Martin Büchsel / Rebecca Müller (Hgg.): Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. »Kultbild«: Revision eines Begriffs (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst; Bd. 10), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2010, 235 S., ISBN 978-3-7861-2618-8, EUR 69,00
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Eine der Initialzündungen zur Debatte um Bilder und Bildlichkeit in den letzten beiden Jahrzehnten war unbestritten Hans Beltings Bild und Kult. Beltings Buch stellte die Frage nach der Rolle von Bildern neu, indem es die bis dato gültige Alternative zwischen dem autonomen Kunstwerk und dem instrumentalisierten Bild in "fremden" Diensten aufbrach. Über die Thesen ist nach Erscheinen des Buches ausführlich debattiert worden, schnell wurde dabei klar, dass die einfache Dichotomie von Kult vs. Kunst zu kurz greift. Unbeschadet der Kritik hat sich das Kultbild aber seitdem als feste Größe im kunst- und bildwissenschaftlichen Diskurs etabliert. Unscharf ist indes oft geblieben, worin sich genau der "Kult" um das Bild manifestiert und wo die ihm zugeschriebenen Handlungsmuster ihren Ort haben. Hier liegt einer der Punkte, an dem der von Martin Büchsel und Rebecca Müller edierte, aus einer 2007 im Liebighaus veranstalteten Tagung hervorgegangene Sammelband ansetzt. "'Kultbild': Revision eines Begriffs", das ist zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Bild und Kult auch deshalb kein obsoletes Anliegen, weil die damals eingeführten Kategorien eines bildlichen Präsenzeffekts unter so unterschiedlichen Stichworten wie "Lebendigkeit", "Agency", "Körperlichkeit" oder "Materialität" gerade in jüngster Zeit wieder auf verstärktes Interesse der Forschung stoßen.
Weniger leicht als die Revisions-Idee erschließt sich das im Titel des Bandes angesprochene Spannungsfeld von "Intellektualisierung" und "Mystifizierung". Ist hier die Perspektive der Forschung gemeint oder der mittelalterliche Bildgebrauch (oder beides)? In seinem einleitenden Essay ordnet Martin Büchsel die Seite der "Mystifizierung" der Ideenwelt des 19. Jahrhunderts zu, die dem Mittelalter bisweilen ein "magisches" Bildverständnis unterstellte. Der damit in den Vordergrund gerückte Bilderkult, so Büchsels These, war aufs Ganze gesehen aber nur ein Nebenschauplatz mittelalterlicher Sakralkunst. Die Verehrung von Bildern war immer im Bereich paraliturgischer Frömmigkeitspraxis angesiedelt, ebenso wie diejenige der Reliquien. Dieses Argument zielt auf die vielbeschworene "Allianz von Bild und Reliquie" - plastische Figuren mit Reliquiarfunktion wie die Fides von Conques waren nach verbreiteter Auffassung der erste Schritt hin zu einem Bildkonzept, das bildliche Repräsentation und Präsenzvorstellung eng zusammenband. Just der Kronzeuge der Allianz-These, Bernhard von Angers, gibt in seinem Liber miraculorum jedoch Hinweise auf die Tradition eines anderen plastischen Bildes - des Kruzifixus - das der Legitimation durch ein Reliquiendepositorium gar nicht bedurfte.
In gewissem Umfang ließe sich die Geschichte der Allianz von Bild und Kult ausgehend von dieser Beobachtung tatsächlich neu schreiben. Sie wäre dann eher durch verschiedene Formen der Mitwirkung an liturgischen und außerliturgischen Ritualen und weniger durch eine Frontstellung gegen ein christliches Bilderverbot geprägt. Ohnehin scheinen Zweifel an der Reichweite bildskeptischer, bildkritischer oder bildfeindlicher Argumente in den verschiedenen Phasen der christlichen Bilddebatte angebracht, wenn man beispielsweise jüngeren Beiträgen zum byzantinischen Bilderstreit folgt, den Büchsel einleitend Revue passieren lässt. Die ikonophile Auseinandersetzung mit den Positionen der Bildgegner hat nicht dazu beigetragen, Bilder zu legitimieren, sondern vielmehr zur Schärfung und Ausdifferenzierung eines semiotischen Bildverständnisses geführt, dessen Kategorien auch in die Praxis der Produktion und des Gebrauchs von Bildern einfließen konnten. Mit der theologischen Abgrenzung des Abbilds vom Prototyp, an die sich schon bald weitaus subtilere Distinktionen anschließen - Charles Barber arbeitet sie an byzantinischen Texten des 11. Jahrhunderts heraus - wäre dann der Pol einer schon in mittelalterlichen Bilddiskursen greifbaren "Intellektualisierung" von Kunst erreicht.
