der zeitgenössischen theoretischen Literatur (Wicquefort, Callières und andere) hat der subtilen Beweisführung gut getan. Eine eigenwillige, auf ihre Art aber weiterführende Studie - nur, um an den Beginn der Besprechung zurückzukehren: keine Lektüre für den Nachttisch.
Heinz Duchhardt