Bernd Sösemann / Gregor Vogt-Spira (Hgg.): Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 2 Bde., XXXIV + 1005 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-515-09924-0, EUR 79,00
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Unter den geradezu tsunamiähnlich sich im Januar 2012 über den Markt ergießenden Büchern zum Friedrich-Jubiläum - Monographien, Ausstellungskatalogen, Begleitbänden usw. -, die in manchen Fällen wohl relativ rasch wieder der Vergessenheit anheimfallen werden, nimmt das anzuzeigende zweibändige Werk eine Sonderstellung ein - die Prognose wird nicht zu kühn sein, dass es für längere Zeit als eine Wegmarke der Friedrich-Historiographie gelten wird. Für ein Sammelwerk ist das etwas Ungewöhnliches.
Diese Bewertung gründet zum einen darin, dass es ein durchdachtes, "komponiertes" Werk ist - was Wiederholungen und auch differente Ansichten der Beiträger nicht ausschließt - und dass eine Reihe von Autoren mit sehr originellen und unkonventionellen Fragestellungen aufwartet und keine Scheu hat, die Quellen auch einmal gegen den Strich zu lesen und mehr oder weniger heftig an Positionen der borussischen Geschichtsschreibung zu rütteln, die das Einmalige und ganz Exzeptionelle preußischer Entwicklungen und Phänomene herauszuarbeiten versucht hatte. Zum anderen hat man Autoren und Autorinnen eine Chance gegeben, die unbelastet von den Traditionen der Friedrich-Geschichtsschreibung die Herausforderung angenommen haben, sich an einem modifizierten Friedrich-Bild zu versuchen - das muss nicht zwingend ein Vorteil sein, kann es aber. Autorennamen, die zu den Friedrich-Experten im engeren Sinn zählen - etwa Johannes Kunisch, Wolfgang Neugebauer oder Jürgen Kloosterhuis -, sucht man unter den Beiträgern deswegen auch vergeblich. Und zum dritten ist die europäische Einbettung des Monarchen noch längst nicht die Regel und wird hier in der Regel konsequent befolgt.
Das Unkonventionelle beginnt bereits bei den beiden Herausgebern: Kommunikationshistoriker und eher Zeithistoriker der eine, klassischer Philologe der andere, beides alles andere als ausgewiesene Friedrich-Spezialisten, aber offenbar - auch und gerade in Italien! - so gut vernetzt, dass sie einen beeindruckenden Kreis von Autoren um sich versammeln konnten. Freilich muss man festhalten, dass gerade die aus dem Ausland eingeworbenen Beiträge nicht ausnahmslos jene Unkonventionalität widerspiegeln, von der oben die Rede war.
Das voluminöse Werk gliedert sich - unter dem an sich wenig erhellenden Untertitel "Geschichte einer wechselvollen Beziehung" - in insgesamt sechs große Kapitel mit jeweils sechs bis dreizehn Einzelbeiträgen, denen im zweiten Band dann noch Abschnitte mit statistischen Daten (sehr sinnvoll und hilfreich!), einer chronologischen Übersicht (mit einigen Ungereimtheiten und manchen unerwarteten Einträgen) sowie, wiederum hilfreich, einigen Übersichten sowie einer gut 60seitigen Spezialbibliographie nachfolgen. Jedem Kapitel ist ein einleitender Essay vorangestellt, der von unterschiedlicher Tiefenschärfe ist. Es versteht sich, dass nicht alle Beiträge hier gewürdigt werden können; die folgenden Schlaglichter haben also durchaus einen sehr persönlichen Charakter.
Aus dem Kapitel "Wie wird man ein König? " hat mich Thomas Stamm-Kuhlmanns Essay über Kindheit und Jugend Friedrichs angesprochen, weil er besonders nachdrücklich mit Legenden aufräumt, Friedrichs Erziehung sei im europäischen Vergleich etwas Exzeptionelles gewesen. Lesenswert Thomas Biskups Beitrag über Friedrichs Kinderlosigkeit und Sexualität - in letzter Zeit wieder heftig diskutiert - und Ute Freverts Aufsatz über die "Gefühlspolitik" des Königs. Kompetent Christopher Clarks weit ausgreifende Studie über den königlichen Geschichtsschreiber. Friedrichs Antikebild wird in gleich zwei Abhandlungen thematisiert, ebenso seine Schrift über die deutsche Literatur.