Nur ein kleiner Teil der mittelalterlichen Sakralkunst entsprach überhaupt dem Bildkonzept Kultbild. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, doch ist die Frage nach der Motivation und der Funktion dieser "anderen" Bilder keineswegs abschließend geklärt. Dies betrifft unter anderem das Verhältnis von Bild und Liturgie, dem sich verschiedene Beiträge des Bandes widmen. Wandbilder im Altarbereich und Miniaturen in liturgischen Büchern konnten den zelebrierenden Priester adressieren, dem sie das unsichtbare Geschehen der himmlischen Liturgie sichtbar vor Augen stellten - so Tobias Frese in einer Konfrontation der Ausmalung der Hacli-Kirche in Kappadokien (frühes 10. Jh.) mit dem Metzer Sakramentarfragment (um 870). An diesen Fallbeispielen zeigt sich, dass die Vorstellung von Liturgie als Kommunikation zwischen einer irdischen und einer himmlischen Handlungsebene ein starkes Movens war, Räumlichkeiten und Gerätschaften des christlichen Kults mit Bildern regelrecht zu überziehen.
Eine auf das liturgische Geschehen und den Altar als seinen zentralen Ort hin orientierte Bildpolitik sieht auch Martin Büchsel in Sugers Stiftungen für Saint-Denis am Werk. Das vielschichtige Geflecht von kostbarer Materialität und künstlerischer Form, auf das die überlieferten Stifterinschriften anspielen, lässt sich Büchsel zufolge als Reaktion Sugers auf die Argumente seines zisterziensischen Gegenspielers Bernhard von Clairvaux verstehen. Die allegorische Sinnebene der Bilder sichert den aus kostbaren Materialien gefertigten 'ornamenta' eine theologisch anspruchsvolle Legitimation zu, die Bernhards Vorwurf einer Anstachelung menschlicher 'curiositas' entkräftet.
Liturgie schreibt keine Bilder vor, aber sie bedarf ihrer im Sinne der von Suger angesprochenen 'ornamenta'. Das gilt auch für die umfassende Bildausstattung der Kirchen, mit deren Genese sich Anne-Orange Poilpré in ihrem Beitrag befasst. Wie ist es zu erklären, dass die großen römischen Basiliken Roms und die Kirchen Ravennas schon so früh in "un lieu d'image, un lieu-image" (75) transformiert wurden? Die Antwort auf diese Frage kann weder aus den Vorschriften der Liturgie selbst abgeleitet werden noch aus einer bilddidaktischen Bildlegitimation im Stile Gregors des Großen. Folgt man Poilpré, dann sind die überzeitlichen Bilder in den Apsiden ebenso wie die narrativen Zyklen der Schiffswände Ausdruck der Notwendigkeit, "Kirche" als von Gott eingesetzte und geschichtlich begründete Institution sichtbar zu machen.
Eine schöne Ergänzung zu diesen Überlegungen bieten Celia Chazelles Ausführungen zum Bildtransfer, den Benedict Bisop 679 und 685 bei seinen Reisen nach Rom veranlasste: ganze Gemäldezyklen wurden aus Rom in die northumbrischen Klöster Warmouth und Jarrow geschafft und in deren Kirchen aufgestellt. Neben der schieren Pracht einer solchen Bebilderung des Kirchenraums und ihren potentiellen didaktischen Effekten, so Chazelle, war die Sichtbarmachung der engen Bande mit Rom und dem Papst ein Grund für diese bemerkenswerte Aktion. Ähnlichen Verbindungslinien, aber nun solchen innerhalb Roms, spürt Serena Romano nach. Hinter dem scheinbaren Konservativismus immer wieder ähnlicher Kompositionen in den Apsiden römischer Kirchen entdeckt Romano ein Netz visueller Zitate, die auf die Archetypen der beiden Mutterkirchen Alt Sankt Peter und Lateransbasilika verweisen.
