Ulrich Lappenküper: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 89), München: Oldenbourg 2011, V + 385 S., ISBN 978-3-486-70511-9, EUR 49,80
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Die V. Republik kannte zwei überragende Präsidenten: Charles de Gaulle und François Mitterrand. Während der Erste mittlerweile als Säulenheiliger der französischen Geschichte von rechts bis links gleichermaßen verehrt wird, ist der Zweite nach wie vor eine höchst umstrittene Figur, die wie zu Lebzeiten bewundert und abgelehnt wird. Die einen sehen in ihm den großen Modernisierer, der die autoritäre gaullistische Republik liberalisierte, die Todesstrafe abschaffte, regionale Körperschaften stärkte und der Linken eine jahrelange Hegemonie bescherte. Die anderen verstehen ihn als Opportunisten, betonen die zwielichtigen Aspekte seiner Biographie, seinen machiavellistischen Umgang mit Macht und seine obsessive Beschäftigung mit dem eigenen Rang in der Geschichte. Ulrich Lappenküper, der als einer der besten Kenner der deutsch-französischen Beziehungen der Nachkriegszeit gelten kann, steht zweifellos den Kritikern des Präsidenten nahe. Bereits der Untertitel seiner Studie, der einem missgünstigen Mitterrand-Porträt von Hans-Peter Schwarz entnommen ist [1], macht deutlich, dass es ihm um die Entzauberung des Präsidenten geht und er die Differenz zwischen Schein und Sein, Worten und Taten aufzeigen möchte.
Deutschland, dies macht Lappenküpers breit angelegte Studie deutlich, war ein Lebensthema Mitterrands. Von seiner Jugend in der Kriegs- und Besatzungszeit über seine mehrfache Ministertätigkeit in der IV. Republik bis hin zur Präsidentschaft in Zeiten der deutschen Wiedervereinigung setzte er sich leidenschaftlich mit dem Nachbarland auseinander. Seine in späteren Lebensphasen immer wieder geäußerte Behauptung, dass er ein lebenslanger Freund Deutschlands gewesen sei, lässt sich nach Lektüre von Lappenküpers Buch sicherlich nicht aufrechterhalten. Charakteristisch für Angehörige seiner Generation und seines Milieus schwankte er zwischen Bewunderung für die deutsche Kultur und Misstrauen gegenüber hegemonialen Neigungen des Nachbarlandes; zwischen Vertrauen zu ausgewählten Repräsentanten des politischen Deutschland und der Irritation über die "incertitudes allemandes", zwischen dem Verständnis für die geopolitische Lage Deutschlands und der Wahrung französischer nationaler Interessen.
Herausragend ist Lappenküpers Studie aufgrund der eindrucksvoll breiten Archiv- und Quellenforschung in Frankreich wie Deutschland. Regierungs- und Parteiarchive, Nachlässe, Reden, Presse und Memoirenliteratur hat der Autor zu allen Lebensphasen des Präsidenten ausgewertet. So gewinnt der Leser einen ausgezeichneten Einblick in das Umfeld des Präsidenten und die Einflüsse, denen er seitens von Kabinettsmitgliedern und Beratern ausgesetzt war. Sehr gut herausgearbeitet wird das problematische Verhältnis zwischen der französischen PS und der SPD, die langsame Annäherung zwischen Mitterrand und Willy Brandt - erschwert durch die Kanzlerschaft Helmut Schmidts, der aus seiner Präferenz für Valéry Giscard d'Estaing nie einen Hehl machte. Spannend liest sich das Kapitel zur deutschen Wiedervereinigung, in dem Lappenküper die reichhaltige Literatur mit neuen Einblicken aus der Archivforschung kontrastieren kann.
