Ministère des affaires étrangères, Commission de publication des documents: Documents Diplomatiques Français 1969. Tome I (1er janvier - 30 juin), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, LVII + 1105 S., ISBN 978-90-5201-756-3, EUR 41,20
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sylvain Schirmann / Sarah Mohamed-Gaillard: Georges Pompidou et l'Allemagne, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012
Maurice Vaïsse / Christian Wenkel: La diplomatie française face à l'unification allemande, Paris: Tallandier 2011
Hélène Miard-Delacroix: Im Zeichen der europäischen Einigung 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011
Michael Sutton: France and the Construction of Europe, 1944-2007. The Geopolitical Imperative, New York / Oxford: Berghahn Books 2011
Anna Locher: Crisis? What Crisis? NATO, de Gaulle, and the Future of the Alliance, 1963-1966, Baden-Baden: NOMOS 2010
Das beherrschende Thema der französischen Innen- und Außenpolitik in der ersten Hälfte des Jahres 1969 war zweifellos der unerwartete und plötzliche Rücktritt de Gaulles vom Amt des Staatspräsidenten. Die weltpolitische Bedeutung dieses Ereignisses bezeugen die vielfältigen Reaktionen aus allen Teilen der Welt, über die die französischen Diplomaten nach Paris berichteten. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die französische Politik im frankophonen Afrika. Dem Präsidenten der Zentralafrikanischen Republik, Jean-Bedel Bokassa, schmerzte der Rücktritt sehr, er würdigte den zurückgetretenen Präsidenten als "fils de dieu" (Dok. 311, Seite 719). Auch in der arabischen Welt bedauerte man das Ausscheiden de Gaulles aus der aktiven Politik, während die israelische Regierung offenkundig froh über die Wende in Paris war. Insbesondere die französische Entscheidung, ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen, wurde von der israelischen Regierung als Parteinahme zu Gunsten der arabischen Staaten empfunden.
In der Tat entwickelten sich die französisch-arabischen Beziehungen 1969 sehr gut. Staatsbesuche des kuwaitischen Premierministers, des jordanischen Königs und das wirtschaftliche Engagement Frankreichs in Ägypten und am Persischen Golf zeugen von der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung dieser Region. Wichtig war aus Pariser Sicht auch Asien: Während die US-Regierung im Vietnam-Krieg davon ausging, dass der Vietcong am Rande seiner Kräfte operierte und bald zur Kapitulation gezwungen sein werde, zeigten sich die französischen Diplomaten vom Gegenteil überzeugt: Der Vietcong gewinne immer mehr Unterstützung im Lande.
Besondere Bedeutung hatten auch traditionellerweise die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland. Hier deutete sich schon im ersten Halbjahr eine grundlegende Veränderung an, die im Quai d'Orsay, aber nicht von de Gaulle bemerkt wurde. Am 15. Januar 1969 empfing de Gaulle den deutschen Botschafter in Paris, Sigismund von Braun, um ihm zu erklären, dass die Atmosphäre zwischen beiden Regierungen "n'était pas aussi bonne qu'on pourrait le souhaiter" (Dok. 45, Seite 92). Drei Probleme belasteten aus der Perspektive des Staatspräsidenten die Beziehungen: die verschiedenen Haltungen in Bezug auf den britischen Beitrittswunsch zur EG, die Währungspolitik der Bundesrepublik, und schließlich beklagte sich de Gaulle, dass er sich von Bonn eine stärkere Unterstützung seiner Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock wünschen würde. Der General ließ keinen Zweifel daran, dass Frankreich die Führungsrolle im "Couple Franco-Allemand" zukomme. Dies bestätigen auch seine Ausführungen über die Bundesrepublik im Gespräch mit dem neuen US-Präsidenten Nixon am 1. März 1969, als er die Präsenz amerikanischen und französischer Truppen in der Bundesrepublik als "natürlich" bezeichnete und erklärte: "Elle [gemeint ist Deutschland] n'est plus un pays indépendent." (Dok. 181, Seite 410)
Dass dieses Deutschland-Bild trotz der apodiktischen Aussagen des Staatspräsidenten kaum noch mit der Realität übereinstimmte, ahnte man im Quai d'Orsay bereits. Am 24. Januar hatte der französische Botschafter aus Bonn berichtet, "qu'avec son développement économique spectaculaire la République fédérale posait à la France (...) un nouveau problème" (Dok. 72, Seite 155). Insbesondere im Bereich der Währungspolitik hatte die Bundesrepublik längst die Führungsrolle in Westeuropa übernommen und die von de Gaulle noch propagierte französische Führung damit in Frage gestellt. Während der Staatspräsident diese Entwicklung zu ignorieren schien, nahmen die Diplomaten des Außenministeriums das Problem durchaus wahr, ohne allerdings eine Lösung dafür zu finden.
Auch die beginnende "Neue Ostpolitik" der Bundesrepublik wurde unterschiedlich gewertet. Während de Gaulle sich gegenüber Botschafter von Braun beschwerte, dass die Bundesrepublik die französische Entspannungspolitik nicht genug unterstützte, bemerkten die Beamten des Außenministeriums, dass sich in der Bundesrepublik ein fundamentaler Politikwandel gegenüber den osteuropäischen Staaten anbahnte, der die französischen Bemühungen weit in den Schatten stellte. Frankreich, das sich selbst als Türöffner für deutsche Wirtschaftspolitik in Osteuropa sah (Dok. 202, Seite 471), bemerkte nun, dass die Bundesregierung begann, eigene Initiativen zu entwickeln.
Fast erleichtert berichtete Botschafter François Seydoux de Clausonne am 26. Juni aus Bonn, dass die Bundesregierung auch nach dem Rücktritt de Gaulles am Elysée-Vertrag festhalte. Sowohl Bundeskanzler Kiesinger und Außenminister Brandt als auch führende Vertreter des Auswärtigen Amtes hätten auf die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen hingewiesen, und die Bundesrepublik werde ihre Position gegenüber Frankreich trotz des Präsidentenwechsels nicht verändern.
Insgesamt zeigen die Dokumente, dass es im Jahr 1969 eine wachsende Kluft zwischen der Wahrnehmung der Rolle Frankreichs in der Welt auf Seiten des Staatspräsidenten de Gaulle und den Diplomaten des Außenministeriums gab. Während de Gaulle noch in den Kategorien der 1950er und frühen 1960er Jahre dachte, bemerkten die Berufsdiplomaten die weit reichenden Veränderungen nicht nur in Deutschland. Auch hier mag ein Grund für den Rücktritt des Gründers der Fünften Republik gelegen haben.
Guido Thiemeyer