Den kritischen Impuls einer "Revision" der Kultbild-Forschung und ihrer "Mythen" nimmt Rebecca Müller in ihrer Studie zur Clermont-Madonna auf. Der Bericht von der Vision des Mönchs Rotbertus, der im Schlaf die Vollendung der Marienstatue beobachtet, wurde in der Forschung immer wieder als Beleg für die Allianz von Reliquie und (plastischem) Bild herangezogen, aber auch als Quelle zur Aufstellung eines Kultbildes im frühmittelalterlichen Kirchenraum. Über die Rahmensituation einer Traumvision und die Gattungskonventionen von Visionsberichten hat man sich dabei erstaunlich unbefangen hinweggesetzt. Mit guten Gründen plädiert Müller dafür, zwischen der im Text beschriebenen Statue und der realen Marienfigur eine stärkere Trennlinie zu ziehen. Die tatsächliche Beschaffenheit des seit der Französischen Revolution verlorenen Bildobjekts muss demnach weitgehend offen bleiben. Auch die den Text begleitende Zeichnung ist sicher nicht als Abbildung der realen Figur zu verstehen, sondern als autorisierende 'origo' des Visionsberichts. Gleichwohl, so Müllers Fazit, bietet die literarische Konstruktion der goldenen Marienfigur mit inkorporierten Reliquien ein aufschlussreiches Dokument der religiösen Bedeutung eines Werks der Schatzkunst, das hier "zum Schauplatz göttlichen Eingreifens" wird (114).
Die beiden abschließenden Beiträge bringen Werke aus dem "Zeitalter der Kunst" in den Diskussionszusammenhang des Bandes ein - Beate Fricke analysiert Dürers Schmerzensmanntafel in Karlsruhe, Heike Schlie Cranachs d.J. Doppelporträt Christi und Mariens in Gotha. Es geht Fricke und Schlie nicht darum, die von Belting postulierte Epochenschwelle einzuebnen, sondern sie neu zu justieren. Die Anfänge des Künstlerkults, in dem sich Dürer situiert, und der Kontext der Kunstsammlung, für den Cranach arbeitet, führen demnach zu keinem Bruch mit den religiösen Konzepten, die für die Zeit davor verbindlich gewesen waren. Die Selbstbezüglichkeit etwa, mit der Dürer im Karlsruher Bild die Kategorien Bildgrenze und Bildgrund verhandelt, war nachgerade nur möglich in einer Tradition, die Künstlerbild und Gottesbild miteinander verschränkte. Komplementär dazu plädiert Heike Schlie dafür, schon die mittelalterliche Bildgeschichte der Vera Ikon und ihrer Kopien unter den Vorzeichen eines "Kunstdiskurses" (213) zu lesen, dem von Beginn an ein hohes Maß an Medienreflexion eingeschrieben ist.
Intellektualisierung und Mystifizierung versammelt ein breites inhaltliches und methodisches Spektrum durchweg lesenswerter Studien zu Bildtheorien und Bildgebrauch mittelalterlicher Sakralkunst. (Unter-)Titel und Einleitung wecken allerdings falsche Erwartungen. Auf das dort angekündigte Projekt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kultbild-Diskurs haben sich nur einige der Autorinnen und Autoren eingelassen. Was die nicht-deutschsprachigen Beiträge angeht, bildet dies wohl auch den ungleichen Stellenwert ab, den das Paradigma in den verschiedenen Sprachgemeinschaften des Faches erworben hat. Aber auch wenn eine wissenschafts- oder begriffsgeschichtliche Aufarbeitung wohl noch zu leisten bleibt, wird mit dem vorliegenden Band soviel klar: der Facettenreichtum der vielen Bildkonzepte und Bildorte, den die Beiträge vorführen, verbietet eine Reduzierung mittelalterlicher Kunstgeschichte auf "Kult".
David Ganz