Lappenküpers Gewichtungen, Interpretationen und Wertungen sind gewiss streitbar. So hätten beispielsweise die Bezüge und Kontraste zwischen Mitterrand und De Gaulle eine eingehendere Ausarbeitung verdient. Die Grundsatzkritik am gaullistischen System, die der Oppositionspolitiker in seinem "Permanenten Staatsstreich" (1964) formulierte, wird nur gestreift; die Präsidentschaftswahl von 1965, bei der Mitterrand mit 31,72 % der Stimmen in der ersten Runde de Gaulle zur Stichwahl zwang, war gewiss mehr als nur ein "Achtungserfolg" ohne "Fernwirkung" (77). Schwerer als diese Einzelheiten wiegt allerdings, dass Lappenküper die Europa- und Deutschlandpolitik des sozialistischen Präsidenten weitgehend in Kontinuität mit den Strategien und Prinzipien des Gaullismus sieht. Gewiss wollten sowohl de Gaulle wie Mitterrand die "Einigung Europas" (350), doch optierten sie für ganz unterschiedliche Strategien und Leitbilder. Während de Gaulle an das "Europa der Nationen" glaubte und die Monnetsche Methode des schrittweisen Souveränitätsverzichts ablehnte, bekannte sich Mitterrand entschieden zur europäischen Integration. Er verzichtete auf Kernelemente nationaler Souveränität, förderte die "relance européenne" der späten 80er Jahre und wurde so zum Architekten eines Prozesses, den sein Vorgänger Giscard d'Estaing bereits begonnen hatte: der Europäisierung des französischen Nationalstaats. Die V. Republik war auf einem nationalistischen Fundament errichtet worden; unter Mitterrand verabschiedete sie sich von der antiquierten Orientierung an Frankreichs "Grandeur" und ließ sich in ein immer enger verflochtenes Europa einbetten. Da Lappenküper diesen grundlegenden Paradigmenwechsel nicht erkennen möchte, kann er Mitterrand nicht den ihm gebührenden Platz in der französischen Nachkriegsgeschichte zugestehen.
Mitterrands Deutschlandpolitik in den Jahren 1989/90 wird einer sehr kritischen Würdigung unterzogen. Lappenküper schließt sich jenen Interpreten an, die dem Präsidenten eine gewisse Obstruktionspolitik zu Last legen, seinen Besuch in Ost-Berlin im Dezember 1989 für deplaziert halten und ihm vorwerfen, im Laufe des Einigungsprozesses immer höhere "Hürden" (352) aufgebaut zu haben. Andere Autoren, wie Frédéric Bozo oder Maurice Vaïsse und Christian Wenkel [2], haben dagegen die Deutung vertreten, dass Mitterrand keineswegs gegen die deutsche Einheit vorgegangen sei, sondern konsistent deren europäische Einbettung gefordert habe. Lappenküper scheint den Präsidenten dafür zu kritisieren, dass er im Prozess der deutschen Einigung an französischen nationalen Interessen festgehalten hatte. Angemessener wäre hingegen die Frage, wie Mitterrand die Interessen Frankreichs definierte und ob sich aus heutiger Perspektive seine Strategien als richtig erwiesen haben. Dem Rezensenten drängte sich der Eindruck auf, dass Mitterrand 1989/90 eine bemerkenswerte Weitsicht besaß, indem er immer wieder darauf beharrte, dass die deutsche Wiedervereinigung im Gleichschritt mit einer Vertiefung der europäischen Integration verlaufen musste. Wie sähe die politische Landschaft des Kontinents heute aus, wenn der Einigungsprozess nicht mit einer europäischen Einhegung des wiedervereinigten Deutschlands einhergegangen wäre? Waren die französischen Sorgen um eine tiefgreifende Machtverlagerung in Europa nicht völlig berechtigt?
Lappenküper meint, Mitterrand sei "kaum für die Freiheit in die Bresche gesprungen", wenn Gorbatschow sich der deutschen Einheit entgegengestellt hätte (302), kann aber keinerlei Belege zur Erhärtung dieser These anführen. Bereits lange vor dem Mauerfall, dies belegen mehrere von Lappenküper angeführte Zitate, blickte Mitterrand auf ein Europa nach "Jalta", nach der Konfrontation der Blöcke. Dass der Präsident ab 1989 den Prozess der Neuordnung Europas mitgestalten wollte und insofern für ihn die deutsche Einigung nicht nur eine Frage des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen war, ergibt sich logisch aus der besonderen Rolle Frankreichs im internationalen System der Nachkriegszeit. Der Autor spart nicht mit Kritik an französischen Entscheidungsträgern und Beobachtern, während die Frankreichpolitik der Kohl-Regierung weitgehend unhinterfragt bleibt, ebenso wie die oft hämischen, klischeehaften und abwertenden Mitterrand-Bilder deutscher Medien unkommentiert wiedergegeben werden.
