Rezension über:

Kyle Harper: Slavery in the late Roman World, AD 275-425, Cambridge: Cambridge University Press 2011, XIV + 611 S., ISBN 978-0-521-19861-5, GBP 85,00
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Rezension von:
Ulrike Roth
School of History, Classics and Archaeology, The University of Edinburgh
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Roth: Rezension von: Kyle Harper: Slavery in the late Roman World, AD 275-425, Cambridge: Cambridge University Press 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/20599.html


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Kyle Harper: Slavery in the late Roman World, AD 275-425

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Kyle Harpers Slavery in the Late Roman World, AD 275-425 befasst sich auf über 500 Seiten mit der Frage der Sklaverei in der Spätantike. Das Buch ist in drei Teile unterteilt: Der erste beschäftigt sich vor allem mit Fragen der Wirtschaft (1-200), der zweite mit Fragen der sozialen Rolle der Sklaverei (201-348), und der dritte mit Rechtsfragen bezüglich des Status von Sklaven (349-493). Harpers Hauptleistung besteht in der Präsentation des reichhaltigen Quellenmaterials für die Sklaverei im langen vierten Jahrhundert nach Christus. Während in der Vergangenheit die Spätantike oftmals als eine Phase des Rückgangs der Sklaverei angesehen wurde, kann Harper überzeugend demonstrieren, dass die Quellenlage selbst hierfür keine klaren Indizien gibt. Harper endet sein Buch mit der These, dass die antike Sklaverei nicht langsam und allmählich zu Ende ging, und im Mittelalter durch andere Formen der Unabhängigkeit ersetzt wurde, sondern abrupt ein Ende fand: Er spricht von einem 'Systemkollaps' (im fünften Jahrhundert), den er in einem (zu) kurzen Ausblick (497-509) skizziert.

Die Einleitung zum ersten Teil fungiert auch als Einleitung zum Buch. Dies wird einerseits diesem mächtigen Opus, das eine klare, selbstständige Einleitung verdient hätte, nicht voll gerecht, und führt andererseits zu etlichen Wiederholungen, die eine erklärende und gleichzeitig zusammenfassende Einleitung hätte vermeiden können. Sich kurz zu fassen ist nicht Harpers Stärke, was er selbst im Vorwort zugibt (xii), und dieses Problem zieht sich durch das ganze Buch. Zum Teil aber ist die Länge des Buches, als auch einige der Wiederholungen, bedingt durch Harpers Argumentationsweise, die vor allem auf das reichhaltige Volumen des Quellenmaterials gestützt ist. Er ignoriert dabei unterschwellig die fundamentale Einsicht der Althistorie, dass das Verhältnis von antiker Realität mit dem Quellenmaterial nicht quantitativ durch das letztere bemessen werden kann. Dass heißt jetzt aber nicht, dass Harper keine Modelle benutzt um eine Qualifikation des Quellenmaterials zu erreichen - er tut dies sehr wohl; aber letztendlich beruht seine These doch auf dem Quellenreichtum (4).

Harpers Bearbeitung von Einzelaspekten leidet deutlich an methodologischen Problemen. Als Beispiel mag sein Umgang mit der Archäologie dienen. Harper weiß natürlich, dass die archäologischen Zeugnisse für die Sklaverei nicht nur äußerst schwierig zu interpretieren sind, sondern auch in verschiedenen Perioden und Räumen äußerst unterschiedlich voneinander aussehen können: '[...] archaeological finds typically do not allow conclusions about the structure of ownership or production' (195). Für den Westen des Reiches dokumentiert er daher die Sklaverei im vierten Jahrhundert in seiner Diskussion der wirtschaftlichen Aspekte durch die Existenz von Villen. Für den Osten des Reiches, wo für die selbe Periode nur vereinzelt Villen belegt sind, und die Archäologie eher Ortschaften bezeugt, bevorzugt er Inschriften und papyrologische Quellen um die Sklaverei zu dokumentieren (170-176):

'[...] archaeological research throughout the late antique east has consistently revealed a landscape of village-based estate centres and even isolated farmsteads [...] The literary sources of the east are impressionistic, but they do corroborate the evidence of the inscriptions and papyri. They suggest that slavery played an important role across the eastern core [...] The literary sources add specific cases of slave-owners [...] The laws add more cases. On their own, these examples could never be decisive, but they show us that the patterns evident in the census inscriptions have left a trail in the literary and legal sources of the period.'

