Thea Sternheim: Tagebücher 1903 - 1971. Herausgegeben und ausgewählt von Thomas Ehrsam und Regula Wyss, Göttingen: Wallstein 2011, 3699 S., 5 Bände im Schuber, 80 Abb. + Gesamttext auf CD-ROM, ISBN 978-3-835-30748-3, EUR 128,00
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Die Tagebücher der Schriftstellerin Thea Sternheim, die auf 3.700 Druckseiten (sowie einer Gesamttext CD-Rom) im Wallstein Verlag erschienen sind, sind ein beeindruckendes Dokument der Literatur- und Alltagsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Davon abgesehen lesen sie sich über weite Strecken spannend wie ein Roman. Beginnend im Jahr 1903, kurz vor der Hochzeit mit dem Dramatiker Carl Sternheim, Thea war zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt, führen sie den Leser bruchlos bis ins Jahr 1971. Der letzte Eintrag wurde von der Chronistin nur wenige Wochen vor ihrem Tod vorgenommen.
Im Gegensatz zu anderen großen Tagebuchwerken des 20. Jahrhunderts, etwa aus der Feder des französischen Schriftstellers André Gide, einem engen Freund Thea Sternheims, waren die Tagebücher Sternheims von ihr selbst nie zur Publikation vorgesehen (an einer Stelle denkt sie darüber nach, das Konvolut ihren Kindern zu vermachen). Eine nachträgliche Redaktion zum Zweck der Stilisierung der eigenen Person fand daher, anders als bei Gide und vielen anderen, nicht statt. Auch das macht die Tagebücher Sternheims zu einer so reizvollen Lektüre; sie geben unverfälscht die Eindrücke des Tagesgeschehens wieder.
Ein Beispiel: Seit Mitte der 1920er-Jahre verband Sternheim eine enge Freundschaft mit dem Lyriker und Arzt Gottfried Benn. Die beiden trafen sich regelmäßig, bisweilen mehrmals in der Woche, und tauschten sich zu literarischen, künstlerischen und mitunter auch politischen Themen aus; außerdem berichtete Sternheim Benn immer wieder vertrauensvoll von den Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit ihrem Mann Carl Sternheim. Die Sympathie, Freundschaft und auch Dankbarkeit, die Sternheim Benn entgegenbringt, ist aufrichtig, die zahllosen Tagebucheinträge geben hiervon ein eindeutiges Zeugnis. Entsprechend skeptisch fallen ihre ersten Reaktionen aus, als sich wenige Jahre später die Stimmen im Freundeskreis mehren, die Benn gedankliche Nähe zum Nationalsozialismus unterstellen. Hatte Sterneim Benn in ihren Tagebüchern anfänglich noch gegen dergleichen Verdächtigungen in Schutz genommen, kam es im Frühjahr 1933 zum Bruch: "Heinrich Mann aus der [Preußischen] Akademie [der Künste] verwiesen. Ich höre noch nicht, dass Benn ihm auf dem Fusse gefolgt ist", heißt es 20. Februar. Als wenige Wochen später der frisch gekürte Akademiepräsident Benn öffentlich den Anspruch des nationalsozialistischen Staates untermauert, die Qualität der Kunst neu zu definieren, notiert Sternheim in ihrem Tagebuch: "In der Tat wäre in Zukunft jeder Liberalismus Benn gegenüber verfehlt" (28. Mai 1933). In einer für die Publikation geglätteten Version, davon darf man ausgehen, hätte die frühe freundschaftliche Beziehung wohl die eine oder die andere nachträgliche Zurechtrückung erfahren. Erst vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg traten die beiden wieder in (brieflichen) Kontakt zueinander, wobei bei Sternheim rasch wieder vom "liebe[n] Freund" die Rede ist (28. Februar 1951).
Thea Sternheim entstammte einer wohlhabenden - um nicht zu sagen: reichen - Unternehmerfamilie; finanzielle Sorgen waren ihr bis zur Inflationszeit der 1920er Jahre fremd. Sie war regelmäßiger Gast in den Galerieräumen des Düsseldorfer Kunsthändlers Flechtheim, wo sie etliche Werke damaliger Avangardisten von van Gogh über Gaugin bis Picasso und Matisse erwarb ("Wir kaufen für fünftausend Mark das zweite van Gogh'sche Bild: Der Rasen", 22. April 1908; "Vielleicht sind die Bilder sogar zu hoch bezahlt, wenn man bei einem Maler wie Vincent überhaupt von so etwas reden kann.", 5. Oktober 1909). Lebte Sternheim bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in erster Linie für die Kunst, war sie in den Folgejahren mehr und mehr dazu gezwungen, von ihr zu leben. Der sukzessive Verkauf ihrer Meisterwerke hielt sie (und ihre Kinder) nach dem Krieg und vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus finanziell einigermaßen über Wasser ("Gewiss bin ich gezwungen, den geliebten Vincent zu verkaufen, bin auch im Angesicht der angstvollen Zeit im Preis abzulassen gewillt.", 1. Juli 1938).