Lappenküper legt den Schwerpunkt auf die Politik Mitterrands gegenüber dem Nachbarland, hingegen macht er das Deutschlandbild des Präsidenten nicht systematisch zum Thema. Die schriftstellerische Produktion Mitterrands hätte dazu einigen Stoff geboten, hatte dieser doch einen Band seiner Memoiren ("De l'Allemagne, de la France", 1996) dem Nachbarland gewidmet. Lappenküper richtet über dieses Werk apodiktisch als "intellektuell und literarisch nicht gerade herausragend" (6), ohne es zu analysieren. Symptomatisch für die geringe Wertschätzung, die Lappenküper dem Protagonisten seines Buchs entgegenbringt, ist der Schlussabsatz: Zunächst pflichtet er Jacques Chirac bei, der den Präsidenten einst als "Zyniker" (353) bezeichnet hatte (andere Oppositionspolitiker haben differenziertere Urteile gefunden); dann zitiert er zustimmend Hans-Peter Schwarz' taktlosen Vergleich des sterbenden Mitterrand mit Oscar Wildes Dorian Gray. Die von deutschen Diplomaten vertretene Auffassung, dass angesichts Mitterrands großer Verdienste um die europäische Einigung die Kritik verblassen müsse, teilt Lappenküper nicht: "Durfte man von einem selbsternannten 'Freund' Deutschlands aber nicht mehr erwarten?" (354). Der Rezensent hätte sich gewünscht, dass Lappenküper erörtert, was man von Mitterrand mehr hätte erwarten können. Ebenso schließt sich die Frage an, ob irgendwelche weitergehende Fortschritte in der französisch-deutschen Zusammenarbeit und der europäischen Einigung überhaupt innenpolitisch durchsetzbar gewesen wären, berücksichtig man die starke Opposition, auf die etwa der Maastricht-Vertrag in der französischen Öffentlichkeit stieß.
Ist es Lappenküper gelungen, die "Sphinx" Mitterrand zu "enträtseln"? Der Autor scheint sich selbst nicht sicher zu sein, denn im Schlusswort betont er erneut, wie ungewöhnlich mysteriös und widersprüchlich sich das Leben des Präsidenten im Vergleich zu anderen Staatsmännern des 20. Jahrhunderts darstellt. Man fragt sich, an welchem Maßstab hier gemessen wird. Innere Widersprüche, Konflikte und Wandlungsprozesse sind kennzeichnend für alle menschlichen Biographien. Manchen Staatsmännern, wie de Gaulle, ist es gelungen, diese gegenüber der Öffentlichkeit zu glätten und das Bild einer geschlossenen, unbeirrbar an einmal gefassten Überzeugungen festhaltenden Persönlichkeit zu vermitteln. Bei Mitterrand liegen die Widersprüche offener, doch beziehen sich diese gerade nicht auf die Themen, die Lappenküper aufgreift. Denn im Falle der Deutschland- und Europapolitik erwies sich der Präsident als kohärent und vorausschauend, was seine leitenden Überzeugungen und Handlungsstrategien anbelangt. Das in der vorliegenden Studie ausgebreitete Material macht genau dies sichtbar, auch wenn dies nicht die Absicht ihres Autors gewesen sein mag.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1999.
[2] Frédéric Bozo: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l'unification. De Yalta à Maastricht, Paris 2005. Maurice Vaïsse / Christian Wenkel (éds.): La diplomatie française face à l'unification allemande. D'après des archives inédites, Paris 2011.
Matthias Waechter