Aus dem 2. Kapitel "Kultur und Öffentlichkeit" ragen heraus Brunhilde Wehingers Studie über die Einordnung des "Intellektuellen auf dem Thron" in die "République des lettres" und seine Publikationsstrategien sowie Patrick Merzigers Beitrag zur Kommunikationspolitik des Monarchen, die auch die materielle "Zustimmungspolitik" - in Form etwa von Vivat-Bändern und den legendären Iserlohner Tabaksdosen - einschließt. Gerne gelesen habe ich den Beitrag von Sabine Henze-Döhring über die "Musikpolitik" des Hohenzollernkönigs, die sowohl seine eigenkompositorische Leistung wie seine Fürsorge für die Hofmusik allgemein und die Rezeption der Opera buffa speziell thematisiert; musikalisch schloss der Berliner Hof in Friedrichs Regierungszeit in jeder Hinsicht zu den führenden europäischen Höfen auf. Die Berliner Akademie erlebte - Edoardo Tortarolos Beitrag - in der friderizianischen Epoche eine kurze Phase der Internationalisierung, die mit seinem Tod abrupt wieder abbrach. Auch die kunsthistorischen Beiträge von Martin Schieder (zu Friedrichs Problemen mit seiner eigenen Verbildlichung) und Carsten Kretschmann (zu Friedrich als Kunstsammler) verdienen genannt zu werden. Friedrichs Sonderstellung hinsichtlich des diplomatischen Zeremoniells seiner Zeit untersucht Barbara Stollberg-Rilinger; bei aller intendierten Formlosigkeit konnte sich der Monarch allerdings nicht völlig von den Zwängen lösen, die sich etabliert hatten.
Das 3. Kapitel zur merkantilistischen Wirtschaftspolitik, die insgesamt als "nachholend" charakterisiert wird (I, 375), umschließt vor allem Beiträge zur Landwirtschaft (der Modernisierungsprozess kam in Gang), zu Handel und Gewerbe (Preußen war keine moderne Ökonomie), zum Steuerwesen (geringe Bedeutung direkter Steuern) und zur Geld- und Währungspolitik (Vereinheitlichung durch Einführung des Graumanschen Systems). Am spannendsten fand ich den Beitrag Markus A. Denzels zur Integration Preußens in den internationalen Handels- und Zahlungsverkehr.
"Gesellschaft und Recht" werden im 4. Kapitel behandelt - der Bogen spannt sich hier besonders weit: vom Ständewesen bis zu den Justizreformen, von der Judenpolitik bis zu den Freimaurern. Esther-Beate Körber widmet sich - auch mit Bezug auf die aktuelle Absolutismus-Diskussion - dem Weiterleben des ständischen Bewusstseins, Eckhart Hellmuth verweist auf die zahlenmäßige Kleinheit des friderizianischen Beamtenapparats, die es vielen Menschen ermöglichte, sich obrigkeitlicher Intervention zu entziehen. Die Toleranz des Preußenkönigs wird unter verschiedenen Blickwinkeln thematisiert. Besonders anschaulich ist der Beitrag von Alexander Schunka zu den kulturellen Transfers von Migranten, die er unter anderem am Beispiel des Schotten George Keith exemplifiziert.