Ihr Reichtum waren fortan die unzähligen Freundschaften mit Künstlern, Schriftstellern, Politikern und Wissenschaftlern in Berlin und Paris, die bei ihr ein- und ausgingen, und von denen das Tagebuch auf Hunderten von Seiten berichtet. Sternheim blickte Picasso und Max Ernst in deren Ateliers bei der Arbeit über die Schulter ("Wie sehr bedaure ich, arm zu sein [...]", 13. Januar 1937), flirtete mit Walther Rathenau, machte sich Sorgen um den Alkoholismus Joseph Roths, und diskutierte mit Gide nicht nur über dessen neueste Arbeiten und Reiseprojekte, sondern auch über seine (vorübergehende) Faszination mit dem Sowjetkommunismus. Und das ist nur eine kleine Auswahl der berühmten Freunde und Bekannten, die in Erscheinung treten - die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Dass Sternheim 1933 nicht aus Deutschland emigrieren musste, lag daran, dass sie bereits ein Jahr zuvor dauerhaft nach Paris übergesiedelt war. Rein technisch war das ein Vorteil, bewahrte es sie doch vor den leidigen Passsorgen, mit denen zahlreiche andere deutsche Geflohene im Ausland zu kämpfen hatten ("'Wenn Sie mir den Beweis erbringen, daß Sie keine Emigrantin sind, bereits 1932 in Paris waren, erneuere ich Ihnen den Pass.'", 18. April 1934). Auch verzichtete sie darauf, sich öffentlich politisch zu äußern, nicht zuletzt, weil sie dem im Ausland organisierten deutschen Widerstand gegen Hitler keine nennenswerte Bedeutung beimaß: "Das hauptsächlich aus der deutschen Emigration zusammengeströmte Publikum [...] lässt eine Art Aversion aufkommen [...]. Nein so ist Hitler nicht zu bekämpfen!", notierte sie Mitte Oktober 1937 in ihr Tagebuch. Wenige Wochen zuvor bereits hatte sie mit Bedauern darauf hingewiesen, dass "keinerlei Beziehungen zwischen Franzosen und Emigranten" existierten, und dass viele Deutsche nach "vier Jahren Aufenthalt in Frankreich [...] noch nicht einmal fließend französisch" sprächen (2. Januar 1937).
Eine politische Aktivistin, so viel steht fest, war Thea Sternheim nicht; den Vorwurf, sich nicht ausreichend auf das Land eingelassen zu haben, das ihr Zuflucht gewährte, kann man ihr jedoch sicherlich nicht machen. ("Die seltsame Tatsache: Ich fühle mich den Vorgängen nicht mehr verwickelt. Es kann kein Zweifel bestehen, die deutschen Belange berühren mich weniger als die belgo-französischen.", 2. September 1944). Eine Rückkehr in die frühere Heimat kam für sie nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges nicht in Frage. Zwar korrespondiert sie bald wieder regelmäßig mit den alten Freunden und Bekannten, die in Deutschland geblieben bzw. dorthin zurückgekehrt waren, etwa mit Benn, doch um das Land selbst macht sie auch weiterhin einen Bogen ("[Kurt] Wolff meint, dass Thomas Mann der bestgehasste Mann in Deutschland sei.", 20. Juli 1947). Erst viele Jahre später, im Mai 1963, zog es Sternheim in den deutschen Sprachraum zurück; sie ließ sich in der Schweiz - in Basel - nieder, von wo aus sie gelegentliche Ausflüge ans (schweizerische) Ufer des Bodensees unternimmt.
"Julien [Green] ist wie ich der Meinung, dass ein Leben ohne Tagebuch gar kein wahrhaftes Leben wäre. Wir kommen zum Schluss, dass die Führung eines Tagebuchs das Glück tiefer, jedes Leid erträglicher macht", vermerkt Sternheim am 15. Dezember 1936. Glück, das bedeutete für sie die Beschäftigung mit Kunst und Literatur, mit Flaubert und Stendhal, Tolstoi und Dostojewski, sowie der Austausch mit ihren zahllosen Freunden und Bekannten. Zugleich aber litt sie: viele Jahre unter dem Wahnsinn ihres Mannes, Carl Sternheim, der Drogensucht und dem frühen Tod ihrer beiden Kinder, Mopsa und Klaus, und nicht zuletzt an den Extremen des 20. Jahrhunderts, zu dessen Chronistin sie mit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher nun geworden ist.
Aber Thea Sternheims Tagebücher sind mehr als "nur" ein bemerkenswertes Gesamtkunstwerk. Sie sind auch eine unvergleichliche Fundgrube für Historiker. Etwa wenn am 8. Juli 1915 aus einem Briefwechsel mit dem deutsch-französischen Schriftsteller (und Pazifisten) René Schickele zitiert wird, wo es heißt: "Die allseitige Gründung von Munitionsministerien verspricht ja noch ganz bedeutende Fortschritte der Menschheit. Ich habe einen Bekannten, der ist 'Flammenwerfer' - das ist ein Mann, der mit einer Spritze auf fünfzig Meter brennende Säuren in die feindlichen Schützengräben schleudert. Kriegsindustrie! Ich behaupte, dass weder Alexander, noch Cäsar, noch Napoleon imstande gewesen wären, einen solchen Krieg zu führen. Dazu mussten erst Zerstörungsbeamte aufkommen [...]."
Zerstörungsbeamte - kann man sich eine trefflichere Formulierung vorstellen, für das, was die Kriege des 20. Jahrhunderts, deren reibungsloser Ablauf ohne die zahllosen Bürokraten in den Ministerien und Verwaltungen, die dort effizient "ihrer Pflicht nachgingen", nicht möglich gewesen wäre, maßgeblich prägte, und was derzeit mit Blick auf zahlreiche deutsche Institutionen - wenngleich mit Fokus auf den Zweiten Weltkrieg - erforscht wird?
Florian Keisinger