Rezension über:

Karolien De Clippel / Katharina Van Cauteren / Katlijne Van der Stighelen (eds.): The Nude and the Norm in the Early Modern Low Countries, Turnhout: Brepols 2011, 220 S., ISBN 978-2-503-53569-2, EUR 65,00
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Rezension von:
Daniela Hammer-Tugendhat
Abteilung Kunstgeschichte, Universität für angewandte Kunst, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Daniela Hammer-Tugendhat: Rezension von: Karolien De Clippel / Katharina Van Cauteren / Katlijne Van der Stighelen (eds.): The Nude and the Norm in the Early Modern Low Countries, Turnhout: Brepols 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/19851.html


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Karolien De Clippel / Katharina Van Cauteren / Katlijne Van der Stighelen (eds.): The Nude and the Norm in the Early Modern Low Countries

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In der kurzen Einleitung erläutern die drei Herausgeberinnen den Fokus des Sammelbandes: Er soll die Ambiguität zwischen gegenreformatorischen Normen und Moralvorstellungen und der Häufigkeit von Akt-Darstellungen in der Kunst der Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert klären helfen. Nach den grundlegenden Arbeiten von David Freedberg und der weiteren breiten Forschungsliteratur zu diesem Thema, aber auch zu Fragen der Repräsentation und Konstruktion des Körpers, der unterschiedlichen Semantik von Nacktheit und Genderfragen durfte man auf eine Konkretisierung dieser Fragestellungen auf den Zeitraum der Frühen Neuzeit und die Niederlande gespannt sein. [1]

Der Band wird prominent eingeleitet durch einen Beitrag von Eric Jan Sluijter. "The Nude, the Artist and the Model: The Case of Rembrandt" ist eine kurze Zusammenfassung seiner Thesen aus "Rembrandt and the Female Nude" (2006). Daran anknüpfend untersucht Erna Kok in "The Female Nude from Life: On Studio Practice and Beholder Fantasy" das prekäre Verhältnis von Künstler und Modell in schriftlichen und bildlichen Quellen, die bis in die Antike zurückreichen. Besonders beliebt war die Geschichte von Apelles, der sich in die Geliebte Alexanders des Großen, Campaspe, verliebte, während er sie nackt malte. Diese Anekdote eignete sich vortrefflich zur Illustration der Phantasie, Kunst entstehe aus der Inspiration der Liebe; gleichzeitig ermöglichte sie die Identifikation des Künstlers mit dem größten Maler aller Zeiten und bot darüber hinaus auch noch Gelegenheit, der Großzügigkeit eines Herrschers zu schmeicheln. Allerdings wurde diese Geschichte in den Niederlanden nur selten dargestellt. Es gibt offensichtlich keine schriftlichen Quellen aus dem 17. Jahrhundert, die das Verhältnis von Künstler und Modell dort beleuchten. Kok bestätigt die Einschätzungen von Sluijter und Volker Manuth, dass erst nach 1650 weibliche Modelle zum Aktstudium herangezogen worden sind. [2] Allerdings, könnte man einwenden, hatten Künstler doch reiche Seh-Erfahrung von nackten Frauenkörpern, seien es nun die ihrer Ehefrauen oder andere. Auch müsste man die Frage nach dem 'Realismus' differenzierter stellen. Kok meint, Goltzius' Zeichnung einer nackten schlafenden Frau von 1594, die von der Forschung oft als erstes Beispiel einer Studie nach dem lebenden Modell angesehen wird, sei nicht so entstanden, da in verschiedenen Partien verzeichnet. Es gibt doch ungezählte Beispiele, in denen Künstler durchaus Naturstudien am menschlichen Körper betrieben haben, aber dann bewusst oder unbewusst, Körper 'verzeichnet' haben, um bestimmte ästhetische oder semantische Effekte zu bewirken. Konkretes Aktstudium muss nicht mit anatomischer Richtigkeit einhergehen; anatomische Richtigkeit wiederum ist ein verengter Realismusbegriff. Jede Darstellung eines Körpers ist immer eine Konstruktion, auch wenn Modellstudium die Grundlage bildete.

Der Beitrag von Veerle De Laet "An Analysis of Nude Representations in the Brussels Domestic Setting" ist durchaus charakteristisch für den Sammelband: eine sorgfältige, sicherlich sehr arbeitsintensive Durchforstung von 200 Brüsseler und Antwerpener Nachlass-Inventaren, die zwecks Erbschaftsverteilung von Notaren verfasst wurden. Die Autorin versucht, aufgrund dieser Dokumente den Prozentsatz von Bildern mit nackten Figuren zu eruieren. Sie kommt auf einen sehr geringen Anteil von nur 2-3 Prozent. Abgesehen von der Schwierigkeit, sich nach notariellen Aufzählungen ein adäquates Bild machen zu können, scheint es fraglich, ob die gestellte Frage nach dem Umgang mit der Repräsentation von Nacktheit im privaten Bereich des Brüsseler Bürgertums auf diese Weise gelöst werden kann.