Harper kommt daher zu dem Schluss, dass die Landwirtschaftssklaverei im Osten des Reiches ihren Höhepunkt im vierten Jahrhundert erreicht: ' [...] agricultural slavery reached its high tide in the eastern core during the fourth century' (178).

Das Problem, das Harper hier heraufschwört ist offenbar. Wenn man nämlich fundamental akzeptiert, dass die Sklaverei verschiedene physische Ausdrucksformen finden konnte (also zum Beispiel Villen im Westen und Ortschaften im Osten), ergibt es wenig Sinn, den Niedergang der Sklaverei im Westen des Reiches kategorisch mit dem Verschwinden der archäologischen Zeugnisse für Villen in Verbindung zu bringen (und die Möglichkeit einer Veränderung der physischen Ausdrucksformen grundsätzlich auszuschließen), um damit den Niedergang der Sklaverei vor dem sechsten Jahrhundert zu belegen und eine Übergangsphase zwischen Antike und Mittelalter zu negieren (197-198):

'The archaeological record has demonstrated the vitality of villas in the western countryside of the fourth and early fifth centuries. Yet there are good reasons to locate a decisive point of change in the middle of the fifth century [...] Virtually no new aristocratic residences are detectible in the countryside of the fifth, sixth, and seventh centuries. This is a solid and stunning fact: thousands of new villas have been found from the fourth century, only a handful from the next few hundred years [...] By the sixth century, the villa network was moribund, and villages became increasingly dominant nodes in the settlement system [...] The material evidence shows that intensely managed estates were marginal in the countryside of the sixth and seventh centuries. Even if there are apparant continuities in the textual evidence, archaeology insists that there was no transition from slavery to serfdom in the early medieval centuries [...] There lies a deep caesura in the history of rural society in the post-Roman era, and when the impresarios of the Carolingian estate re-started the process of intensification, they did so in a fundamentally new economic and institutional context.'

Da Harper ausführlich auf die Rolle der Textilproduktion in der Sklaverei hinweißt (128-135), ist seine Insistenz auf die Bedeutung des Vorkommens bestimmter archäologischer Zeugnisse noch verwunderlicher, da die Hauptaktivitäten der Textilproduktion, also das Spinnen und Weben, normalerweise wenig oder keine materiellen Spuren hinterlassen: Diese könnten also auch auf dem scheinbar leeren und armen Land im Westen des Mittelmeerraumes (oder sonstwo) als (intensive) Sklavenarbeit im fünften, sechsten oder siebten Jahrhundert stattgefunden haben. Ähnlich verblüffend ist andererseits das Versäumnis, sich mit zentralen Themen auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel dem Verhältnis der Kirche zur Sklaverei, und dies obwohl die Kirche immer wieder in die Diskussion einbezogen wird - so zum Beispiel in Harpers kleiner Geschichte der Sklavenfreilassung im dritten Teil des Buches (463-493), in der er sich nicht einmal fragt, was die Sklaverei für die Kirche tut und in welchem strukturalen Verhältnis Sklaven und Freigelassene zur Kirche stehen, also was ihre Rolle in der Kirche ist.

Trotz der vielen Probleme mit der Quellenbearbeitung, Methode, Logik und Thematisierung - hier nur beispielhaft aufgeführt - ist Harpers Buch ein längst überfälliger Beitrag zur Geschichte der Sklaverei. Der Autor zeigt eindeutig, dass die Quellenlage für die Sklaverei in der Spätantike nicht grundsätzlich anders ist - also nicht weniger oder weniger vielfältiger - als die Quellenlage in den Perioden für die wir ohne weiteres die Existenz und Bedeutung der Sklaverei für die römische Gesellschaft, Wirtschaft und Politik akzeptieren. Es ist außerdem ein klarer Versuch, sich mit einer der großen Fragen der Geschichtswissenschaft zu beschäftigen. Was Harper nicht gelingt, ist zu überzeugen, dass es einen 'Systemkollaps' im fünften Jahrhundert gab - nicht zuletzt daher weil sein Buch sich nicht mit dem fünften Jahrhundert beschäftigt, sondern mit dem langen vierten.

Ulrike Roth