Kapitel 5 widmet sich, eingeleitet von "Leitgedanken" Bernhard Kroeners, dem Themenfeld "Krieg und Frieden". Ob es dem Überblicksartikel von Sven Externbrink wirklich gelungen ist, zur Positionierung des friderizianischen Preußen "neue Deutungsangebote" zu entwickeln, mag auf sich gestellt bleiben. Peter Wilsons Deutung der friderizianischen Reichspolitik (negative Opposition, nichts Konstruktives) ist von anderen (Volker Press) auch schon etwas weniger scharf gesehen worden. Ob Maria Pia Paterno in ihrem Beitrag zum ius gentium den Einfluss der Naturrechtslehre auf den Preußenkönig nicht doch etwas überschätzt? Sehr kenntnisreich und mit vielen Zahlen angereichert ist der Aufsatz von Marcus Junkelmann zum "Militärstaat in Aktion", eingeschlossen Friedrichs militärtheoretische Überlegungen. Er findet eine gute Ergänzung in Marian Füssels Beobachtungen zur Repräsentation des "roi-connétable" in der preußischen und europäischen Erinnerungskultur. Dem Schlagwort und dem Phänomen der preußischen Militärmonarchie widmet Bernhard Kroener kenntnisreiche Beobachtungen.
Schließlich Kapitel 6, das den "Wahrnehmungen und Instrumentalisierungen" (des Preußenkönigs) nachgeht. Untersuchungen zum Friedrich-Bild in den europäischen Staaten werden durch einen schönen Beitrag Christiane Liermanns zum Urteil der katholischen Publizistik des 19. Jahrhunderts abgerundet, das längst nicht so ablehnend war wie vermutet. Wie vielfältig die literarische (und musikalische) Rezeption und Mythisierung des Preußenkönigs war, beleuchtet relativ knapp der Essay von Rita Unfer Lukoschik. Die Linie wird - nun wieder stärker politisch und auf Analogien ausgerichtet - dann fortgezogen bis in die Zeit der Diktaturen (Bernd Sösemann) und in die westeuropäische Massenpresse, die im Kontext der deutschen Wiedervereinigung gelegentlich den Mythos Friedrich bemühte, aber dann doch vom Abbau mythischer Überzeichnungen geprägt war.
Bei aller positiven Würdigung sollen einige Schwächen des Buches nicht unerwähnt bleiben: Die Bibliographie weist bei allem Umfang dann doch manche Lücken auf und scheint sich deutlich an den Netzwerken der Autoren orientiert zu haben. Die Ankündigung, dass Bildmaterial vor allem mit dem Ziel verwendet wurde, "den Argumentationshorizont auszudehnen und damit die im Text getroffenen Aussagen in einem veränderten Licht erscheinen zu lassen" (I, XXV), ist zumindest nicht konsequent durchgehalten worden - ja, ich würde sagen, blieb eher die Ausnahme. Die Qualität der beigegebenen Abbildungen ist im Übrigen, da auf normalem Papier reproduziert, recht bescheiden, die immerhin 46 Farbtafeln natürlich ausgenommen. Die Reserven gegenüber Friedrich-bezogenen Digitalisierungs-Vorhaben (I, XXV) mögen nachvollziehbar sein, stoßen aber ins Leere, solange es an historisch-kritischen Editionen mangelt. Der Polnische Thronfolgekrieg sollte nicht zu einem "Erbfolgekrieg" umfunktioniert werden (II, 134). Eine gewisse West-Lastigkeit in den Darstellungen ist unübersehbar; bezeichnenderweise fehlen in Isabelle Deflers' Durchgang über das Bild des preußischen Militärs in den europäischen Staaten und den USA die nordeuropäischen Staaten Schweden und Dänemark. Und schließlich: Warum die "Kriegführung" konsequent in "Kriegsführung" korrigiert (und damit verschlimmbessert) wurde, bleibt das Geheimnis der Redaktion. Und wenn man schon Ludwig XIV. in seiner französischen Form stehen lässt, dann doch bitte die Ordnungszahl ohne Punkt.
Das mögen bei einem so gewaltigen Werk, das auch an die Herausgeber gewaltige Anforderungen gestellt haben wird, Petitessen sein, und sie sollen auch die unbestreitbare Qualität dieses Sammelwerks nicht schmälern. Friedrich ist hier nicht nur "europäisiert", sondern auch zu einem guten Stück auch "normalisiert" worden - manche borussischen Historiker des 19. Jahrhunderts werden sich im Grab umdrehen ...
Heinz Duchhardt