Ebenso bezeichnend für den Band ist der Aufsatz von Fiona Healy, "Male Nudity in Netherlandish Painting of the Sixteenth- and Early Seventeenth-Centuries". Zu Recht stellt sie fest, dass es in der niederländischen Malerei im Vergleich zu weiblichen Akten kaum männliche gibt und wenn, dann fast immer mit verhülltem Geschlecht. Die Kriterien der durchaus sorgfältigen und materialreichen Untersuchung sind nun aber motivisch ikonografische; Healy thematisiert zwar die jeweiligen inhaltlichen Kontexte (biblisch/mythologisch, negative/positive Konnotationen), aber die spezifisch ästhetische Gestaltung des nackten Körpers wird kaum berücksichtigt. Die Frage ist nicht lediglich, ob und bis zu welchem Grade Männer auch nackt dargestellt wurden, sondern wie Nacktheit ästhetisch inszeniert ist, wie der nackte Körper semantisiert wird und in welchem Verhältnis die Repräsentation des männlichen zum weiblichen Körper steht. Wie ist es möglich, dass der 1956 von Kenneth Clark publizierte, vollkommen überholte und mehrfach kritisierte Band "The Nude" als groundbreaking (132) angesehen wird? [3] Wie ist es weiter möglich, dass nicht einmal Margret Walters Band zum männlichen Akt (1978) erwähnt wird, dass die Forschung der letzten vier Jahrzehnte über Gender-Studies, Köperkonstruktionen und Men's Studies ignoriert werden? [4]

Die Schlussfolgerungen von Geraerts zu "Rubens's 'Feast of Venus' Reconsidered. The Turning of Hearts to or from Love? Sensuality or Virtue?" sind durchaus einleuchtend, aber eigentlich nicht neu: Rubens zeigt ein Loblied auf die Liebe in allen erdenklichen Facetten, von der reinen, bräutlichen über die eheliche und mütterliche bis zur sinnlichen und ekstatischen. Aber auch bei Geraerts irritiert der methodische Zugang: Die Frage ist doch nicht, "which particular Venus is depicted, based upon classical literature" (160). Das ist ein verengtes Verständnis, das davon ausgeht, dass die Gemälde von Rubens aus dem 17. Jahrhundert eine wortgetreue Illustration antiker Texte wären. Was Rubens darstellt, ist seine durchaus aktuelle Auffassung von den vielfältigen Möglichkeiten der Liebe; um das für seine Zeitgenossen intelligibel zu machen und diesem Konzept eine Tiefendimension zu geben, greift er auf die mythologischen Geschichten Ovids zurück.

In dem sorgfältig recherchierten Beitrag von van Cauteren "L'Honneur Animant la Beauté: Hendrick De Clerck's Diana Paintings for the Archdukes Albert and Isabella" versucht die Autorin anhand von Diana-Bildern des Künstlers von um 1610-15 nachzuweisen, dass trotz der lasziven Thematik die Bilder als keusche Imaginationen eines friedlichen Goldenen Zeitalters im Sinne der Herzöge gelesen werden sollen. Das Herzogsehepaar sei auf moralischen Umgang erpicht gewesen und Isabella mit der keuschen Göttin Diana gleichgesetzt worden. Wie in den meisten Beiträgen des Bandes wird auch hier Kunst mit der Intention der Auftraggeber beziehungsweise den Normen der Gegenreformation gleichgesetzt.

Karolien De Clippel schließt ihren Aufsatz ("Altering, Hiding and Resisting. The Rubensian Nude in the Face of Censorship") und damit den Band mit den Worten: "And what do we do with his [i.e. Rubens'] countless depictions of nudity in profane, but also in religious works - behind closed doors, but also in public spaces? Food for thought." (218) [5]

Das Buch hätte dazu beitragen können, diese Fragen zu klären. Allerdings nicht mit dieser engen Herangehensweise, in der nicht einmal die Unterschiede zwischen dem katholischen Flandern und den überwiegend calvinistischen Nördlichen Provinzen diskutiert werden, die Kunst weitgehend durch die Intentionen der Auftraggeber beziehungsweise die Moralvorstellungen der Gegenreformation interpretiert wird, das gesamte Wissen und die Erfahrungen der Zeit auf eben diese normativen Konzepte und den Rückgriff auf die Antike reduziert werden, Kunst als Illustration von Texten begriffen, die Kunst selbst aber in ihrer semantischen Kraft kaum analysiert und die gesamte theoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte zu den einschlägigen Fragen von Repräsentation, Körper-Konstruktionen, Gender und Men's Studies ausgeklammert wird.

Die Lektüre hat mich nachdenklich gestimmt. Der Band scheint einem allgemeineren Trend zu entsprechen: Themen, die von den Kulturwissenschaften und insbesondere einer feministisch orientieren Forschung aufgeworfen worden sind, werden angeeignet, ohne dass deren theoretische und kritische Fragestellungen reflektiert würden.


Anmerkungen:

[1] David Freedberg: The Power of Images, Chicago 1991; ders.: Johannes Molanus on Provocative Paintings. De historia sanctarum imaginum et picturarum II/42, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XXXIV (1971), 229-245.

[2] Volker Manuth: 'As stark naked as one could possibly be painted... ' The Reputation of the Nude Female Model in the Age of Rembrandt, in: Rembrandt's Women (Ausst. Kat. Edinburgh / London), München et al. 2001, 48-53.

[3] Vgl. Lynda Nead: The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality, London / New York 1992, 2, 5-6, 12-22, 48, 59.

[4] Die Forschungsliteratur füllt mittlerweile Bibliotheken, beispielhaft hier nur, jeweils mit weiterführender Literatur: Christina von Braun / Inge Stephan (Hgg.): Gender@Wissen. Handbuch der Gender-Theorien, Köln 2005; Martin Dinges (Hg.): Männer-Macht-Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M. 2005; Sigrid Schade / Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Genus, hg. von Hadumod Bussmann / Renate Hof, Stuttgart 1997, 340-407; Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin 2006; Daniela Hammer-Tugendhat: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln et al. 2009.

[5] Auf den hier angesprochenen Widerspruch hat bereits Mittig aufmerksam gemacht. Hans-Ernst Mittig: Erotik bei Rubens, in: Der Garten der Lüste. Zur Deutung des Erotischen und Sexuellen bei Künstlern und ihren Interpreten, hg. von Renate Berger / Daniela Hammer-Tugendhat, Köln 1985, 48-88.

Daniela Hammer-Tugendhat